Urteil des EuGH vom 25.01.2001

EuGH: abfallbeseitigung, kommission, mitgliedstaat, republik, dienstleistung, unternehmen, regierung, niederlassung, beförderung, luxemburg

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
25. Januar 2001
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Erstattung der Mehrwertsteuer, die in einem anderen
Mitgliedstaat gezahlt wurde - Sechste Richtlinie - Ort der Leistung - Dienstleistungen des Einsammelns, des
Sortierens, der Beförderung und der Beseitigung von Abfällen“
In der Rechtssache C-429/97
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Französische Republik
Bellanger und S. Seam als Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
wegen Feststellung, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Achten
Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der
Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Verfahren zur Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht im Inland
ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 331, S. 11), insbesondere aus deren Artikel 2, verstoßen hat, dass sie die
Erstattung der Mehrwertsteuer an nicht in Frankreich ansässige Steuerpflichtige abgelehnt hat, wenn diese
einen Teil ihrer Arbeit an einen in Frankreich ansässigen Steuerpflichtigen vergeben haben,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten C. Gulmann sowie der Richter V. Skouris (Berichterstatter) und J.-P.
Puissochet,
Generalanwalt: N. Fennelly
Kanzler: L. Hewlett, Verwaltungsrätin
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Parteien in der Sitzung vom 18. November 1999,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 13. Januar 2000,
folgendes
Urteil
1.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 18. Dezember 1997
bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, Klage nach Artikel 169 EG-Vertrag (jetzt Artikel 226
EG) erhoben auf Feststellung, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen
aus der Achten Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Verfahren zur Erstattung der
Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige (ABl. L 331, S. 11, im Folgenden: Achte
Richtlinie), insbesondere aus deren Artikel 2, verstoßen hat, dass sie die Erstattung der
Mehrwertsteuer an nicht in Frankreich ansässige Steuerpflichtige abgelehnt hat, wenn diese einen
Teil ihrer Arbeit an einen in Frankreich ansässigen Steuerpflichtigen vergeben haben.
Rechtslage
Die Achte Richtlinie
2.
Die Achte Richtlinie soll nach ihrer zweiten Begründungserwägung vermeiden, dass ein in einem
Mitgliedstaat ansässiger Steuerpflichtiger die Steuer, die ihm in einem anderen Mitgliedstaat für die
Lieferung von Gegenständen oder die Inanspruchnahme von Dienstleistungen in Rechnung gestellt
worden ist, endgültig tragen muss und damit einer Doppelbesteuerung unterliegt.
3.
Artikel 1 der Achten Richtlinie bestimmt:
„Für die Anwendung dieser Richtlinie gilt als nicht im Inland ansässiger Steuerpflichtiger derjenige
Steuerpflichtige nach Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 77/388/EWG, der in dem Zeitraum nach Artikel 7
Absatz 1 erster Unterabsatz Sätze 1 und 2 in diesem Land weder den Sitz seiner wirtschaftlichen
Tätigkeit noch eine feste Niederlassung, von wo aus die Umsätze bewirkt worden sind, noch - in
Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer festem Niederlassung - seinen Wohnsitz oder
gewöhnlichen Aufenthaltsort gehabt hat und der in dem gleichen Zeitraum im Inland keine
Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht hat“.
4.
Artikel 2 der Achten Richtlinie sieht vor:
„Jeder Mitgliedstaat erstattet einem Steuerpflichtigen, der nicht im Inland, sondern in einem anderen
Mitgliedstaat ansässig ist, unter den nachstehend festgelegten Bedingungen die Mehrwertsteuer, mit
der die ihm von anderen Steuerpflichtigen im Inland erbrachten Dienstleistungen oder gelieferten
beweglichen Gegenstände belastet wurden oder mit der die Einfuhr von Gegenständen ins Inland
belastet wurde, soweit diese Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke der in Artikel 17 Absatz 3
Buchstaben a) und b) der Richtlinie 77/388/EWG bezeichneten Umsätze oder der in Artikel 1
Buchstabe b) bezeichneten Dienstleistungen verwendet werden.“
Die Sechste Richtlinie
5.
