Urteil des EuGH vom 13.11.2003

EuGH: mitgliedstaat, gesellschaft mit beschränkter haftung, berufsausbildung, universität, anerkennung, berufliche ausbildung, diplom, wirtschaftliche tätigkeit, konsularische vertretung, kommission

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Fünfte Kammer)
13. November 200
„Niederlassungsfreiheit - Anerkennung der Diplome - Von einer Universität mit Sitz in einem Mitgliedstaat
ausgestelltes Diplom - Unterricht zur Vorbereitung auf das Diplom, der in einem anderen Mitgliedstaat und
von einer anderen Bildungseinrichtung erteilt wird“
In der Rechtssache C-153/02
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Giudice di pace Genua (Italien) in dem bei diesem
anhängigen Rechtsstreit
Valentina Neri
gegen
European School of Economics (ESE Insight World Education System Ltd)
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 39 EG, 43 EG und 49 EG, des
Beschlusses 63/266/EWG des Rates vom 2. April 1963 über die Aufstellung allgemeiner Grundsätze für die
Durchführung einer gemeinsamen Politik der Berufsausbildung (ABl. 1963, Nr. 63, S. 1338) und der Richtlinie
89/48/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der
Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen (ABl. 1989, L 19, S. 16),
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung der Richter D. A. O. Edward in Wahrnehmung der Aufgaben des Kammerpräsidenten, A. La
Pergola und S. von Bahr (Berichterstatter),
Generalanwalt: F. G. Jacobs,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- von Frau Neri, vertreten durch A. Rocca, avvocato,
- der European School of Economics, vertreten durch G. Conte und E. Minozzi, avvocati,
- der italienischen Regierung, vertreten durch I. M. Braguglia als Bevollmächtigten im Beistand von M.
Massella Ducci Teri, avvocato dello Stato,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und M. Patakia als
Bevollmächtigte,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der European School of Economics, vertreten durch G. Conte,
G. Giacomini und C. G. Izzo, avvocati, der italienischen Regierung, vertreten durch A. Cingolo, avvocato dello
Stato, und der Kommission, vertreten durch E. Traversa, in der Sitzung vom 13. Februar 2003,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 10. April 2003
folgendes
Urteil
1.
Der Giudice di pace Genua hat mit Beschluss vom 18. April 2002, beim Gerichtshof eingegangen am
26. April 2002, gemäß Artikel 234 EG drei Fragen nach der Auslegung der Artikel 39 EG, 43 EG und 49
EG, des Beschlusses 63/266/EWG des Rates vom 2. April 1963 über die Aufstellung allgemeiner
Grundsätze für die Durchführung einer gemeinsamen Politik der Berufsausbildung (ABl. 1963, Nr. 63,
S. 1338) und der Richtlinie 89/48/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine
Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung
abschließen (ABl. 1989, L 19, S. 16), zur Vorabentscheidung vorgelegt.
Rechtlicher Rahmen
2.
Artikel 43 EG sieht vor:
„Die Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im
Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind nach Maßgabe der folgenden Bestimmungen
verboten. Das Gleiche gilt für Beschränkungen der Gründung von Agenturen, Zweigniederlassungen
oder Tochtergesellschaften durch Angehörige eines Mitgliedstaats, die im Hoheitsgebiet eines
Mitgliedstaats ansässig sind.
Vorbehaltlich des Kapitels über den Kapitalverkehr umfasst die Niederlassungsfreiheit die Aufnahme
und Ausübung selbständiger Erwerbstätigkeiten sowie die Gründung und Leitung von Unternehmen,
insbesondere von Gesellschaften im Sinne des Artikels 48 Absatz 2, nach den Bestimmungen des
Aufnahmestaats für seine eigenen Angehörigen.“
3.
Mit der Richtlinie 89/48 soll den europäischen Bürgern die Ausübung aller beruflichen Tätigkeiten,
die in einem Aufnahmestaat von einer weiterführenden Bildung im Anschluss an den
Sekundarabschnitt abhängig sind, erleichtert werden, sofern sie solche Diplome besitzen, die sie auf
diese Tätigkeiten vorbereiten, die einen wenigstens dreijährigen Studiengang bescheinigen und die in
einem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wurden.
4.
Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 89/48 bestimmt:
„Im Sinne dieser Richtlinie gelten
a) als Diplome alle Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstige Befähigungsnachweise bzw. diese
Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise insgesamt,
- die in einem Mitgliedstaat von einer nach seinen Rechts- und Verwaltungsvorschriften
bestimmten zuständigen Stelle ausgestellt werden,
- aus denen hervorgeht, dass der Diplominhaber ein mindestens dreijähriges Studium oder ein
dieser Dauer entsprechendes Teilzeitstudium an einer Universität oder einer Hochschule oder einer
anderen Ausbildungseinrichtung mit gleichwertigem Niveau absolviert und gegebenenfalls die über
das Studium hinaus erforderliche berufliche Ausbildung abgeschlossen hat, und
- aus denen hervorgeht, dass der Zeugnisinhaber über die beruflichen Voraussetzungen verfügt,
die für den Zugang zu einem reglementierten Beruf oder dessen Ausübung in diesem Mitgliedstaat
erforderlich sind,
wenn die durch das Diplom, das Prüfungszeugnis oder einen sonstigen Befähigungsnachweis
bescheinigte Ausbildung überwiegend in der Gemeinschaft erworben wurde oder wenn dessen
Inhaber eine dreijährige Berufserfahrung hat, die von dem Mitgliedstaat bescheinigt wird, der ein
Diplom, ein Prüfungszeugnis oder einen sonstigen Befähigungsnachweis eines Drittlands anerkannt
hat.
Einem Diplom im Sinne von Unterabsatz 1 sind alle Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen
Befähigungsnachweise bzw. diese Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise
insgesamt gleichgestellt, die von einer zuständigen Stelle in einem Mitgliedstaat ausgestellt wurden,
wenn sie eine in der Gemeinschaft erworbene und von einer zuständigen Stelle in diesem
Mitgliedstaat als gleichwertig anerkannte Ausbildung abschließen und in diesem Mitgliedstaat in
Bezug auf den Zugang zu einem reglementierten Beruf oder dessen Ausübung dieselben Rechte
verleihen.“
5.
Die Richtlinie gilt nach Artikel 2 Absatz 1 für alle Angehörigen eines Mitgliedstaats, die als
Selbständige oder abhängig Beschäftigte einen reglementierten Beruf in einem anderen Mitgliedstaat
ausüben wollen.
6.
Gemäß dem zweiten Grundsatz, Buchstabe e, des Beschlusses 63/266 hat die gemeinsame Politik
der Berufsausbildung die Vermeidung jeder nachteiligen Unterbrechung zwischen dem Abschluss der
allgemeinen Schulbildung und dem Beginn der Berufsausbildung sowie während der Berufsausbildung
anzustreben.
7.
Das vorlegende Gericht hat das italienische Recht in seinem Vorlagebeschluss wie folgt dargestellt.
8.
Artikel 170 des Regio Decreto n. 1592 recante approvazione del testo unico delle leggi
sull'istruzione superiore (Königliches Dekret über die Annahme des Einheitstextes der Gesetze über
das Hochschulwesen) vom 31. August 1933 (GURI Nr. 283 vom 7. Dezember 1933, supplemento
ordinario, im Folgenden: Königliches Dekret Nr. 1592/33) lautet:
„Im Ausland erworbene akademische Grade werden [in Italien] vorbehaltlich besonderer gesetzlicher
Regelung nicht anerkannt.
Wer jedoch an einer ausländischen Hochschule einen der akademischen Grade erworben hat, die in
einer durch Erlass des Ministers für nationale Bildung genehmigten und gegebenenfalls geänderten
Liste erwähnt sind, kann bei einer der in den Tabellen A oder B genannten Universitäten oder
Hochschulen den Grad erhalten, der dem im Ausland erworbenen entspricht.
Ist der akademische Grad nicht in der im vorangehenden Absatz erwähnten Liste aufgeführt, so kann
der Minister nach Stellungnahme der zuständigen Stelle der Hochschule und des Exekutivkomitees
der ersten Sektion des Obersten Rates für nationale Bildung feststellen, dass das im Ausland
erworbene Diplom dem von den Universitäten oder Hochschulen ausgestellten entsprechenden
Diplom gleichwertig ist, oder den Betroffenen unter vollständiger oder teilweiser Befreiung von den
Prüfungen, die nach den Statuten der Universität oder Hochschule für den entsprechenden
Studiengang vorgeschrieben sind, zu den Prüfungen für die Laurea oder ein Hochschuldiplom
zulassen.“
9.
