Urteil des EuGH vom 29.06.1999

EuGH: vermietung, auswärtige angelegenheiten, lieferung, anwendungsbereich, kommission, neutralität, dienstleistung, steuerverwaltung, unterliegen, bemessungsgrundlage

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
29. Juni 1999
„Steuerrecht — Harmonisierung — Umsatzsteuern — Gemeinsames Mehrwertsteuersystem — Sechste
Richtlinie — Anwendungsbereich — Zurverfügungstellung eines Tisches für den Verkauf von
Betäubungsmitteln“
In der Rechtssache C-158/98
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG (früher Artikel 177) vom Hoge Raad der Nederlanden in
dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit
Staatssecretaris van Financiën
gegen
Coffeeshop „Siberië“ vof
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 2 der Sechsten Richtlinie
77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten
über die Umsatzsteuern — Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige
Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1)
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten P. J. G. Kapteyn, J. P.
Puissochet, G. Hirsch und P. Jann (Berichterstatter) sowie der Richter J. C. Moitinho de Almeida, D. A. O.
Edward, H. Ragnemalm und R. Schintgen,
Generalanwalt: N. Fennelly
Kanzler: R. Grass
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
— der Coffeeshop „Siberië“ vof, vertreten durch Rechtsanwalt G. A. C. Beckers, Maastricht,
— der niederländischen Regierung, vertreten durch J. G. Lammers, stellvertretender Rechtsberater im
Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten,
— der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch E. Traversa und H. van Vliet,
Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte,
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. März 1999,
folgendes
Urteil
1.
Der Hoge Raad der Nederlanden hat mit Urteil vom 22. April 1998, beim Gerichtshof eingegangen
am 24. April 1998, gemäß Artikel 234 EG (früher Artikel 177) eine Frage nach der Auslegung von
Artikel 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern — Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1; im
folgenden: Sechste Richtlinie) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit der Coffeeshop „Siberië“ vof (im folgenden: Klägerin)
gegen die niederländische Steuerverwaltung, bei dem es um einen
Umsatzsteuernacherhebungsbescheid für die Jahre 1990 bis 1993 geht.
3.
Artikel 2 der Sechsten Richtlinie lautet:
„Der Mehrwertsteuer unterliegen:
1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichtiger als solcher im
Inland gegen Entgelt ausführt;
2. die Einfuhr von Gegenständen.“
4.
Artikel 4 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie lautet:
„Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftlichen Tätigkeiten selbständig
und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgültig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.“
5.
Die Klägerin betreibt in Amsterdam einen „Coffeeshop“, d. h. ein Lokal, in dem weiche Drogen
verkauft und konsumiert werden. In dem von dem Nacherhebungsbescheid erfaßten Zeitraum stellte
sie in ihrem Lokal einem Dritten (im folgenden: Hausdealer) einen Tisch zur Verfügung, an dem dieser
jedem Interessierten Cannabisprodukte verkaufte. Die Klägerin hatte von dieser Tätigkeit Kenntnis.
6.
Die finanzielle Gegenleistung des Hausdealers für die Zurverfügungstellung des Tisches ist in den
Geschäftsbüchern der Klägerin unter der Bezeichnung „tafelhuur“ (Tischmiete) verbucht.
7.
Nachdem die Klägerin auf diese Miete keine Mehrwertsteuer entrichtet hatte, übersandte die
Steuerverwaltung ihr gemäß der Wet op de omzetbelasting 1968 (Mehrwertsteuergesetz 1968) einen
Nacherhebungsbescheid für die Zeit vom 1. Januar 1990 bis zum 31. Dezember 1993.
8.
