Urteil des EuGH vom 05.05.1998

EuGH: kommission, russische föderation, gericht erster instanz, juristische person, klage auf nichtigerklärung, europäische wirtschaftsgemeinschaft, nichtigkeitsklage, genehmigung, international

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
5. Mai 1998
„Nothilfe der Gemeinschaft für die Staaten der ehemaligen Sowjetunion — Darlehen —
Dokumentenakkreditiv — Nichtigkeitsklage — Zulässigkeit — Unmittelbares Betroffensein“
In der Rechtssache C-391/96 P
Compagnie Continentale (France) SA
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Patrick Chabrier, Paris, Zustellungsanschrift: Kanzlei des
Rechtsanwalts Ernest Arendt, 8—10, rue Mathias Hardt, Luxemburg,
Rechtsmittelführerin,
betreffend ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften
(Dritte Kammer) vom 24. September 1996 in der Rechtssache T-494/93 (Compagnie
Continentale/Kommission, Slg. 1996, II-1157) wegen Aufhebung dieses Urteils,
anderer Verfahrensbeteiligter:
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
durch Nicholas Khan, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de
la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
erläßt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann, H.
Ragnemalm, M. Wathelet (Berichterstatter) und R. Schintgen sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de
Almeida, P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann, L. Sevón und K. M.
Ioannou,
Generalanwalt: A. La Pergola
Kanzler: D. Louterman-Hubeau, Hauptverwaltungsrätin
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Compagnie Continentale (France) SA in der Sitzung vom 8. Oktober 1997,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Dezember 1997,
folgendes
Urteil
1.
Die Compagnie Continentale (France) SA (im folgenden: Rechtsmittelführerin) hat mit
Rechtsmittelschrift, die am 4. Dezember 1996 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist,
gemäß Artikel 49 der EG-Satzung des Gerichtshofes ein Rechtsmittel gegen das Urteil des Gerichts
erster Instanz vom 24. September 1996 in der Rechtssache T-494/93 (Compagnie
Continentale/Kommission, Slg. 1996, II-1157; im folgenden: angefochtenes Urteil) eingelegt, mit dem
das Gericht ihre Klage auf Nichtigerklärung der an die Vnesheconombank gerichteten Entscheidung
der Kommission vom 1. April 1993 abgewiesen hat.
2.
Der Rat erließ am 16. Dezember 1991 den Beschluß 91/658/EWG über ein mittelfristiges Darlehen
für die Sowjetunion und ihre Republiken (ABl. L 362, S. 89).
3.
Artikel 1 Absatz 1 lautet:
„Die Gemeinschaft gewährt der UdSSR und deren Republiken ein mittelfristiges Darlehen über einen
Kapitalbetrag von höchstens 1 250 Millionen ECU in drei aufeinanderfolgenden Tranchen mit einer
Höchstlaufzeit von drei Jahren, um die
Einfuhr von Agrarerzeugnissen und Nahrungsmitteln sowie Waren des medizinischen Bedarfs ... zu
ermöglichen.“
4.
Artikel 2 des Beschlusses 91/658 bestimmt zu diesem Zweck:
„[D]ie Kommission [wird] ermächtigt, im Namen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft die
erforderlichen Gelder aufzunehmen, die der UdSSR und deren Republiken in Form eines Darlehens zur
Verfügung gestellt werden.“
5.
Artikel 3 lautet:
„Das Darlehen nach Artikel 2 wird von der Kommission verwaltet.“
6.
Ferner heißt es in Artikel 4:
„(1) Die Kommission wird ermächtigt, in Abstimmung mit den Behörden der UdSSR und ihrer
Republiken ... die wirtschaftlichen und finanziellen Bedingungen des Darlehens, die Regeln für die
Bereitstellung der Gelder und die erforderlichen Garantien für die Darlehenstilgung aufzustellen.
...
(3) Die Einfuhr der Erzeugnisse, die durch das Darlehen finanziert wird, erfolgt zu Weltmarktpreisen.
Der freie Wettbewerb muß für den Kauf und die Lieferung der Erzeugnisse gewährleistet sein, die den
international anerkannten Qualitätsnormen entsprechen müssen.“
7.
Am 9. Juli 1992 erließ die Kommission die Verordnung (EWG) Nr. 1897/92 mit den Modalitäten für die
Abwicklung eines mittelfristigen Darlehens für die Sowjetunion und ihre Republiken aufgrund des
Beschlusses 91/658/EWG des Rates (ABl. L 191, S. 22).
8.
In Artikel 2 der Verordnung heißt es:
„Die Darlehen werden auf der Grundlage von Abkommen zwischen den Republiken und der Kommission
gewährt, die als Bedingungen für die Auszahlung der Darlehen die in Artikel 3 bis 7 festgelegten
Bestimmungen enthalten.“
9.
Artikel 4 der Verordnung Nr. 1897/92 lautet:
„(1) Die Darlehen dienen nur zur Finanzierung von Käufen und Lieferungen im Rahmen von
Verträgen, vorausgesetzt die Kommission hat anerkannt, daß diese Verträge dem Beschluß
91/658/EWG und den Abkommen gemäß Artikel 2 entsprechen.
(2) Die Republiken oder die von ihnen bezeichneten Finanzmakler legen der Kommission die Verträge
zur Anerkennung vor.“
10.
Artikel 5 stellt die Bedingungen auf, an die die Anerkennung gemäß Artikel 4 gebunden ist. Zu
diesen Bedingungen gehören die beiden folgenden Punkte:
„1. Die Auftragsvergabe erfolgt unter den Bedingungen des freien Wettbewerbs ...
2. Der Vertrag bietet die günstigsten Preisbedingungen, die normalerweise auf dem Weltmarkt
erzielt werden.“
11.