Artikel 332 des Königlichen Dekrets Nr. 1592/33 sieht vor:
„Bis zur Herausgabe des ministeriellen Erlasses zur Genehmigung der in Artikel 147 genannten Liste
können im Ausland lebende Italiener, nicht reichsangehörige Italiener und Ausländer an den
Universitäten und Hochschulen für das Studienjahr eingeschrieben werden, für das die zuständigen
Stellen der Hochschulen die im Ausland erworbenen Abschlüsse der höheren Schulausbildung und
akademischen Grade für ausreichend befunden haben.
Bis zur Herausgabe des ministeriellen Erlasses zur Genehmigung der in Artikel 147 genannten Liste
können die zuständigen Stellen der Hochschulen, die über die Anerkennung im Ausland erworbener
akademischer Grade zu befinden haben, sofern es um Diplome geht, die von ausländischen
Universitäten oder Hochschulen mit ausgezeichnetem Ruf ausgestellt worden sind, und unter
Berücksichtigung der absolvierten Studien sowie der im Ausland abgelegten speziellen und
allgemeinen Prüfungen feststellen, dass der ausländische Grad in jeder Hinsicht dem entsprechenden
Grad gleichwertig ist, der von italienischen Universitäten oder Hochschulen ausgestellt wird, oder den
Betroffenen unter vollständiger oder teilweiser Befreiung von den Prüfungen, die nach den Statuten
der Universität oder Hochschule für den entsprechenden Studiengang vorgeschrieben sind, zu den
Prüfungen für die Laurea oder ein Hochschuldiplom zulassen.“
10.
Artikel 8 Absatz 1 der Legge n. 341 di riforma degli ordinamenti didattici universitari (Gesetz zur
Reform des universitären Lehrbetriebs) vom 19. November 1990 (GURI Nr. 274 vom 23. November
1990, S. 6, im Folgenden: Gesetz Nr. 341/90) bestimmt:
„Die Universitäten können entsprechend den von der jeweiligen Universität festgelegten Bedingungen
für die Durchführung von Studiengängen sowie von kulturellen Aktivitäten und
Ausbildungsmaßnahmen im Sinne von Artikel 6 dieses Gesetzes die Mitarbeit öffentlich-rechtlicher
oder privatrechtlicher Subjekte in Anspruch nehmen. Sie können hierzu - auch privatrechtliche -
Gesellschaften bilden und entsprechende Verträge schließen.“
11.
Das Rundschreiben Nr. 228 des Ministeriums für Hochschulwesen und wissenschaftliche und
technologische Forschung vom 3. Oktober 2000 stellt klar, dass sich die Anerkennung eines im
Ausland erworbenen Diploms in Italien weiterhin nach Artikel 332 des Königlichen Dekrets Nr. 1592/33
richtet, während das Decreto legislativo Nr. 115 vom 27. Januar 1992 zur Umsetzung der Richtlinie
89/48 (GURI Nr. 40 vom 18. Februar 1992, S. 6) nur die Ausübung eines bereits im Herkunftsstaat
ausgeübten Berufes gestattet.
12.
Ein Informationsschreiben des Außenministeriums sieht in Übereinstimmung mit dem Schreiben Nr.
442 desselben Ministeriums vom 30. April 1997 über teilweise in Italien absolvierte Studiengänge vor,
dass ein ausländisches Hochschuldiplom zu einem Anerkennungsverfahren nur zugelassen werden
kann, wenn ihm eine „Erklärung der in dem ausländischen Staat, in dem das Diplom ausgestellt
worden ist, ansässigen italienischen diplomatischen/konsularischen Vertretung“ beigefügt ist, „die
den tatsächlichen dortigen Aufenthalt des Betreffenden während der gesamten Dauer des
Universitätsstudiums bestätigt“.
13.
Ein Schreiben des Ministeriums für Hochschulwesen und wissenschaftliche und technologische
Forschung vom 8. Januar 2001 erläutert, dass „akademische Grade, die von in Großbritannien
anerkannten Universitäten verliehen werden, in Italien nur dann anerkannt werden können, wenn sie
nach regelmäßiger Teilnahme am gesamten Studiengang bei diesen Universitäten oder einem
anderen ausländischen Institut der gleichen Ausbildungsstufe erworben worden sind; ausgenommen
sind somit akademische Grade, die italienischen Staatsangehörigen auf der Grundlage von
Studienzeiten verliehen werden, die sie bei Zweigstellen oder privaten Einrichtungen in Italien
absolviert haben, mit denen die betreffenden Universitäten oder Institute privatrechtliche
Vereinbarungen abgeschlossen haben“.