Auf den Einspruch der Klägerin gegen den Bescheid der Steuerverwaltung entschied der
Gerechtshof Amsterdam, daß die Vermietung des Tisches an den Hausdealer eine strafbare
Beteiligung am Delikt des Handels mit weichen Drogen darstelle und daher nicht der Mehrwertsteuer
unterliege. Der Umstand, daß diese Straftat in den Niederlanden nicht systematisch verfolgt werde,
könne diese Beurteilung nicht ändern, die im übrigen dem Urteil vom 5. Juli 1988 in der Rechtssache
289/86 (Happy Family, Slg. 1988, 3655) entspreche, in dem der Gerichtshof für Recht erkannt habe,
daß die Lieferung von Betäubungsmitteln nicht der Mehrwertsteuer unterliege, da diese Erzeugnisse
insoweit besondere Merkmale aufwiesen, als sie schon nach ihrem Wesen in allen Mitgliedstaaten
einem vollständigen Verkehrsverbot unterlägen.
9.
Die niederländische Steuerverwaltung legte gegen das Urteil des Gerechtshof
Kassationsbeschwerde ein; zur Begründung machte sie im Kern geltend, die Zurverfügungstellung
eines Platzes für den Verkauf weicher Drogen unterliege weder nach niederländischem Recht noch
nach einer internationalen Regelung einem absoluten gesetzlichen Verbot und müsse von der
eigentlichen Lieferung von
Drogen unterschieden werden. Die Entscheidung des Gerichtshofes im Urteil Happy Family sei daher
auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
10.
Der mit dem Rechtsmittel befaßte Hoge Raad wirft die Frage nach der Übertragbarkeit des Urteils
Happy Family auf den Sachverhalt des vorliegenden Falles auf. Die Verschaffung einer Möglichkeit zum
Inverkehrbringen von Drogen werde vom niederländischen Strafrecht als Beteiligung erfaßt, was im
übrigen mit dem am 30. März 1961 in New York unterzeichneten und von allen Mitgliedstaaten der
Gemeinschaft ratifizierten Einheits-Übereinkommen über Suchtstoffe im Einklang stehe.
11.
Diese strafrechtliche Einstufung verhindere jedoch nicht, daß die Zurverfügungstellung einer
Verkaufsstätte als solche eine Dienstleistung im Sinne der gemeinschaftlichen
Mehrwertsteuerregelung darstelle und daher in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie nach
Artikel 2 falle.
12.
Da die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Tätigkeit eine Dienstleistung im Sinne der
Mehrwertsteuerregelung darstelle, sei fraglich, ob das Urteil Happy Family auch auf die
Zurverfügungstellung einer Verkaufsstätte für Cannabiserzeugnisse übertragbar sei, so daß eine
Besteuerung ausgeschlossen wäre. Bei Bejahung dieser Frage würde der Anwendungsbereich der
Sechsten Richtlinie erheblich eingeschränkt, zumal sich im übrigen in bestimmten Mitgliedstaaten seit
dem Urteil Happy Family die Auffassungen zur Rechtswidrigkeit des Inverkehrbringens weicher Drogen
in eine liberalere Richtung entwickelt hätten, so daß sich die Frage stelle, ob diese Rechtsprechung
aufrechterhalten werden könne.
13.
Daher hat der Hoge Raad das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof die folgende Frage zur
Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Artikel 2 der Sechsten Richtlinie dahin auszulegen, daß derjenige, der gegen Vergütung einem
anderen Gelegenheit zum Handel mit Cannabisprodukten bietet, nicht umsatzsteuerpflichtig ist?
14.
Vorab ist darauf hinzuweisen, daß nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Grundsatz der
steuerlichen Neutralität bei der Erhebung der Mehrwertsteuer tatsächlich eine allgemeine
Differenzierung zwischen erlaubten und unerlaubten Geschäften verbietet. Dies gilt jedoch nicht für
die Lieferung von Erzeugnissen wie Betäubungsmitteln, die insoweit besondere Merkmale aufweisen,
als sie — mit Ausnahme eines streng überwachten Vertriebes zur Verwendung für medizinische und
wissenschaftliche Zwecke — schon nach ihrem Wesen in allen Mitgliedstaaten einem vollständigen
Verkehrsverbot unterliegen. In einer derartigen besonderen Situation, in der zwischen einem legalen
und einem illegalen Wirtschaftssektor jeder Wettbewerb ausgeschlossen ist, kann der Grundsatz der
steuerlichen Neutralität nicht berührt sein, wenn der fragliche Vorgang nicht steuerbar ist (vgl.
insbesondere Urteile Happy Family, Randnr. 20, und vom 5. Juli 1988 in der Rechtssache 269/86, Mol,
Slg. 1988, 3627, Randnr. 18).