Am 9. Dezember 1992 schlossen die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, die Russische
Föderation als Nachfolgerin der UdSSR und deren Finanzmakler, die Vnesheconombank (im folgenden:
VEB), gemäß der Verordnung Nr. 1897/92 ein „Memorandum of Understanding“ (im folgenden:
Rahmenvereinbarung), aufgrund dessen die Europäische Gemeinschaft der Russischen Föderation
das im Beschluß 91/658 vorgesehene Darlehen gewähren sollte. So war vorgesehen, daß die
Gemeinschaft als Darlehensgeber der VEB als Darlehensnehmer, gesichert durch die Russische
Föderation, ein mittelfristiges Darlehen von 349 Millionen ECU als Darlehensbetrag für höchstens drei
Jahre gewähren sollte.
12.
Nummer 6 des Rahmenabkommens sah vor:
„Der Darlehensbetrag abzüglich der Provisionen und der der EWG entstandenen Kosten ist dem
Darlehensnehmer auszuzahlen und entsprechend den Bestimmungen und Bedingungen des
Darlehensvertrages ausschließlich zur Deckung unwiderruflicher Dokumentenakkreditive zu
verwenden, die der Darlehensnehmer in der international üblichen Form gemäß Lieferverträgen
eröffnet hat, vorbehaltlich der Anerkennung dieser Verträge und Akkreditive durch die Kommission der
Europäischen Gemeinschaften als dem Beschluß des Rates vom 16. Dezember 1991 und der
vorliegenden Vereinbarung entsprechend.“
13.
Nummer 7 enthält die Voraussetzungen, von denen die Anerkennung der Konformität des Vertrages
abhängig war. Insbesondere heißt es dort, daß die Lieferanten von den zu diesem Zweck von der
Regierung der Russischen Föderation benannten russischen Einrichtungen ausgewählt werden
sollten.
14.
Am 9. Dezember 1992 schlossen die Kommission und die VEB den in der Verordnung Nr. 1897/92
und der Rahmenvereinbarung vorgesehenen Darlehensvertrag (im folgenden: Darlehensvertrag).
Dieser Vertrag legt genau den Mechanismus der Auszahlung des Darlehens fest. Er sieht eine
Möglichkeit vor, auf die im Ziehungszeitraum (15. Januar 1993 bis 15. Juli 1993) zurückgegriffen
werden kann und mit der bezweckt ist, die für die Bezahlung von Lieferungen genehmigten Beträge
vorzuschießen.
15.
Am 15. Januar 1993 schloß die Kommission gemäß Artikel 2 des Beschlusses 91/658 als
Darlehensgeber im Namen der Gemeinschaft einen Darlehensvertrag mit einem vom Crédit Lyonnais
geführten Bankenkonsortium.
Sachverhalt und Verfahren vor dem Gericht
16.
Das Gericht hat im angefochtenen Urteil folgendes festgestellt:
„8 Die Klägerin, eine auf den internationalen Handel mit landwirtschaftlichen Rohstoffen
spezialisierte Gesellschaft, wurde zusammen mit anderen Unternehmen im Rahmen einer von der
Firma Exportkhleb, der von der Russischen Föderation mit den Verhandlungen über den Ankauf von
Weizen beauftragten staatlichen Gesellschaft, veranstalteten informellen Ausschreibung
angesprochen.
9 Am 27. November 1992 schloß die Klägerin mit Exportkhleb zwei Verträge über den Verkauf von
Weizen. Mit dem ersten verpflichtete sie sich zur Lieferung von 500 000 t Müllereiweizen, der in bezug
auf 50 000 t später aufgehoben wurde, zum Preis von 140,40 USD/t cif frei Ostsee—Außenhafen. Mit
dem zweiten verpflichtete sie sich, 20 000 t Hartweizen zum Preis von 145 USD/t cif frei Schwarzmeer—
Außenhafen zu liefern. Der zweite Vertrag wurde am 2. Dezember 1992 im Hinblick auf die Lieferung
von zusätzlichen 15 000 t Hartweizen zum Preis von 148 USD/t cif frei Schwarzmeer—Außenhafen
geändert. Alle diese Lieferungen sollten vor dem 28. Februar 1993 verladen werden.
10 Nach Unterzeichnung des Darlehensvertrages ... beantragte die VEB bei der Kommission die
Genehmigung der zwischen Exportkhleb und den Ausfuhrunternehmen geschlossenen Verträge, zu
denen der mit der Klägerin geschlossene Vertrag gehörte.
11 Nachdem die Kommission von der Klägerin bestimmte unerläßliche zusätzliche Auskünfte erhalten
hatte, die insbesondere den Wechselkurs ECU/USD betrafen, der in dem Vertrag nicht festgesetzt
worden war, erteilte sie schließlich am 27. Januar 1993 ihre Genehmigung in Form eines an die VEB
gerichteten Bestätigungsschreibens.
12 Nach dem Vorbringen der Klägerin traten die Akkreditive erst am 16. Februar 1993 für den
Hartweizen und am 25. Februar 1993 für den Müllereiweizen, also einige Tage vor dem 28. Februar
1993, dem Ablauf des in den Verträgen vorgesehenen Verladezeitraums, in Kraft.
13 Die Verträge wurden nur teilweise erfüllt. Zwar wurde ein bedeutender Teil der Ware geliefert
oder verladen, nach dem Vorbringen der Klägerin
zeichnete sich jedoch klar ab, daß nicht die gesamte Ware vor dem 28. Februar 1993 würde geliefert
werden können.
14 Die Firma Exportkhleb berief am 19. Februar 1993 alle Exporteure zu einer Sitzung in Brüssel ein,
die am 22. und 23. Februar 1993 abgehalten wurde. Im Laufe dieser Sitzung verlangte Exportkhleb von
den Exporteuren neue Preisangebote für die Lieferung der von ihr so genannten .vorhersehbaren
Restmenge', d. h. der Mengen, bei denen vernünftigerweise vorhersehbar war, daß sie nicht vor dem
28. Februar 1993 geliefert würden. Nach dem Vorbringen der Klägerin stieg der Weizenpreis von
November 1992, dem Zeitpunkt des Abschlusses der Kaufverträge, bis zum Februar 1993, dem
Zeitpunkt der neuen Verhandlungen, erheblich an.