Das Ausgangsverfahren
14.
Die Klägerin Valentina Neri schrieb sich an der Nottingham Trent University (im Folgenden: NTU) ein,
um nach einem vierjährigen Studium den Hochschulabschluss in Politischen Wissenschaften mit
internationaler Ausrichtung (Bachelor of Arts with honours in International Political Studies) zu
erwerben.
15.
Die NTU ist eine Universität, die dem Recht des Vereinigten Königreichs unterliegt und in der Liste
der Einrichtungen aufgeführt ist, die nach einem vierjährigen Studium akademische Grade (Bachelor
of Arts with honours) verleihen können, die gesetzlich anerkannt sind.
16.
Die NTU hält den Unterricht an ihrem Sitz im Vereinigten Königreich ab, wo auch die
Abschlussdiplome ausgestellt werden.
17.
Section 216 des Education Reform Act 1988 eröffnet den Universitäten jedoch noch eine weitere
Möglichkeit zur Verleihung akademischer Grade.
18.
Danach gibt der Minister für Erziehung eine Liste von Einrichtungen heraus, die Unterricht erteilen
dürfen, der der Vorbereitung auf den Erwerb eines von einer anerkannten Einrichtung verliehenen
akademischen Grades dient und von der anerkannten Einrichtung oder in ihrem Namen genehmigt
wird. Laut Vorlagebeschluss ist in dieser Liste auch die European School of Economics (ESE Insight
World Education System Ltd, im Folgenden: ESE) aufgeführt.
19.
Dem Vorlagebeschluss ist außerdem zu entnehmen, dass es sich bei der ESE um ein Higher
Education College (eine Hochschule) handelt, das nach dem Hochschulrecht des Vereinigten
Königreichs berechtigt ist, von der NTU genehmigte Studiengänge zu organisieren und durchzuführen.
20.
Die in der Form einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (Ltd) gegründete ESE ist ein
Unternehmen, das seinen Sitz im Vereinigten Königreich hat und über zahlreiche Zweigstellen in
anderen Mitgliedstaaten verfügt. Sie ist bei der Handelskammer Rom als nach dem Recht eines
anderen Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft registriert und unterhält zwölf örtliche Einrichtungen
in Italien.
21.
Die ESE verleiht keine eigenen akademischen Grade, sondern organisiert für an der NTU
eingeschriebene Studenten gegen Bezahlung Kurse entsprechend den Studienplänen, die die NTU,
die später auch das abschließende Hochschuldiplom (Bachelor of Arts with honours) verleiht,
genehmigt hat. Die Qualität des von der ESE erteilten Unterrichts unterliegt außerdem der staatlichen
Kontrolle durch die „Quality Assurance Agency for Higher Education“.
22.
Zur Vermeidung der erheblichen Kosten, die mit einem Aufenthalt im Vereinigten Königreich
während der gesamten Studiendauer verbunden gewesen wären, hatte sich die Klägerin
entschlossen, die von der ESE in Italien angebotenen Kurse zu besuchen. Nachdem die Klägerin sich
für das erste Jahr des von der ESE in Genua (Italien) durchgeführten Studiengangs eingeschrieben
und der ESE 4 000 000 ITL (2 065,83 Euro) gezahlt hatte, erfuhr sie aus zuverlässigen italienischen
Quellen, dass die ESE zur akademischen Ausbildung nicht berechtigt sei und dass auch die
akademischen Grade, die von im Vereinigten Königreich gesetzlich anerkannten Universitäten
verliehen würden, in Italien nicht anerkannt werden könnten, wenn sie im Anschluss an Studienzeiten
erworben würden, die in Italien absolviert worden seien.
23.
Die Klägerin war der Auffassung, ohne Rechtsgrund gezahlt zu haben, vermochte aber die ESE nicht
zur freiwilligen Erstattung des an sie gezahlten Betrages zu bewegen. Daher erhob sie vor dem Giudice
di pace Genua Klage mit dem Antrag, die ESE zur Rückzahlung des Betrages zu verurteilen.
24.
Zur Begründung ihres Antrags legte die Klägerin mehrere Rundschreiben des Ministeriums für
Hochschulwesen und wissenschaftliche und technologische Forschung vor.