Artikel 9 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur
Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames
Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. L 145, S. 1, im
Folgenden: Sechste Richtlinie) lautet:
„Als Ort einer Dienstleistung gilt der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz seiner wirtschaftlichen
Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat, von wo aus die Dienstleistung erbracht wird, oder in
Ermangelung eines solchen Sitzes oder einer solchen festen Niederlassung sein Wohnort oder sein
üblicher Aufenthaltsort.“
6.
Artikel 9 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie sieht vor:
„Es gilt jedoch
...
c) als Ort der folgenden Dienstleistungen der Ort, an dem diese Dienstleistungen tatsächlich bewirkt
werden:
- ...
- ...
- ...
- Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen“.
7.
Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie wurde durch Artikel
259 A 4° des Code Général des Impôts (Abgabenordnung) in französisches Recht umgesetzt. Diese
Bestimmung in der im vorliegenden Fall anwendbaren Fassung lautet:
„Abweichend von Artikel 259 gilt Frankreich als Ort der folgenden Dienstleistungen:
...
4° Folgende Leistungen, wenn sie in Frankreich tatsächlich bewirkt werden:
...
Arbeiten an und Bewertungen von beweglichen körperlichen Gegenständen“.
8.
Aus den Akten geht hervor, dass die Abteilung für Steuergesetzgebung der französischen
Finanzverwaltung an alle mit der Erhebung der Mehrwertsteuer betrauten Abteilungen der nationalen
Verwaltung ein Rundschreiben über die für die Abfallbeseitigung in Frankreich und die damit
zusammenhängenden Einfuhren geltende Regelung gerichtet hat. In diesem Rundschreiben heißt es
u. a., dass Abfallbeseitigungsmaßnahmen ... unter Artikel 259 A 4° des Code général des impôts
fielen, durch den Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c der Sechsten Richtlinie in französisches Recht
umgesetzt werde, und der französischen Mehrwertsteuer unterlägen, wenn sie dort tatsächlich
bewirkt würden. Diese Bestimmungen gälten für den Umsatz, den der Betreiber der Anlage erziele, der
die Arbeiten selbst ausführe. Sie gälten auch für die Dienstleistung, die das mit der Abfallbeseitigung
beauftragteUnternehmen seinen Kunden erbringe, sofern es ihnen sämtliche Kosten des Vorgangs in
Rechnung stelle, die im Wesentlichen aus dem Preis bestünden, den der Betreiber der Anlage
verlange. Hierbei sei unerheblich, dass dieses Unternehmen die tatsächliche Abfallbeseitigung nicht
selbst vornehme, sondern einem anderen Unternehmen übertrage.
Sachverhalt und Vorverfahren
9.
Nach den Akten weigert sich die französische Verwaltung, die Bestimmungen der Achten Richtlinie
auf in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Hauptunternehmen anzuwenden, denen das
Einsammeln, das Sortieren, die Beförderung und die Beseitigung von Abfällen übertragen ist, wenn
diese für die Abfallbeseitigung teilweise französische Subunternehmen einsetzen.
10.
Diese Hauptunternehmen stellen ihren Kunden als den Dienstleistungsempfängern für das
Einsammeln und die Beseitigung von Abfällen auf den Gesamtpreis nach Artikel 9 Absatz 1 der
Sechsten Richtlinie die Mehrwertsteuer des Mitgliedstaats in Rechnung, in dem sie ihre Niederlassung
haben. Außerdem zahlen sie die französische Mehrwertsteuer, die ihnen von den in Frankreich
ansässigen Subunternehmen in Rechnung gestellt wird.
11.
Die Erstattung dieser Mehrwertsteuer lehnt die französische Verwaltung ab, weil sie Artikel 259 A 4°
des Code général des impôts dahin auslegt, dass die Hauptunternehmen selbst sämtliche
Dienstleistungen im Bereich der Abfallbeseitigung in Frankreich erbringen, wenn die tatsächliche
Abfallbeseitigung, die die wesentliche und entscheidende Komponente dieser Dienstleistung und
ihres Preises darstelle, in Frankreich vorgenommen wird; die Achte Richtlinie könne folglich keine
Anwendung finden.