15 In Verhandlungen, in denen sich die Unternehmen dem niedrigsten Gebot von 155 USD/t
anpassen mußten, wurde eine Einigung zwischen Exportkhleb und ihren Vertragspartnern über die
Aufteilung der von den einzelnen Unternehmen zu liefernden neuen Mengen erzielt. Die Compagnie
Continentale wurde beauftragt, 300 000 t Müllereiweizen, und zwar 120 000 t zum ursprünglich
vereinbarten Preis und 180 000 t zum Preis von 155 USD, sowie 20 000 t Hartweizen oder
Müllereiweizen zum Preis von 155 USD zu liefern. In derselben formlosen Einigung war vorgesehen, daß
der Verladezeitraum am 30. April 1993 abgeschlossen sein sollte.
16 Nach dem Vorbringen der Klägerin wurde wegen der Dringlichkeit, die sich aus den
Schwierigkeiten bei der Nahrungsmittelversorgung in Rußland ergab, und in dem Bestreben, die
Umständlichkeit des Verfahrens der Genehmigung und der Bereitstellung der Kredite zu vermeiden,
auf Verlangen von Exportkhleb beschlossen, diese Änderungen durch einfache Zusätze zu den
ursprünglichen Verträgen formell niederzulegen, die der Einfachheit halber mit dem Datum 23.
Februar 1993, dem Tag der Sitzung in Brüssel, versehen wurden. Bei der Abfassung der Zusätze
wurde vereinbart, die zu liefernde Menge Weizen zu verringern, um — so die Klägerin — zu verhindern,
daß der neue Gesamtpreis höher als der ursprünglich vereinbarte Gesamtpreis würde.
17 Am 9. März 1993 teilte Exportkhleb der Kommission mit, daß die mit fünf ihrer Lieferanten
geschlossenen Verträge geändert worden seien und daß die ausstehenden Lieferungen nunmehr zum
Preis von 155 USD/t bei einem ECU-Kurs von 1,17418 USD (also zum Preis von 132 ECU/t) erfolgen
würden.
18 Am 12. März 1993 wies der Leiter der Generaldirektion Landwirtschaft (GD VI), Herr Legras,
Exportkhleb darauf hin, daß die Kommission, da der Höchstwert dieser Verträge bereits durch das
Bestätigungsschreiben der Kommission festgesetzt worden sei und sämtliche für Weizen verfügbaren
Kredite bereits vergeben seien, einem solchen Antrag nur stattgeben könne,
wenn der Gesamtwert der Verträge beibehalten würde, was durch eine entsprechende Kürzung der
noch zu liefernden Mengen erreicht werden könne. Der Antrag auf Genehmigung der Änderungen
könne von der Kommission nur berücksichtigt werden, wenn er von der VEB offiziell gestellt werde.
19 Nach Ansicht der Klägerin wurde dieses Schreiben als Bestätigung des grundsätzlichen
Einverständnisses der Kommission ausgelegt, vorbehaltlich einer Prüfung für die formale
Genehmigung, sobald die Akten von der VEB übersandt würden. Daher habe sie die Verladung der für
Rußland bestimmten Weizenladungen fortgesetzt.
20 Die Unterlagen mit den neuen Angeboten und den Vertragsänderungen seien der Kommission
von der VEB offiziell am 22. März 1993 übersandt worden. Am 1. April 1993 habe es die Kommission in
einem Schreiben des für Agrarfragen zuständigen Kommissionsmitglieds an die VEB abgelehnt, die
Vertragsänderungen zu genehmigen.
21 Der Inhalt des Schreibens vom 1. April 1993 läßt sich wie folgt zusammenfassen. Das
Kommissionsmitglied R. Steichen teilte mit, daß die Kommission nach Prüfung der Änderungen der
zwischen Exportkhleb und bestimmten Lieferanten geschlossenen Verträge diejenigen anerkennen
könne, die sich auf den Aufschub der Fälligkeit von Lieferung und Zahlung bezögen. Hingegen sei .der
Umfang der Preiserhöhungen ... so groß, daß wir sie nicht als eine notwendige Anpassung betrachten
können, sondern als eine wesentliche Änderung der ursprünglich ausgehandelten Verträge'. Er fuhr
fort: .Das gegenwärtige Niveau der Preise auf dem Weltmarkt (Ende März 1993) unterscheidet sich
nämlich nicht signifikant von demjenigen in dem Zeitpunkt, zu dem die Preise ursprünglich vereinbart
wurden (Ende November 1992).' Herr Steichen erinnerte daran, daß die Notwendigkeit, zum einen den
freien Wettbewerb zwischen potentiellen Lieferanten und zum anderen möglichst günstige
Kaufbedingungen zu gewährleisten, einer der wichtigsten Faktoren für die Genehmigung von
Verträgen durch die Kommission sei. Er stellte fest, daß im vorliegenden Fall die Änderungen
unmittelbar mit den betroffenen Unternehmen vereinbart worden seien, ohne daß diese dem
Wettbewerb mit anderen Lieferanten ausgesetzt worden seien. Sodann schloß er: .Die Kommission
kann derart wichtige Änderungen, die durch einfache Zusätze zu den bestehenden Verträgen
vorgenommen werden, nicht genehmigen.' Er erklärte sich bereit, die Änderungen in bezug auf den
Aufschub von Lieferungen und Zahlungen zu genehmigen, vorbehaltlich der Einhaltung des üblichen
Verfahrens. Hingegen führte er aus: .Wenn es für notwendig erachtet wurde, die Preise oder die
Mengen zu ändern, so hätten neue Verträge ausgehandelt werden müssen, die der Kommission in
Anwendung des üblichen vollständigen
Verfahrens (einschließlich der Einreichung mindestens dreier Angebote) zur Genehmigung hätten
vorgelegt werden müssen.'