25.
Dem vorlegenden Gericht zufolge ist die ESE ein privates Unternehmen, das im Bildungsbereich auf
Gemeinschaftsebene mit Gewinnabsicht Dienstleistungen erbringt. Die Studenten der NTU, die die von
der ESE angebotenen Kurse belegen wollen, schließen mit dieser einen Vertrag, der die Zahlung einer
Vergütung für die von der ESE erbrachten Leistungen vorsieht.
26.
Die ESE erbringt nach Angaben des vorlegenden Gerichts durch ihre italienische Niederlassung in
Italien - unter umfassender Wahrung der Vorschriften des Aufnahmestaats - die gleichen Dienste, die
sie im Herkunftsstaat zu erbringen berechtigt ist.
27.
Dem vorlegenden Gericht zufolge existieren Rundschreiben und Vermerke des Ministeriums für
Hochschulwesen und wissenschaftliche und technologische Forschung sowie des Außenministeriums,
nach denen akademische Grade, die von Universitäten in anderen Mitgliedstaaten verliehen worden
sind, in Italien nur dann anerkannt werden können, wenn die Studenten die Kurse in den Staaten
absolviert haben, in denen die Grade verliehen worden sind. Dagegen werden akademische Grade,
die italienischen Staatsbürgern auf der Grundlage von Studienzeiten bei Einrichtungen in Italien
verliehen worden sind, mit denen die betreffenden Universitäten privatrechtliche Vereinbarungen
abgeschlossen haben, nicht anerkannt. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts können die
angeführten Vermerke und Rundschreiben die Studenten davon abhalten, diese Kurse zu belegen und
darüber hinaus ein Hindernis für die inländische Benutzung von akademischen Graden darstellen, die
von ausländischen Universitäten verliehen wurden.
28.
Das vorlegende Gericht kommt zu dem Schluss, diese Verwaltungspraxis, die Verordnungscharakter
aufweise, da sie von allen Organen der öffentlichen Verwaltung angewandt werde, könne dazu führen,
dass die Studenten sich für diese Studiengänge nicht einschreiben und/oder wie im vorliegenden Fall
ihre Einschreibung rückgängig machen.
29.
Die betreffende Praxis könne daher ein Hindernis für die Freizügigkeit, die Niederlassungsfreiheit
und den freien Dienstleistungsverkehr darstellen.
30.
Im Übrigen könnte, so das vorlegende Gericht weiter, die Richtlinie 89/48 der Verwaltungspraxis der
italienischen Stellen entgegenstehen, wenn sich die Angehörigen der Mitgliedstaaten schon vor dem
Erwerb des Diploms im Sinne von Artikel 1 der Richtlinie auf die sich aus ihr ergebenden Rechte
berufen könnten.
31.
Schließlich bemerkt das vorlegende Gericht, auch der Beschluss 63/266, dem zufolge die
gemeinsame Politik der Berufsausbildung zum Ziel habe, jede nachteilige Unterbrechung zwischen
dem Abschluss der allgemeinen Schulbildung und dem Beginn der Berufsausbildung sowie während
der Berufsausbildung zu vermeiden, stehe der Verwaltungspraxis der italienischen Stellen
möglicherweise entgegen.
Die Vorlagefragen
32.
Der Giudice di pace Genua hat mit Beschluss vom 18. April 2002 das Verfahren ausgesetzt und dem
Gerichtshof drei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Sind mit den Grundsätzen des EG-Vertrags betreffend die Freizügigkeit (Artikel 39 EG ff.), die
Niederlassungsfreiheit (Artikel 43 EG ff.) und den freien Dienstleistungsverkehr (Artikel 49 EG ff.) in
der Auslegung, die sie durch die Rechtsprechung des Gerichtshofes erfahren haben, Vorschriften
oder eine Verwaltungspraxis des nationalen Rechts, wie sie in diesem Beschluss unter den Ziffern III
und IV beschrieben worden sind, und insbesondere nationale Vorschriften und/oder
Verwaltungspraktiken vereinbar, die
- die italienische Niederlassung einer Kapitalgesellschaft, deren Geschäftsschwerpunkt sich im
Vereinigten Königreich befindet, bei der Ausübung einer Geschäftstätigkeit im Aufnahmestaat, die in
der Organisation und Abhaltung von Unterricht zur Vorbereitung auf Universitätsprüfungen besteht,
behindern, obwohl die Gesellschaft zu dieser Tätigkeit von den Stellen des Vereinigten Königreichs
ordnungsgemäß ermächtigt und zugelassen ist;
- im Vergleich zu nationalen Einrichtungen, die vergleichbare Tätigkeiten ausüben,
diskriminierende Wirkung haben;
- der italienischen Niederlassung dieser Gesellschaft den entgeltlichen Erwerb von
Dienstleistungen, die die oben genannte Geschäftstätigkeit vorbereiten, in einem anderen
Mitgliedstaat untersagen und/oder eine solche behindern;
- die Studenten davon abhalten, sich in diesen Studiengängen einzuschreiben;
- die Berufsausbildung der eingeschriebenen Studenten sowie den Erwerb eines akademischen
Grades, der für seinen Inhaber sowohl für die Aufnahme einer beruflichen Tätigkeit als auch für deren
gewinnbringendere Ausübung in anderen Mitgliedstaaten von Vorteil sein kann, behindern?