12.
Die Hauptunternehmen werden daher aufgefordert, der französischen Steuerverwaltung einen
steuerlichen Beauftragen für die Zahlung der Mehrwertsteuer zu benennen, die für die Vorgänge
anfällt, die als in Frankreich ausgeführt gelten.
13.
Mit Schreiben vom 23. September und 22. Dezember 1992 ersuchte die Kommission die
französischen Stellen um eine Erklärung darüber, aus welchen Gründen sie die Achte Richtlinie im
vorliegenden Fall für nicht anwendbar hielten. Die Frage habe Bedeutung weit über den Bereich der
Abfallbeseitigung hinaus, da sie das allgemeinere Problem betreffe, welche Mehrwertsteuerregelung
für komplexe Vorgänge gelte, in die Unternehmen eingeschaltet seien, die in unterschiedlichen
Mitgliedstaaten ansässig seien.
14.
Die französischen Stellen legten ihren Standpunkt bei einem Treffen vom 17. November 1992 mit
Dienststellen der Kommission sowie in einem Schreiben vom 5. Januar 1993 dar.
15.
Nach Ansicht der Kommission verstößt die Versagung der Erstattung der französischen
Mehrwertsteuer gegen die Achte Richtlinie. Die Kommission eröffnete daher das Verfahren gemäß
Artikel 169 EG-Vertrag und forderte die französische Regierung mit Schreiben vom 8. Juni 1993 auf,
sich dazu binnen zwei Monaten nach Zustellung zu äußern.
16.
In diesem Schreiben machte die Kommission vor allem geltend, für einen Vertrag, der verschiedene
Arten von Dienstleistungen, wie das Einsammeln, das Sortieren und die Beseitigung von Abfällen,
umfasse, gelte die allgemeine Regelung des Artikels 9 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie, der die
Besteuerung in dem Mitgliedstaat vorsehe, in dem der Steuerpflichtige ansässig sei; diese Regelung
gewährleiste eine einheitliche Besteuerung aller Leistungen, die der Leistungsschuldner seinem
Kunden erbringe. Da jedoch eine dieser Leistungen, nämlich die Abfallbeseitigung, eine Arbeit „an
beweglichen körperlichen Gegenständen“ im Sinne des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c der Sechsten
Richtlinie darstelle und sie von einem Subunternehmen erbracht werde, das gegenüber dem
Hauptunternehmen selbständig sei, unterliegen sie der Mehrwertsteuer in dem Mitgliedstaat, in dem
sie tatsächlich erbracht werde, im vorliegenden Fall also in Frankreich. Sei die französischen
Mehrwertsteuer somit zu Recht erhoben worden, habe das ausländische Unternehmen, das sie
gezahlt habe, nach der Achten Richtlinie einen Erstattungsanspruch in Frankreich.
17.
In ihrem Antwortschreiben vom 6. August 1993 hielten die französischen Behörden an ihrem
Standpunkt fest. Die verschiedenen Maßnahmen, die das ausländische Unternehmen durchführe,
seien Teil einer einzigen Vorgangs der Abfallbeseitigung, der erst nach Abschluss der Bearbeitung
vollendet sei. Die Selbständigkeit des Vertrages zwischen dem ausländischen Unternehmen und
seinem französischen Subunternehmen ändere daher nicht die Art der Dienstleistung; das
ausländische Unternehmen bleibe nicht mit der Steuer belastet, da es sie im Wege des
Vorsteuerabzugs wiedererlangen könne.
18.
Am 10. April 1996 richtete die Kommission an die Französische Republik eine mit Gründen
versehene Stellungnahme, in der sie an ihrer Auffassung festhielt, sie könne der französischen
Auslegung des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie nicht
folgen, und die Französische Republik aufforderte, alle Maßnahmen zu treffen, um dieser
Stellungnahme binnen zwei Monaten nach ihrer Zustellung nachzukommen.
19.
Die französischen Stellen kamen der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht nach, sondern
begründeten in ihrer Antwort vom 12. Juni 1996 ihren Standpunkt.