22 Am 5. April 1993 erhielt die Klägerin ein Fernschreiben von Exportkhleb, mit dem sie von der
ablehnenden Entscheidung der Kommission unterrichtet wurde und in dem auszugsweise aus dem
Herrn Legras zugeschriebenen Brief vom 1. April 1993 zitiert wurde. Am 20. April erhielt sie von
Exportkhleb den vollständigen Text des in Rede stehenden Schreibens.
...
23 Unter diesen Umständen hat die Klägerin mit Klageschrift, die am 22. Juni 1993 bei der Kanzlei
des Gerichtshofes eingegangen ist, die vorliegende Klage erhoben ...
24 Der Gerichtshof hat das Verfahren mit Beschluß vom 27. September 1993 gemäß dem Beschluß
93/350/Euratom, EGKS, EWG des Rates vom 8. Juni 1993 zur Änderung des Beschlusses 88/591/EGKS,
EWG, Euratom zur Errichtung eines Gerichts erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften (ABl. L
144, S. 21) an das Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften verwiesen.
25 ... Die Kommission hat mit Schriftsatz, der am 7. Dezember 1993 bei der Kanzlei eingegangen ist,
eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben.“
17.
Aus dem angefochtenen Urteil geht hervor, daß die Rechtsmittelführerin im Verfahren vor dem
Gericht beantragt hat,
„— die Entscheidung der Kommission vom 1. April 1993, mit der die Anerkennung der am 23.
Februar 1993 geschlossenen Vereinbarungen und der im Zusammenhang damit stehenden
Änderungen der Akkreditive abgelehnt wurde, für nichtig zu erklären;
— die Gesellschaft in ihre Rechte wiedereinzusetzen, von der Bank Crédit Lyonnais den Saldo für die
seit dem 28. Februar 1993 gelieferten Mengen Weizen ausgezahlt zu erhalten, der sich aus dem
Unterschied zwischen dem ursprünglich vereinbarten Preis und den später vereinbarten Preisen
ergibt; hilfsweise behält sich die Klägerin ausdrücklich alle Rechte vor, erforderlichenfalls aus
außervertraglicher Haftung vorzugehen, um Ersatz des ihr entstandenen Schadens zu erlangen;
— der Kommission die Kosten aufzuerlegen“ (Randnr. 28 des angefochtenen Urteils).
18.
Die Kommission hat eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben, mit der sie beantragt hat,
„— die Klage für unzulässig zu erklären, da sie nicht innerhalb der Klagefrist erhoben worden ist;
— die Nichtigkeitsklage für unzulässig zu erklären, da die Klägerin nicht unmittelbar betroffen ist;
— die inzident erhobene Klage für unzulässig zu erklären;
— der Klägerin die Kosten aufzuerlegen“ (Randnr. 29 des angefochtenen Urteils).
Das angefochtene Urteil
19.
Das Gericht hat die Nichtigkeitsklage gegen die Entscheidung der Kommission vom 1. April 1993 (im
folgenden: streitige Entscheidung) aus folgenden Gründen abgewiesen:
„47 Nach Artikel 173 Absatz 4 des Vertrages kann jede natürliche oder juristische Person gegen
diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als eine an eine andere Person gerichtete
Entscheidung ergangen sind, sie unmittelbar und individuell betreffen.
48 Es ist daher zu prüfen, ob die Klägerin von dem Schreiben, das die Kommission am 1. April 1993
an die VEB richtete, unmittelbar und individuell betroffen ist.
49 Das Gericht stellt vorab fest, daß die Kommission nicht bestritten hat, daß die Klägerin individuell
betroffen sei. Aufgrund der Umstände des vorliegenden Falles ist das Gericht der Ansicht, daß nur die
Frage zu prüfen ist, ob die Klägerin von der streitigen Entscheidung unmittelbar betroffen ist.
50 Hierzu ist festzustellen, daß die Regelungen der Gemeinschaft und die zwischen der
Gemeinschaft und der Russischen Föderation geschlossenen Abkommen eine
Zuständigkeitsverteilung zwischen der Kommission und dem von der Russischen Föderation mit dem
Ankauf von Weizen beauftragten Bevollmächtigten vorsehen. Es ist nämlich Sache dieses
Bevollmächtigten, im vorliegenden Fall der Exportkhleb, im Wege der Ausschreibung den
Vertragspartner auszuwählen, die Vertragsbedingungen auszuhandeln und den Vertrag zu schließen.
Der Kommission ist dabei nur die Rolle zugewiesen, zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die
Gemeinschaftsfinanzierung erfüllt sind, und gegebenenfalls im Hinblick auf
die Auszahlung des Darlehens zu bestätigen, daß die Verträge dem Beschluß 91/658 und den mit der
Russischen Föderation geschlossenen Abkommen entsprechen. Es ist daher nicht Aufgabe der
Kommission, den Handelsvertrag anhand anderer als dieser Kriterien zu beurteilen.
51 Somit unterhält ein Unternehmen, an das ein Auftrag vergeben wird, rechtliche Beziehungen nur
mit seinem Vertragspartner, der Exportkhleb, die von der Russischen Föderation zum Kauf von Weizen
bevollmächtigt ist. Die Kommission unterhält rechtliche Beziehungen nur zum Darlehensnehmer, d. h.
dem Finanzmakler der Russischen Föderation, der VEB, die ihr die Handelsverträge zum Zweck der
Anerkennung der Konformität übersendet und Adressat der entsprechenden Entscheidung der
Kommission ist.