2. Ist Artikel 2 der Richtlinie 89/48/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 so auszulegen, dass eine
Berufung auf die mit der Richtlinie verliehenen Rechte auch bereits vor dem Erwerb des Diploms nach
Artikel 1 der Richtlinie möglich ist? Wenn ja, sind mit der Richtlinie, auch im Hinblick auf das Urteil des
Gerichtshofes vom 7. März 2002 in der Rechtssache C-145/99 (Kommission/Italien, Slg. 2002, I-2235),
Vorschriften und/oder Verwaltungspraktiken der nationalen Rechtsordnung vereinbar, die
- die Anerkennung von Hochschuldiplomen, die eine Berufsausbildung von mindestens drei
Jahren abschließen, in das bloße Ermessen der öffentlichen Verwaltung stellen;
- die Anerkennung von akademischen Graden, die von in Großbritannien anerkannten
Universitäten verliehen werden, nur dann zulassen, wenn sie nach ordnungsgemäßem Besuch des
gesamten Studiengangs im Ausland verliehen werden, und die akademische Grade, die nach der
Ableistung von Studienzeiten bei ausländischen, ihre Tätigkeit in Italien ausübenden Einrichtungen
erworben werden, von der Anerkennung auch dann ausschließen, wenn die Einrichtungen zur
Ausübung dieser Tätigkeit von den Behörden ihres Herkunftsstaats ermächtigt und zugelassen sind;
- die Vorlage einer Bescheinigung verlangen, in der die italienische diplomatische/konsularische
Vertretung in dem Mitgliedstaat, der den akademischen Grad verleiht, den tatsächlichen dortigen
Aufenthalt des Betroffenen während der gesamten Dauer des Studiums bestätigt;
- die Anerkennung der Diplome „ausschließlich“ auf die Ausübung eines Berufes beschränken,
der im Herkunftsstaat bereits ausgeübt worden ist, also jede Anerkennung mit dem Ziel der Aufnahme
eines reglementierten Berufes, der zuvor nicht ausgeübt wurde, ausschließen?
3. Welche Bedeutung kommt der „nachteiligen Unterbrechung der Berufsausbildung“ im Rahmen
der Auslegung des Beschlusses 63/266/EWG des Rates vom 2. April 1963 zu? Wird hiervon die
Einrichtung eines ständigen Informationssystems durch die öffentliche Verwaltung auf nationaler
Ebene erfasst, das darüber unterrichtet, dass die von einer Universität - auch wenn sie in
Großbritannien gesetzlich anerkannt ist - verliehenen akademischen Grade von der nationalen
Rechtsordnung nicht anerkannt werden können, wenn sie auf der Grundlage von im Inland
absolvierten Studienzeiten erworben werden?
Vorbemerkung
33.
Die italienische Regierung hat in der mündlichen Verhandlung geltend gemacht, dass die
Darstellung des nationalen Rechts im Vorlagebeschluss in bestimmten Punkten unzutreffend sei und
der Beschluss nicht alle einschlägigen nationalen Bestimmungen berücksichtige. Sie hat außerdem
auf Änderungen der Rechtsvorschriften sowohl Italiens als auch des Vereinigten Königreichs nach
Erlass des Beschlusses sowie auf Veränderungen in den Beziehungen zwischen der ESE und der NTU
hingewiesen.
34.