20.
Die Kommission reichte daher die vorliegende Klage ein.
Zur Zulässigkeit
21.
Die französische Regierung hält die Klage für teilweise unzulässig, da sie über den Fall von
Dienstleistungen auf dem Gebiet der Abfallbeseitigung hinausgehe.
22.
Soweit die Klage andere Leistungen als die Abfallbeseitigung betreffe, sei sie zum einen unzulässig,
da ihr kein bestimmter Vorwurf gegenüber der Französischen Republik zugrunde liege. Nirgendwo in
der Klageschrift sei angegeben, auf welcher rechtlichen und tatsächlichen Grundlage die Kommission
in anderen Fällen als im Bereich der Abfallbeseitigung davon ausgehe, Frankreich habe allgemein
gegen seine Verpflichtungen aus der Achten Richtlinie verstoßen.
23.
Zum anderen sei die Klage insoweit auch unzulässig, weil die Kommission während des
Vorverfahrens nicht angegeben habe, aufgrund welcher nationalen Vorschrift oder Verwaltungspraxis
sie zu der Auffassung gelangt sei, eine allgemeine Vertragsverletzung liege vor; sie habe damit gegen
den Zweck des Vorverfahrens verstoßen, das nach ständiger Rechtsprechung dem Mitgliedstaat
Gelegenheit geben solle, sowohl seinen gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen als
auch seine Verteidigung gegenüber den Rügen der Kommission wirkungsvoll geltend zu machen.
24.
Die Kommission hält die Klage für zulässig, da zum einen die Auslegung, die die französischen
Stellen anläßlich der Abfallbeseitigungsvorgänge vorgenommen hätten, die allgemeine und
grundsätzliche Frage der Anwendung des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie auf komplexe Vorgänge
betreffe, wenn ein Subunternehmen, das in einem anderen Mitgliedstaat als das Hauptunternehmen
ansässig sei, auf französischem Gebiet einen Teil der Arbeiten für Rechnung des Hauptunternehmens
ausführe. Zum anderen werde das rechtliche Gehör der französischen Regierung nicht beeinträchtigt,
denn die Vorwürfe seien im Laufe des Verfahrens weder erweitert noch geändert worden.
25.
Um über die von der französischen Regierung erhobene Einrede einschließlich des Teils, der sich
auf die Verletzung des rechtlichen Gehörs bezieht, entscheiden zu können, ist vorab festzustellen, ob
die Klage der Kommission, soweit sie über den Fall von Dienstleistungen im Bereich der
Abfallbeseitigung hinausgeht, auf einer klar bestimmten rechtlichen und tatsächlichen Grundlage
beruht. Diese Frage gehört aber zur Prüfung der Begründetheit der Klage.
26.
Die von der französischen Regierung erhobene Einrede der Unzulässigkeit ist daher im Rahmen der
Begründetheit zu prüfen.
Zur Begründetheit
27.
Die Kommission wirft der Französischen Republik vor, sie habe dadurch gegen ihre Verpflichtungen
aus der Achten Richtlinie, insbesondere aus deren Artikel 2, verstoßen, dass sie die Erstattung der
Mehrwertsteuer an nicht in Frankreich ansässige Steuerpflichtige abgelehnt habe, die diese an
Frankreich hätten entrichten müssen, wenn sie einen Teil ihrer Arbeiten an ein in Frankreich
ansässiges Subunternehmen vergeben hätten.
28.
Nach den Artikeln 1 und 2 der Achten Richtlinie hat ein Steuerpflichtiger Anspruch auf Erstattung
der in einem anderen Mitgliedstaat gezahlten Mehrwertsteuer, wenn er in diesem Staat weder den Sitz
noch eine feste Niederlassung hat und keine Gegenstände geliefert oder Dienstleistungen erbracht
hat.
29.
Die Entscheidung der Frage, ob eine Dienstleistung in einem Mitgliedstaat erbracht wurde, richtet
sich nach Artikel 9 der Sechsten Richtlinie.
30.