52 Daher berührt das Handeln der Kommission nicht die Rechtsgültigkeit des zwischen der Klägerin
und Exportkhleb geschlossenen Handelsvertrags und ändert den Inhalt des Vertrages insbesondere
in bezug auf die zwischen den Parteien vereinbarten Preise nicht. Somit bleibt die von den Parteien am
23. Februar 1993 vorgenommene Änderung ihres Vertrages vom 28. November 1992 unabhängig von
der Entscheidung der Kommission, die Übereinstimmung der Vereinbarungen mit den anwendbaren
Bestimmungen nicht anzuerkennen, mit dem zwischen den Parteien vereinbarten Inhalt wirksam.
53 Der Umstand, daß die Kommission Kontakte zur Klägerin oder zu Exportkhleb unterhielt, kann an
dieser Beurteilung der Rechte und rechtlichen Pflichten nichts ändern, die sich für jede Partei aus den
anwendbaren Regelungen und Vertragsbestimmungen ergeben. Im Hinblick auf die Zulässigkeit der
Nichtigkeitsklage ist überdies festzustellen, daß der Schriftwechsel, auf den sich die Klägerin beruft,
nicht belegt, daß die Kommission etwa ihre Befugnisse überschritten hätte. So hatten die angeführten
Kontakte zwischen der Kommission und der Klägerin im Januar 1993 ausschließlich den Zweck, zu
erreichen, daß die Parteien in ihren Vertrag eine für die Anerkennung der Konformität unerläßliche
Bedingung aufnehmen; es blieb jedoch den Parteien überlassen, ihren Vertrag zu ändern, wenn sie in
den Genuß der vorgesehenen Finanzierung kommen wollten. Außerdem hat der Umstand, daß die
Kommission eine Kopie des an die VEB gerichteten Bestätigungsschreibens an die Klägerin gesandt
hat, keinen Einfluß auf die rechtliche Bedeutung dieses Schreibens.
54 Zwar kann die VEB, wenn sie von der Kommission eine Entscheidung erhält, mit der die
Unvereinbarkeit des Vertrages mit den anwendbaren Bestimmungen festgestellt wird, kein
Dokumentenakkreditiv ausstellen, für das die Garantie der Gemeinschaft erteilt werden kann; doch
berührt diese Entscheidung weder die Gültigkeit des zwischen der Klägerin und Exportkhleb
geschlossenen Vertrages noch dessen Inhalt. In diesem
Zusammenhang sei darauf hingewiesen, daß die Entscheidung der Kommission nicht eine
Entscheidung der nationalen russischen Behörden ersetzt, da die Kommission nur für die Prüfung der
Konformität der Verträge im Hinblick auf die Gemeinschaftsfinanzierung zuständig ist.
55 Schließlich kann sich die Klägerin auch nicht, um darzutun, daß sie von der streitigen
Entscheidung unmittelbar betroffen ist, auf den Umstand berufen, daß die Handelsverträge eine
aufschiebende Bestimmung enthalten, nach der die Erfüllung des Vertrages und die Zahlung des
Preises davon abhängig sein soll, daß die Kommission die Erfüllung der Voraussetzungen für die
Auszahlung des Gemeinschaftsdarlehens bestätigt. Durch eine solche Bestimmung wollen die
Vertragsparteien nämlich einen Zusammenhang zwischen dem von ihnen geschlossenen Vertrag und
einem zukünftigen ungewissen Ereignis in dem Sinn herstellen, daß die Wirksamkeit ihres Vertrages
vom Eintritt dieses Ereignisses abhängen soll. Die Zulässigkeit einer Klage gemäß Artikel 173 Absatz 4
des Vertrages kann aber nicht vom Willen der Parteien abhängig gemacht werden. Das Vorbringen
der Klägerin ist daher zurückzuweisen.
56 Schließlich ist das Gericht der Ansicht, daß das von der Klägerin geltend gemachte schutzwürdige
Vertrauen darauf, daß die Kommission die Vertragsänderung bestätigen würde, die Begründetheit der
Klage betrifft und daher die Beurteilung der Zulässigkeit der Klage nicht berührt.
57 Aufgrund dieser Umstände ist das Gericht der Ansicht, daß die Klägerin von der an die VEB
gerichteten Entscheidung der Kommission vom 1. April 1993 nicht im Sinne von Artikel 173 Absatz 4
des Vertrages unmittelbar betroffen ist. Daher ist die gegen diese Entscheidung gerichtete
Nichtigkeitsklage für unzulässig zu erklären.“
20.
Zum Antrag der Rechtsmittelführerin auf Wiedereinsetzung in ihre Rechte gegenüber einem Dritten
hat das Gericht ausgeführt, daß der Gemeinschaftsrichter im Rahmen eines auf Artikel 173 des
Vertrages gestützten Verfahrens wegen Nichtigerklärung lediglich eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit
der angefochtenen Maßnahme vornehme und daß dieser Antrag daher für unzulässig zu erklären sei
(Randnr. 59 des angefochtenen Urteils).
21.
Das Gericht hat schließlich festgestellt, daß die Rüge der Verspätetheit der Klageerhebung nicht
geprüft zu werden brauche (Randnr. 60 des angefochtenen Urteils).
22.
Nach allem hat das Gericht die Klage als unzulässig abgewiesen und der Rechtsmittelführerin die
Kosten des Verfahrens auferlegt.
Das Rechtsmittel
23.
Die Rechtsmittelführerin stützt ihr Rechtsmittel auf zwei Gründe, einen Verstoß gegen Artikel 173
Absatz 4 des Vertrages und einen Widerspruch in der Begründung des angefochtenen Urteils.
24.
Der erste Rechtsmittelgrund gliedert sich in drei Teile.
25.
Zum einen rügt die Rechtsmittelführerin, daß das Gericht mit der Begründung, daß ein
„Unternehmen, an das ein Auftrag vergeben wird, rechtliche Beziehungen nur mit seinem
Vertragspartner, der Exportkhleb, [unterhält]“ und daß die „Kommission ... rechtliche Beziehungen nur
zum Darlehensnehmer, d. h. dem Finanzmakler der Russischen Föderation, der VEB, [unterhält]“
(Randnr. 51 des angefochtenen Urteils), die Ansicht vertreten habe, sie sei nicht unmittelbar
betroffen.