Hierzu ist festzustellen, dass es nicht Sache des Gerichtshofes ist, über die Auslegung oder
Anwendbarkeit nationaler Vorschriften zu befinden oder den Sachverhalt festzustellen, der für die
Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits erheblich ist.
35.
Der Gerichtshof hat vielmehr im Rahmen der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den
Gerichten der Gemeinschaft und denen der Mitgliedstaaten in Bezug auf den tatsächlichen und
rechtlichen Rahmen, in den sich die Vorabentscheidungsfrage einfügt, von den Feststellungen des
vorlegenden Gerichts auszugehen (Urteil vom 25. Oktober 2001 in der Rechtssache C-475/99,
Ambulanz Glöckner, Slg. 2001, I-8089, Randnr. 10).
36.
Daher sind die Vorabentscheidungsfragen in dem tatsächlichen und rechtlichen Rahmen zu prüfen,
wie ihn der Giudice di pace Genua in seinem Vorlagebeschluss festgestellt hat.
Zu den Vorlagefragen
37.
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob die Artikel 39
EG, 43 EG und 49 EG einer Verwaltungspraxis wie der im Ausgangsverfahren streitigen
entgegenstehen, nach der von der Universität eines Mitgliedstaats ausgestellte Hochschuldiplome in
einem anderen Mitgliedstaat nicht anerkannt werden, wenn der Unterricht zur Vorbereitung auf die
betreffenden Diplome in diesem anderen Mitgliedstaat von einer anderen Ausbildungseinrichtung
gemäß einer Vereinbarung zwischen dieser Einrichtung und der Universität erteilt worden ist.
38.
Vor dem vorlegenden Gericht beruft sich die Klägerin auf diese Verwaltungspraxis, um die
Erstattung der an die ESE gezahlten Einschreibegebühren zu fordern, während sich die ESE dieser
Erstattung der an die ESE gezahlten Einschreibegebühren zu fordern, während sich die ESE dieser
Verwaltungspraxis unter Hinweis auf das Gemeinschaftsrecht widersetzt. Um eine sachgerechte
Antwort auf die Vorabentscheidungsfragen zu geben, ist deshalb das Gemeinschaftsrecht im Hinblick
auf die Tätigkeit der ESE auszulegen.
39.
Die entgeltliche Durchführung von Hochschulunterricht ist eine wirtschaftliche Tätigkeit, die unter
das Vertragskapitel über das Niederlassungsrecht fällt, wenn sie von Staatsangehörigen eines
Mitgliedstaats in stabiler und kontinuierlicher Weise von einer Haupt- oder Nebenniederlassung in
einem anderen Mitgliedstaat aus dort ausgeübt wird (in diesem Sinne Urteil vom 15. Januar 2002 in
der Rechtssache C-439/99, Kommission/Italien, Slg. 2002, I-305, Randnr. 21).
40.
Da die ESE, die ihre Hauptniederlassung im Vereinigten Königreich hat, Hochschulunterricht von
Nebenniederlassungen in Italien aus durchführt, hier von ihrer Niederlassung in Genua aus, sind die
Vorabentscheidungsfragen, soweit sie die vom EG-Vertrag geschützten Grundfreiheiten betreffen,
unter dem Blickwinkel der Niederlassungsfreiheit der ESE zu prüfen.
41.
Artikel 43 EG schreibt die Aufhebung der Beschränkungen der freien Niederlassung vor. Als solche
Beschränkungen sind alle Maßnahmen anzusehen, die die Ausübung dieser Freiheit unterbinden,
behindern oder weniger attraktiv machen (vgl. Urteil vom 7. März 2002 in der Rechtssache C-145/99,
Kommission/Italien, Slg. 2002, I-2235, Randnr. 22).
42.
Für eine Ausbildungseinrichtung wie die ESE, die Kurse durchführt, mit denen den Studenten der
Erwerb von Diplomen ermöglicht werden soll, die ihren Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern können,
ist die Anerkennung dieser Diplome durch einen Mitgliedstaat von erheblicher Bedeutung.
43.
Es ist offensichtlich, dass eine Verwaltungspraxis wie die im Ausgangsverfahren streitige, nach der
bestimmte Diplome, die am Ende des von der ESE erteilten Hochschulunterrichts ausgestellt werden,
in Italien nicht anerkannt werden, die Studenten davon abhalten kann, die betreffenden Kurse zu
belegen, und dadurch die ESE in der Ausübung ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat
erheblich behindern kann.
44.