Nach Artikel 9 Absatz 1 gilt als Ort einer Dienstleistung der Ort, an dem der Dienstleistende den Sitz
seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine feste Niederlassung hat.
31.
Artikel 9 Absatz 2 enthält eine Reihe besonderer Anknüpfungspunkte für bestimmte Kategorien von
Leistungen. So gilt nach Buchstabe c vierter Gedankenstrich als Ort der Dienstleistungen an
beweglichen körperlichen Gegenständen der Ort, an dem diese Dienstleistungen tatsächlich bewirkt
werden.
32.
Im vorliegenden Fall ist unter den Parteien streitig, wo ein komplexer Vorgang, der verschiedene
Dienstleistungen auf dem Gebiet der Abfallbehandlung - wie das Einsammeln, das Sortieren, die
Beförderung, die Lagerung, die Bearbeitung, die Wiederverwertung und die eigentliche Beseitigung -
umfasst, angeknüpft werden muss, wenn das beauftragte Unternehmen in einem anderen
Mitgliedstaat als der Französischen Republik ansässig ist, in dem auch einige dieser Arbeiten
ausgeführt werden, während die eigentliche Abfallbeseitigung teilweise in Frankreich durch ein
Subunternehmen stattfindet. Unstreitig unterliegen die Dienstleistungen, die dieses Subunternehmen
erbringt, der französischen Mehrwertsteuer. Es stellt sich aber die Frage nach dem Ort der komplexen
Leistung insgesamt.
33.
Da Artikel 9 Absatz 2 der Sechsten Richtlinie keine besondere Anknüpfungsregel für eine solche
komplexe Dienstleistung enthält, muss nach Auffassung der Kommission der Ort, an dem eine solche
Leistung erbracht wird, der in Artikel 9 Absatz 1 vorgesehene Ort und damit der Ort sein, an dem das
Hauptunternehmen den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat.
34.
Eine komplexe Leistung umfasse mehrerer Vorgänge, die alle gleichermaßen Teil des
Abfallbeseitigungsverfahrens seien, von denen nur einige „Arbeiten an beweglichen körperlichen
Gegenständen“ im Sinne des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich der Sechsten
Richtlinie darstellten. Wenn das Hauptunternehmen sich gegenüber seinen Kunden zur Beseitigung
ihrer Abfälle verpflichte, erfasse der Vertrag alle diese Vorgänge. Dass das Hauptunternehmen sich
eines Subunternehmens aus einem anderen Mitgliedstaat bediene, um einen Teil der Leistungen,
nämlich - nach den verschiedenen Vorarbeiten wie dem Einsammeln, dem Sortieren, der Bearbeitung
und der Wiederverwertung - die endgültige Beseitigung, zu erbringen, könne die Regeln über den Ort
der Dienstleistungserbringung im Sinne des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie nicht ändern.
35.
Insbesondere könne man nicht mit der Französischen Republik einem der Vorgänge der
eigentlichen Abfallbeseitigung, der in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen stattgefunden
habe, in dem das Hauptunternehmen seinen Sitz habe, mit der Begründung Vorrang einräumen, dass
es dem Kunden hierauf entscheidend ankomme, dass dies sogar der eigentliche Zweck der
komplexen Dienstleistung sei.
36.
Die französische Regierung macht geltend, die Leistung, die das Hauptunternehmen seinem
Kunden erbringe, werde diesem pauschal als Ganzes in Rechnung gestellt und bilde in Wirklichkeit
eine Einheit, die aus einer einzigen und umfassenden „Abfallbewirtschaftung“ bestehe. Nach der
Definition des Begriffes der „Abfallbewirtschaftung“ in Artikel 1 Buchstabe d der Richtlinie 75/442/EWG
des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (ABl. L 194, S. 39) in der Fassung der Richtlinie 91/956/EWG
des Rates vom 18. März 1991 (ABl. L 78, S. 32) verstehe man unter der Bewirtschaftung „das
Einsammeln, die Beförderung, die Verwertung und die Beseitigung der Abfälle, einschließlich der
Überwachung dieser Vorgänge sowie der Überwachung der Deponien nach deren Schließung“.