26.
Doch werde das Vorliegen einer individuellen und unmittelbaren Beziehung nach der
Rechtsprechung weder durch die Zwischenschaltung eines Staates (oder seiner Bediensteten)
(Urteile vom 1. Juli 1965 in den Rechtssachen 106/63 und 107/63, Töpfer und Getreide-Import, Slg.
1965, 578, und vom 13. Mai 1971 in den Rechtssachen 41/70 bis 44/70, International Fruit Company
u. a./Kommission, Slg. 1971, 411) noch durch das Fehlen rechtlicher Beziehungen zwischen einem
Kläger und dem Organ der Gemeinschaft, dessen Entscheidung angefochten worden ist (Urteile vom
28. Januar 1986 in der Rechtssache 169/84, Cofaz u. a./Kommission,Slg. 1986, 391, vom 28. Oktober
1993 in der Rechtssache T-83/92, Zunis Holding u. a./Kommission, Slg. 1993, II- 1169, vom 24. März
1994 in der Rechtssache T-3/93, Air France/Kommission, Slg. 1994, II-121, und vom 19. Mai 1994 in der
Rechtssache T-2/93, Air France/Kommission, Slg. 1994, II-323), berührt.
27.
Im vorliegenden Fall sei die Lage in allen Punkten vergleichbar mit derjenigen in der Rechtssache
International Fruit Company u. a./Kommission, in der der Gerichtshof ausgeführt habe, daß dann,
wenn „die staatlichen Behörden ... über keinen Entscheidungsspielraum verfügen“ und „allein die
Kommission zuständig [ist], die wirtschaftliche Lage zu prüfen, an der die Entscheidung über die
Erteilung [von] Einfuhrlizenzen zu messen ist“, die Entscheidung „die Rechtsstellung der Betroffenen
unmittelbar berührt“ und daß sich „unter diesen Umständen ... gegenüber den Betroffenen die
Erteilung oder Nichterteilung der Einfuhrlizenz aus dieser Entscheidung [ergibt]“.
28.
Zum anderen verstoße das angefochtene Urteil gegen Artikel 173 Absatz 4 des Vertrages, indem
es feststelle, daß die Rechtsmittelführerin von der streitigen Entscheidung nicht unmittelbar betroffen
sei, weil diese „nicht die Rechtsgültigkeit des zwischen der Klägerin und Exportkhleb geschlossenen
Handelsvertrags [berührt] und ... den Inhalt des Vertrages insbesondere in bezug auf die zwischen
den Parteien vereinbarten Preise nicht [ändert]“ (Randnr. 52).
29.
Das Gericht habe die Bedeutung der Voraussetzung des Artikels 173 Absatz 4 zu Unrecht auf die
Beeinträchtigung der Rechtsmittelführerin beschränkt und dabei nicht, wie beantragt, geprüft, ob die
von der streitigen Entscheidung entfalteten Rechtswirkungen sie nicht in ihrer wirtschaftlichen Lage
und ihren wirtschaftlichen Belangen betroffen habe, und zwar unabhängig von der etwaigen
Aufrechterhaltung ihrer vertraglichen Beziehungen.
30.
In seinem Urteil Zunis Holding u. a./Kommission habe das Gericht jedoch die Ansicht vertreten, daß
ein Kläger nur dann von einer Entscheidung „unmittelbar und individuell betroffen“ sein könne, wenn
seine „rechtliche oder tatsächliche Stellung“ berührt werde (Randnrn. 34 und 35).
31.
Die Kommission bestreitet die Zulässigkeit des Rechtsmittels mit der Begründung, daß nahezu das
gesamte Vorbringen der Rechtsmittelführerin nur eine Wiederholung ihres Vorbringens vor dem
Gericht darstelle. Nach ständiger Rechtsprechung genüge jedoch ein Rechtsmittel, das nur die
bereits vor dem Gericht geltend gemachten Klagegründe oder Argumente wiederhole oder wörtlich
wiedergebe, nicht den Erfordernissen des Artikels 51 der EG-Satzung des Gerichtshofes und des
Artikels 112 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichtshofes.
32.
Zur Begründetheit bemerkt die Kommission vorab, daß die Vertragsklauseln, auf die sich die
Rechtsmittelführerin stütze, keineswegs klar seien; das Argument, daß wegen der fehlenden
Genehmigung durch die Kommission die vertragliche Zahlungspflicht erlösche, gehe fehl. Der in Rede
stehende Vertrag könne nur durch die zuständige Stelle, d. h. die Stelle, die die Vertragsparteien im
Vertrag selbst gewählt hätten, nämlich die Industrie- und Handelskammer Moskau, ausgelegt werden.
Die Rechtsmittelführerin habe bei dieser Stelle jedoch niemals eine Beschwerde eingereicht.
33.
Zum ersten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes und insbesondere zur Verweisung auf das Urteil
International Fruit Company u. a./Kommission führt die Kommission aus, daß in dieser Rechtssache
ihre Weigerung, Einfuhrlizenzen für Tafeläpfel aus Drittländern zu erteilen, den Klägerinnen durch die
Produktschap voor Groenten en Fruit in Den Haag übermittelt worden sei. In diesem Sinne ergebe sich
die Rechtswirkung der Entscheidung der Kommission für die Klägerinnen unmittelbar aus dieser
Entscheidung, selbst wenn sie formal an die niederländische Einrichtung gerichtet gewesen sei.
34.
Im vorliegenden Fall habe im Unterschied zur Rechtssache International Fruit Company u.
a./Kommission die VEB den Vorschußantrag auf der Grundlage des der Russischen Föderation
gewährten Darlehens im Namen Rußlands (und nicht im Namen der Rechtsmittelführerin) an die
Kommission gerichtet, und die behauptete Wirkung beruhe nur auf einem Zusammenwirken zwischen
der
streitigen Entscheidung und dem Inhalt des Vertrages, an dem die Kommission nicht beteiligt sei.