Eine Verwaltungspraxis wie die im Ausgangsrechtsstreit streitige stellt deshalb eine Beschränkung
der Niederlassungsfreiheit der ESE im Sinne von Artikel 43 EG dar.
45.
Die italienische Regierung scheint diese Beschränkung damit rechtfertigen zu wollen, dass es
notwendig sei, einen hohen Standard der Hochschulausbildung sicherzustellen. Die italienische
Rechtsordnung lasse im Bereich dieser Ausbildung keine Vereinbarungen der hier fraglichen Art zu, da
sie diese Ausbildung weiterhin als ein „öffentliches Gut“ betrachte, in dem die kulturellen und
geschichtlichen Werte eines Staates zum Ausdruck kämen. Eine solche Vereinbarung im Bereich der
Hochschulausbildung verhindere eine unmittelbare Kontrolle der Qualität der privaten Einrichtungen
durch die zuständigen Stellen sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmestaat.
46.
Zwar erscheint das Ziel, einen hohen Standard der Hochschulausbildung sicherzustellen, legitim
und damit geeignet, Beschränkungen der Grundfreiheiten zu rechtfertigen. Diese Beschränkungen
müssen aber ihrerseits geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu
gewährleisten, und dürfen nicht über das hinausgehen, was zu dessen Erreichung erforderlich ist (vgl.
Urteil vom 15. Januar 2002, Kommission/Italien, Randnr. 23).
47.
Da die italienische Rechtsordnung nach Artikel 8 Absatz 1 des Gesetzes Nr. 341/90 offenbar
Vereinbarungen zwischen italienischen Universitäten und anderen italienischen Hochschulen zulässt,
die mit der Vereinbarung zwischen der NTU und der ESE vergleichbar sind, und das in Randnummer 13
dieses Urteils wiedergegebene Schreiben darauf schließen lässt, dass die Nichtanerkennung der
unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens ausgestellten Diplome ausschließlich
akademische Grade betrifft, die an italienische Staatsangehörige verliehen werden, erweist sich die im
Vorlagebeschluss dargestellte Verwaltungspraxis als ungeeignet, das von der italienischen Regierung
geltend gemacht Ziel der Sicherstellung eines hohen Standards der Hochschulausbildung zu
erreichen.
48.
Zudem steht die betreffende Verwaltungspraxis außer Verhältnis zum verfolgten Ziel.
49.
Wie nämlich der Generalanwalt in Nummer 49 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, schließt die im
Vorlagebeschluss dargestellte Verwaltungspraxis offenbar jede Überprüfung der unter Umständen wie
denen des Ausgangsverfahrens ausgestellten Diplome durch die nationalen Stellen und damit auch
jede Möglichkeit ihrer Anerkennung aus.
50.
Diese Verwaltungspraxis geht über das hinaus, was zur Erreichung des verfolgten Zieles
erforderlich ist.
51.
Daher ist auf die erste Vorabentscheidungsfrage zu antworten, dass Artikel 43 EG einer
Verwaltungspraxis wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, nach der von der
Universität eines Mitgliedstaats ausgestellte Hochschuldiplome in einem anderen Mitgliedstaat nicht
anerkannt werden können, wenn der Unterricht zur Vorbereitung auf die betreffenden Diplome in
diesem anderen Mitgliedstaat von einer anderen Ausbildungseinrichtung gemäß einer Vereinbarung
zwischen dieser Einrichtung und der Universität erteilt worden ist.
52.
In Anbetracht der Antwort auf die erste Frage brauchen die zweite und die dritte Frage nicht
beantwortet zu werden.
Kosten
53.
Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof
abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das
Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
auf die ihm vom Giudice di pace Genua mit Beschluss vom 18. April 2002 vorgelegten Fragen für Recht
erkannt:
Artikel 43 EG steht einer Verwaltungspraxis wie der im Ausgangsverfahren streitigen
entgegen, nach der von der Universität eines Mitgliedstaats ausgestellte
Hochschuldiplome in einem anderen Mitgliedstaat nicht anerkannt werden können, wenn
der Unterricht zur Vorbereitung auf die betreffenden Diplome in diesem anderen
Mitgliedstaat von einer anderen Ausbildungseinrichtung gemäß einer Vereinbarung
zwischen dieser Einrichtung und der Universität erteilt worden ist.
Edward
La Pergola
von Bahr
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. November 2003.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
V. Skouris
Verfahrenssprache: Italienisch.