37.
Außerdem sei nach der Rechtsprechung (vgl. die Rechtssachen „Leistungen auf dem Gebiet der
Werbung“, vor allem Urteil vom 17. November 1993 in der Rechtssache C-68/92,
Kommission/Frankreich, Slg. 1993, I-5881, Randnrn. 18 und 19) für die Qualifizierung einer Leistung der
mit ihr verfolgte Zweck zu berücksichtigen, d. h. im vorliegenden Fall die Beseitigung oder die
Verwertung der bei dem Kunden anfallenden Abfälle, die eine Arbeit an beweglichen körperlichen
Gegenständen darstellte. Diese Leistung gehöre daher zu den „Arbeiten an beweglichen körperlichen
Gegenständen“ im Sinne des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich der Sechsten
Richtlinie und sei somit an dem Ort zu besteuern, an dem die Beseitigung tatsächlich durchgeführt
worden sei.
38.
Eine andere Qualifizierung ergäbe sich auch nicht, wenn man, wie es die Kommission vorschlage,
auf die einzelnen Vorgänge, die im Rahmen dieser Leistung stattfänden, abstellte. Sie alle stellten
Arbeiten an beweglichen körperlichen Gegenständen dar.
39.
Selbst wenn die Französische Republik nicht systematisch sämtliche Leistungen des
Hauptunternehmens besteuere, müsse die Dienstleistung, die dieses seinem Kunden erbringe, als in
Frankreich erbracht gelten, wenn die eigentliche Abfallbeseitigung dort stattfinde; dies schließe das
Vorliegen zumindest einer der Voraussetzungen des Artikels 1 der Achten Richtlinie und somit die
Erstattung der in Frankreich gezahlten Mehrwertsteuer aus. Dass das Hauptunternehmen die
tatsächliche Durchführung des Vertrages einem Subunternehmen übertrage, ändere nichts an der
Bestimmung des Ortes der Dienstleistung, die das Hauptunternehmen erbringe.
40.
Geht es wie hier um die Qualifizierung einer komplexen Leistung als Ganzes zu
Mehrwertsteuerzwecken, so ist für die Subsumtion unter Artikel 9 Absatz 1 oder Artikel 9 Absatz 2
Buchstabe c vierter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie entscheidend, dass eine sachgerechte
und gleichmäßige Besteuerung gewährleistet ist.
41.
Zum Verhältnis zwischen den Absätzen 1 und 2 des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie hat der
Gerichtshof bereits festgestellt, dass Artikel 9 Absatz 2 besondere Tatbestände enthält, Absatz 1 aber
die allgemeine Regel ist. Durch diese Bestimmungen sollen, wie sich aus Artikel 9 Absatz 3 - wenn
auch nur für Sonderfälle - ergibt, einerseits Kompetenzkonflikte, die zu einer Doppelbesteuerung
führen könnten, andererseits die Nichtbesteuerung von Einnahmen vermieden werden. In jedem
Einzelfall stellt sich die Frage, ob einer der Tatbestände des Artikels 9 Absatz 2 einschlägig ist;
andernfalls gilt Absatz 1 (Urteil vom 26. September 1996 in der Rechtssache C-327/94, Dudda, Slg.
1996, I-4595, Randnrn. 20 und 21).
42.
Daher ist zunächst zu untersuchen, ob die hier in Rede stehende komplexe Leistung, wie die
französiche Regierung geltend macht, unter den Tatbestand des Artikels 9 Absatz 2 Buchstabe c
vierter Gedankenstrich der Sechsten Richtlinie für Dienstleistungen fällt, bei denen es um Arbeiten an
beweglichen körperlichen Gegenständen geht. Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung dieser
Leistung.
43.