35.
Zum zweiten Teil des ersten Rechtsmittelgrundes vertritt die Kommission die Ansicht, eine
Nichtigkeitsklage gegen eine ihrer Entscheidungen sei nur dann zulässig, wenn sie gegenüber dem
Kläger gemeinschaftsrechtliche Wirkungen entfalte; andernfalls sei dieser von der Entscheidung nicht
unmittelbar betroffen. Die Wirkung, die die Rechtsmittelführerin geltend mache, beruhe allein auf den
Klauseln des Vertrages, auf die sie sich stütze.
36.
Zu der von der Kommission erhobenen Einrede der Unzulässigkeit ist darauf hinzuweisen, daß das
Rechtsmittel die beanstandeten Teile des angefochtenen Urteils sowie die rechtlichen Argumente, die
den Antrag auf Nichtigerklärung konkret stützen, genau bezeichnen muß (vgl. insbes. Beschluß vom
26. April 1993 in der Rechtssache C-244/92 P, Kupka-Floridi/Wirtschafts- und Sozialausschuß, Slg.
1993, I-2041, Randnr. 9). Daß diese Argumente bereits im ersten Rechtszug vorgetragen worden sind,
macht sie daher nicht unzulässig.
37.
Die Einrede der Unzulässigkeit ist somit zurückzuweisen.
38.
Nach Artikel 173 Absatz 4 des Vertrages kann jede natürliche oder juristische Person gegen die an
sie ergangenen Entscheidungen sowie gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl
sie als Verordnung oder als eine an eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen sind, sie
unmittelbar und individuell betreffen.
39.
Im vorliegenden Fall war die streitige Entscheidung formal an die VEB gerichtet.
40.
Das Gericht hat nur die Frage behandelt, ob die Rechtsmittelführerin von der streitigen
Entscheidung unmittelbar betroffen ist, nachdem die Kommission nicht bestritten hatte, daß die
Klägerin individuell betroffen sei.
41.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes ist ein einzelner nur dann unmittelbar betroffen, wenn
die beanstandete Maßnahme der Gemeinschaft sich auf seine Rechtsstellung unmittelbar auswirkt
und ihren Adressaten, die mit ihrer Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum läßt, ihr
Erlaß vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Gemeinschaftsregelung ergibt, ohne
daß weitere Durchführungsvorschriften angewandt werden (vgl. in diesem Sinne insbes. Urteile
International Fruit Company u. a./Kommission, Randnrn. 23 bis 29, vom 6. März 1979 in der
Rechtssache 92/78, Simmenthal/Kommission, Slg. 1979, 777, Randnrn. 25 und 26, vom 29. März 1979
in der Rechtssache 113/77, NTN Toyo Bearing Company u. a./Rat, Slg. 1979, 1185, Randnrn. 11 und
12, in der Rechtssache 118/77, ISO/Rat, Slg. 1979, 1277, Randnr. 26, in der Rechtssache 119/77,
Nippon Seiko u. a./Rat und Kommission, Slg. 1979, 1303, Randnr. 14, in der Rechtssache 120/77, Koyo
Seiko u. a./Rat und Kommission, Slg. 1979, 1337, Randnr. 25, in der Rechtssache 121/77, Nachi
Fujikoshi u. a./Rat, Slg. 1979, 1363,
Randnr. 11, vom 11. Juli 1985 in den Rechtssachen 87/77, 130/77, 22/83, 9/84 und 10/84, Salerno u.
a./Kommission und Rat, Slg. 1985, 2523, Randnr. 31, vom 17. März 1987 in der Rechtssache 333/85,
Mannesmann Röhrenwerke und Benteler/Rat, Slg. 1987, 1381, Randnr. 14, vom 14. Januar 1988 in der
Rechtssache 55/86, Arposol/Rat, Slg. 1988, 13, Randnrn. 11 bis 13, vom 26. April 1988 in der
Rechtssache 207/86, Apesco/Kommission, Slg. 1988, 2151, Randnr. 12, und vom 26. Juni 1990 in der
Rechtssache C-152/88, Sofrimport/Kommission, Slg. 1990, I-2477, Randnr. 9).
42.
Das gleiche gilt, wenn für die Adressaten nur eine rein theoretische Möglichkeit besteht, dem
Gemeinschaftsakt nicht nachzukommen, weil ihr Wille, diesem Akt nachzukommen, keinem Zweifel
unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 23. November 1971 in der Rechtssache 62/70,
Bock/Kommission, Slg. 1971, 897, Randnrn. 6 bis 8, vom 17. Januar 1985 in der Rechtssache 11/82,
Piraiki-Patraiki u. a./Kommission, Slg, 1985, 207, Randnrn. 8 bis 10, und vom 31. März 1998 in den
Rechtssachen C-68/94 und C-30/95, Frankreich u. a./Kommission, Slg. 1998, I-0000, Randnr. 51).
43.
Nach allem oblag es im vorliegenden Fall dem Gericht, zu prüfen, ob die streitige Entscheidung für
sich allein Auswirkungen auf die Rechtsstellung der Rechtsmittelführerin hatte, weil die zuständigen
russischen Behörden möglicherweise keinen Ermessensspielraum in bezug auf die Möglichkeit hatten,
den Vertrag entsprechend den zwischen den Parteien im Vertragszusatz vereinbarten, jedoch von der
Kommission beanstandeten Bedingungen unter Verzicht auf die Gemeinschaftsfinanzierung zu erfüllen.
44.