15.
Nach Ansicht der Klägerin sind diese Urteile auf das Ausgangsverfahren in vollem Umfang
übertragbar, so daß die Miete für die Zurverfügungstellung des Tisches nicht mit Mehrwertsteuer
belegt werden könne. Werde einem Hausdealer ein Tisch zur Verfügung gestellt und würden die Gäste
des Cafés davon unterrichtet, so sei dies als vorsätzliche Beteiligung am Inverkehrbringen von
Betäubungsmitteln zu betrachten und stelle zweifellos eine Straftat dar, die ebenso behandelt werden
müsse wie die eigentliche Lieferung von Betäubungsmitteln.
16.
Nach Ansicht der niederländischen Regierung und der Kommission muß die in Rede stehende
Tätigkeit der Mehrwertsteuer unterliegen. Es sei nämlich zwischen der eigentlichen Lieferung von
Drogen und den Handlungen im Zusammenhang mit dieser Lieferung zu unterscheiden. So sei die
Vermietung eine Handlung, die als solche und für sich genommen nicht verboten sei. Es gebe auch
einen legalen Markt, der im Wettbewerb mit einem illegalen Markt stehe. Daher unterliege eine solche
Leistung der Mehrwertsteuer, wie der Gerichtshof im Zusammenhang mit der nichtgenehmigten
Ausfuhr von Computersystemen (Urteil vom 2. August 1993 in der Rechtssache C-111/92, Lange, Slg.
1993, I-4677), der Lieferung von nachgeahmten Parfümeriewaren (Urteil vom 28. Mai 1998 in der
Rechtssache C-3/97, Goodwin und Unstead, Slg. 1998, I-3257) und der Veranstaltung unerlaubter
Glücksspiele (Urteil vom 11. Juni 1998 in der Rechtssache C-283/95, Fischer, Slg. 1998, I-3369) mit der
Begründung entschieden habe, daß es sich nicht um Waren oder Dienstleistungen handle, die vom
regulären Wirtschaftskreislauf ausgeschlossen seien oder die sich in einer Situation befänden, in der
jeder Wettbewerb zwischen einem legalen und einem illegalen Wirtschaftssektor ausgeschlossen sei.
17.
Falls der Gerichtshof die in Rede stehende Tätigkeit dennoch der gleichen Regelung unterwerfen
wolle wie die eigentliche Lieferung von Betäubungsmitteln, müsse die erhebliche Fortentwicklung der
Haltung der niederländischen Behörden gegenüber dem Gebrauch weicher Drogen in den letzten
Jahren berücksichtigt werden. Zwar sei der Verkauf weicher Drogen in Coffeeshops nach
niederländischem Strafrecht immer noch eine Straftat, doch sehe eine „Richtlinie“ des Kollegiums der
niederländischen Staatsanwälte die Möglichkeit vor, diese Tätigkeit in Coffeeshops, die bestimmte
Voraussetzungen erfüllten, zu dulden, wenn es eine entsprechende örtliche Abstimmung zwischen der
Gemeindeverwaltung, der Polizei und der Staatsanwaltschaft gebe. Daher bestehe kein vollständiges
Verbot des Inverkehrbringens weicher Drogen mehr, das eine Ausnahme vom Grundsatz der
steuerlichen Neutralität rechtfertigen könnte.
18.
Ferner macht die Kommission geltend, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes müsse für die
Anwendung des Gemeinsamen Mehrwertsteuersystems eine wirtschaftliche Betätigung an sich,
unabhängig von ihrem Zweck und ihrem
Ergebnis, und unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realität beurteilt werden (Urteile vom 26.