Nach den Akten wird die fragliche Leistung von Unternehmen erbracht, die sich vertraglich
gegenüber Gebietskörperschaften, Industieunternehmen und anderen öffentlichen oder privaten
Stellen verpflichteten, Abfälle und Haushaltsmüll einzusammeln, zu sortieren, zu befördern sowie zu
beseitigen. Im Rahmen dieser Verträge müssen diese Unternehmen die Einsammlung planen, die
Sammelstellen festlegen, die Beförderung der Abfälle organisieren, die Abfälle lagern, die
Sortiervorgänge organisieren, die Art der Beseitigung der sortierten Abfälle auswählen, die einzelnen
Abfallarten zu verschiedenen Deponien befördern, einen Teil zerstören, bestimmte Abfälle wieder
verwerten und gegebenenfalls die Leistungen anderer Unternehmen in Anspruch nehmen, die
insbesondere auf die Beseitigung bestimmter Abfälle spezialisiert sind.
44.
Den Akten lässt sich weiter entnehmen, dass die Hauptunternehmen in einem anderen
Mitgliedstaat als der Französischen Republik ansässig sind. Das gleiche gilt für ihre Kunden. Zudem
werden sämtliche Vorgänge der komplexen Leistung mit Ausnahme der Beseitigung bestimmter
Abfallarten, die spezialisierten Subunternehmen in Frankreich übertragen ist, in dem anderen
Mitgliedstaat ausgeführt. In diesem Staat setzen die Hauptunternehmen die ihnen zur Verfügung
stehenden Mittel und ihre Kenntnisse ein, um die Verträge erfolgreich zu erfüllen.
45.
Außerdem berechnen die Hauptunternehmen ihren Kunden den Preis für die komplexe Leistung
insgesamt einschließlich des Teils, den sie an ein französisches Subunternehmen vergeben haben.
Dieser Preis umfasst die Mehrwertsteuer, die sie für die gesamte Leistung zahlen müssen.
46.
Fiele eine solche komplexe Leistung unter Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich
der Sechsten Richtlinie, so wäre sie für Mehrwertsteuerzwecke dem Recht des Mitgliedstaats
unterworfen, in dem sie tatsächlich ausgeführt wird. Angesichts der Komplexität dieser Leistung hätte
das immer dann, wenn eine Teilleistung in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen des Sitzes
desHauptunternehmens erbracht wird, eine Ungewissheit über den Mehrwertsteuersatz zur Folge, den
das Hauptunternehmen seinen Kunden berechnen muss.
47.
Aus demselben Grund könnte die Anwendung dieses Tatbestands zu Zuständigkeitskonflikten
zwischen den Mitgliedstaaten führen und liefe damit dem Zweck des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie
einschließlich seines Absatzes 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich zuwider.
48.
Daher ist eine solche Leistung nicht unter Artikel 9 Absatz 2 Buchstabe c vierter Gedankenstrich
der Sechsten Richtlinie zu subsumieren. Dabei kann dahinstehen, ob die eigentliche Abfallbeseitigung
eine Arbeit an beweglichen körperlichen Gegenständen im Sinne dieser Bestimmung darstellt.
49.
Die allgemeine Regel in Artikel 9 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie erlaubt demgegenüber eine
sichere, einfache und praktikable Subsumtion solcher Leistungen nach dem Ort, an dem der
Leistungsschuldner den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit oder eine ständige Niederlassung hat,
von der aus die Dienstleistung erbracht wird. Im Hinblick auf die in den Randnummern 43 bis 45 dieses
Urteils genannten Gesichtspunkte erlaubt diese Bestimmung eine sachgerechte und gleichmäßige
Besteuerung der komplexen Leistung als Ganzes und vermeidet Zuständigkeitskonflikte zwischen den
Mitgliedstaaten.
50.
Die fragliche komplexe Leistung fällt daher unter Artikel 9 Absatz 1 der Sechsten Richtlinie.
51.
Die französische Regierung wendet ein, diese Auslegung könne in bestimmten Fällen zu einer
Nichtbesteuerung führen. Sei das Hauptunternehmen beispielsweise außerhalb der Gemeinschaft
ansässig, könne die Dienstleistung, die es dem Kunden erbringe, in der Gemeinschaft nicht besteuert
werden, obwohl die Leistung dort tatsächlich von einem Subunternehmen ausgeführt und der Dienst
dort tatsächlich erbracht werde, d. h. dass die Abfälle tatsächlich in der Gemeinschaft beseitigt oder
verwertet werden.
52.
Das Vorbringen der französichen Regierung steht der Feststellung in Randnummer 50 nicht
entgegen. Es betrifft einen Fall, der schon den räumlichen Geltungsbereich des Mehrwertsteuerrechts
der Gemeinschaft überschreitet, und kann daher die Auslegung des Artikels 9 der Sechsten Richtlinie
nicht beeinflussen.
53.
Wenn das Hauptunternehmen als Partei eines Vertrages über eine komplexe Leistung auf dem
Gebiet der Abfallbeseitigung seinen Sitz oder eine feste Niederlassung in einem anderen Mitgliedstaat
als der Französischen Republik hat, gilt diese Leistung nach alledem als in diesem anderen Staat
erbracht, selbst wenn es die eigentliche Abfallbeseitigung einem in Frankreich
mehrwertsteuerpflichtigen Subunternehmen überträgt und dafür die entsprechende Mehrwertsteuer
entrichtet. Da die Voraussetzungen der Achten Richtlinie für die Erstattung der Mehrwertsteuer
somiterfüllt sind, kann das Hauptunternehmen gemäß Artikel 2 der Achten Richtlinie die Erstattung
der in Frankreich gezahlten Mehrwertsteuer verlangen.
54.
Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Achten Richtlinie,
insbesondere aus deren Artikel 2, verstoßen, dass sie die Erstattung der Mehrwertsteuer an in einem
anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige ablehnte, die diese als Hauptunternehmen im
Rahmen eines Vertrages über eine komplexe Leistung auf dem Gebiet der Abfallbeseitigung an den
französischen Staat entrichten mussten, wenn sie einen Teil der in diesem Vertrag bedungenen
Arbeiten an ein in Frankreich ansässiges mehrwertsteuerpflichtiges Subunternehmen vergeben
hatten.
55.
Zu prüfen ist schließlich die Einrede der französischen Regierung, die Klage sei unzulässig, soweit
sie über Leistungen auf dem Gebiet der Abfallbeseitigung hinausgehe.
56.
Hierzu lässt sich den Akten entnehmen, dass die Kommission ihre mit Gründen versehene
Stellungnahme, die sie an die französischen Behörden gerichtet hat, allgemein abgefasst und an
dieser Formulierung in ihrer Klageschrift festgehalten hat. Das gesamte Vorbringen der Kommission
sowohl während des Vorverfahrens als auch in der Klageschrift bezieht sich jedoch allein auf
Leistungen auf dem Gebiet der Abfallbeseitigung; die Kommission hat weder ein rechtliches noch ein
tatsächliches Argument vorgebracht, aus dem sich ein Verstoß der französischen Behörden gegen
ihre Verpflichtungen aus der Achten Richtlinie in anderen Fällen als der Abfallbeseitigung ergeben
kann.
57.
Die Klage ist daher insoweit abzuweisen.
Kosten
58.
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der
Kosten zu verurteilen. Da die Französische Republik mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr
entsprechend dem Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Achten
Richtlinie 79/1072/EWG des Rates vom 6. Dezember 1979 zur Harmonisierung der
Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über dieUmsatzsteuern - Verfahren zur Erstattung
der Mehrwertsteuer an nicht im Inland ansässige Steuerpflichtige, insbesondere aus
deren Artikel 2, verstoßen, dass sie die Erstattung der Mehrwertsteuer an in einem
anderen Mitgliedstaat ansässige Steuerpflichtige ablehnte, die diese als
Hauptunternehmen im Rahmen eines Vertrages über eine komplexe Leistung auf dem
Gebiet der Abfallbeseitigung an den französischen Staat entrichten mussten, wenn sie
einen Teil der in diesem Vertrag bedungenen Arbeiten an ein in Frankreich ansässiges
mehrwertsteuerpflichtiges Subunternehmen vergeben hatten.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Die Französische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.
Gulmann
Skouris
Puissochet
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 25. Januar 2001.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
C. Gulmann
Verfahrenssprache: Französisch.