März 1987 in der Rechtssache 235/85, Kommission/Niederlande, Slg. 1987, 1471, Randnr. 8, und vom
20. Februar 1997 in der Rechtssache C-260/95, DFDS, Slg. 1997, I-1005, Randnr. 23).
19.
In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, daß die im vorliegenden Fall möglicherweise
steuerbare Tätigkeit nicht der Verkauf von Betäubungsmitteln, sondern eine Dienstleistung ist, die in
der Zurverfügungstellung eines Platzes besteht, an dem der Verkauf solcher Erzeugnisse mit dem
Einverständnis des Erbringers der Dienstleistung betrieben wird. Die im Urteil Happy Family
angestellten Erwägungen sind somit nicht unmittelbar auf den Sachverhalt der vorliegenden
Rechtssache übertragbar.
20.
Daher ist zu prüfen, ob eine Erstreckung dieser Erwägungen auf Tätigkeiten, die in irgendeiner
Weise mit dem Inverkehrbringen von Betäubungsmitteln im Zusammenhang stehen, geboten ist.
21.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes verbietet, wie in Randnummer 14 ausgeführt worden
ist, der Grundsatz der steuerlichen Neutralität bei der Erhebung der Mehrwertsteuer eine allgemeine
Differenzierung zwischen erlaubten und unerlaubten Geschäften. Somit führt die Einstufung eines
Verhaltens als strafbar nicht ohne weiteres dazu, daß der fragliche Vorgang nicht steuerbar ist;
vielmehr ist dies nur in spezifischen Situationen der Fall, in denen wegen der besonderen
Eigenschaften bestimmter Waren oder bestimmter Dienstleistungen jeder Wettbewerb zwischen einem
legalen und einem illegalen Wirtschaftssektor ausgeschlossen ist.
22.
Im vorliegenden Fall liegt jedoch keine solche besondere Situation vor, denn die Vermietung eines
Platzes zur Durchführung gewerblicher Tätigkeiten stellt grundsätzlich eine wirtschaftliche Betätigung
dar und fällt somit in den Anwendungsbereich der Sechsten Richtlinie. Der Umstand, daß die an dem
vermieteten Platz durchgeführten Tätigkeiten strafbar sein können, was die Vermietung rechtswidrig
machen kann, ändert nichts am wirtschaftlichen Charakter dieser Vermietung und hindert nicht das
Vorhandensein eines Wettbewerbs in diesem Sektor, und zwar auch nicht eines solchen zwischen
legalen und illegalen Tätigkeiten. Daraus ergibt sich, daß der Grundsatz der steuerlichen Neutralität
des Mehrwertsteuersystems verletzt würde, wenn die Vermietung nicht steuerbar wäre.
23.
Daher ist dem vorlegenden Gericht zu antworten, daß Artikel 2 der Sechsten Richtlinie so
auszulegen ist, daß die Vermietung eines für den Verkauf von Betäubungsmitteln benutzten Platzes
unter Voraussetzungen, wie sie im Ausgangsverfahren vorliegen, in den Anwendungsbereich dieser
Richtlinie fällt.
Kosten
24.
Die Auslagen der niederländischen Regierung und der Kommission der Europäischen
Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig.
Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem
vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses
Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Hoge Raad der Nederlanden mit Urteil vom 22. April 1998 vorgelegte Frage für Recht
erkannt:
Artikel 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern —
Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige
Bemessungsgrundlage ist so auszulegen, daß die Vermietung eines für den Verkauf von
Betäubungsmitteln benutzten Platzes unter Voraussetzungen, wie sie im
Ausgangsverfahren vorliegen, in den Anwendungsbereich dieser Richtlinie fällt.
Rodríguez Iglesias
Kapteyn
Puissochet
Hirsch
Jann
Moitinho de Almeida
Edward
Ragnemalm
Schintgen
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. Juni 1999.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Niederländisch.