In diesem Zusammenhang hat das Gericht nur festgestellt, daß die Kommission „nur für die Prüfung
der Konformität der Verträge im Hinblick auf die Gemeinschaftsfinanzierung zuständig“ gewesen sei
(Randnr. 54) und daß ihre Entscheidung „nicht die Rechtsgültigkeit des zwischen der Klägerin und
Exportkhleb geschlossenen Handelsvertrags [berührt,] den Inhalt des Vertrages insbesondere in
bezug auf die zwischen den Parteien vereinbarten Preise nicht [ändert und somit] die am 23. Februar
1993 vorgenommene Änderung ihres Vertrages vom 28. November 1992 ... mit dem zwischen den
Parteien vereinbarten Inhalt wirksam [bleibt]“ (Randnr. 52). Der Umstand, daß der Vertrag „eine
aufschiebende Bestimmung [enthält], nach der die Erfüllung des Vertrages und die Zahlung des
Preises davon abhängig sein soll, daß die Kommission die Erfüllung der Voraussetzungen für die
Auszahlung des Gemeinschaftsdarlehens bestätigt“, beruhe auf dem Willen der Parteien selbst, von
dem die Zulässigkeit der Klage gemäß Artikel 173 Absatz 4 nicht abhängen könne (Randnr. 55).
45.
Mehrere vom Gericht festgestellte objektive, erhebliche und übereinstimmende Umstände zeigen
aber, daß die Rechtsmittelführerin von der streitigen Entscheidung unmittelbar betroffen war.
46.
Nach dem angefochtenen Urteil war die VEB in ihrer Eigenschaft als Finanzmakler der Russischen
Föderation gemäß der Rahmenvereinbarung und dem von ihr mit der Kommission geschlossenen
Darlehensvertrag an der Durchführung der Gemeinschaftsfinanzierung der Einfuhren von
Agrarerzeugnissen und Nahrungsmitteln sowie Waren des medizinischen Bedarfs in die Russische
Föderation im Sinne des Beschlusses 91/658 beteiligt.
47.
Zudem erweist sich, daß das Wirksamwerden des in Rede stehenden Liefervertrags unter der
aufschiebenden Bedingung stand, daß die Kommission den Vertrag als den Bedingungen für die
Auszahlung des Gemeinschaftsdarlehens entsprechend anerkannte, und daß keine Zahlung getätigt
werden konnte, solange der im Vertrag bezeichneten Bank keine ordnungsgemäße Erstattungszusage
der Kommission vorlag.
48.
Dieser Umstand findet Bestätigung im sozioökonomischen Kontext des Abschlusses des
Liefervertrags, der, wie sich aus der dritten und vierten Begründungserwägung des Beschlusses
91/658 ergibt, durch die wirtschaftlich und finanziell kritische Situation gekennzeichnet war, in der sich
die vom Beschluß begünstigte Republik befand, sowie durch die Verschärfung ihrer Lage bei
Nahrungsmitteln und Waren des medizinischen Bedarfes. Unter diesen Umständen durfte davon
ausgegangen werden, daß der Liefervertrag nur nach Maßgabe der Verpflichtungen, die die
Gemeinschaft in ihrer Eigenschaft als Darlehensgeberin der VEB übernommen hatte, geschlossen
werden konnte, sofern die Handelsverträge als der Gemeinschaftsregelung entsprechend anerkannt
wurden.
49.
Daher spiegelt die Aufnahme der aufschiebenden Bedingung in den Vertrag, obwohl sie von den
Parteien gewollt war, nur, wie der Generalanwalt in Nummer 69 seiner Schlußanträge hervorgehoben
hat, die objektive wirtschaftliche Abhängigkeit des Liefervertrags von der Gewährung des zwischen der
Gemeinschaft und der betroffenen Republik vereinbarten Darlehens wider, da die Bezahlung der
Getreidelieferungen nur mit den finanziellen Mitteln erfolgen konnte, die den Käufern von der
Gemeinschaft über das System der Eröffnung unwiderruflicher Dokumentenakkreditive zur Verfügung
gestellt wurden.
50.
Die Möglichkeit, daß Exportkhleb, die Lieferverträge gemäß den von der Kommission beanstandeten
Preisbedingungen erfüllen und somit auf die Gemeinschaftsfinanzierung verzichten würde, war rein
theoretisch und konnte daher im Licht der Tatsachenfeststellungen des Gerichts nicht ausreichen, um
auszuschließen, daß die Rechtsmittelführerin von der streitigen Entscheidung unmittelbar betroffen
war.
51.
Somit zeigt sich, daß die streitige Entscheidung, mit der es die Kommission in Ausübung ihrer
eigenen Zuständigkeit abgelehnt hat, den Zusatz zu dem zwischen Exportkhleb und der
Rechtsmittelführerin geschlossenen Vertrag zu genehmigen, der Rechtsmittelführerin jede wirkliche
Möglichkeit genommen hat, den ihr
erteilten Auftrag auszuführen oder für die nach den vereinbarten Bedingungen durchgeführten
Lieferungen Bezahlung zu erhalten.
52.
Daher berührte die streitige Entscheidung, obwohl sie an die VEB als Finanzmakler der Russischen
Föderation gerichtet war, die Rechtsstellung der Rechtsmittelführerin unmittelbar.
53.
Nach allem ist dem Gericht ein Rechtsfehler unterlaufen, als es anhand der von ihm festgestellten
Tatsachen zu der Ansicht gelangt ist, daß die Rechtsmittelführerin von der streitigen Entscheidung
nicht im Sinne von Artikel 173 Absatz 4 des Vertrages unmittelbar betroffen sei.
54.
Das Rechtsmittel ist daher begründet, soweit es dagegen gerichtet ist, daß die Nichtigkeitsklage
mit dem angefochtenen Urteil als unzulässig abgewiesen wird.
55.
Nach allem braucht über den zweiten Rechtsmittelgrund nicht entschieden zu werden.
Zur Zurückverweisung der Rechtssache an das Gericht
56.
Artikel 54 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes lautet: „Ist das Rechtsmittel begründet, so
hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts auf. Er kann sodann den Rechtsstreit selbst
endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das
Gericht zurückverweisen.“
57.
Im vorliegenden Fall hält der Gerichtshof den Rechtsstreit nicht für entscheidungsreif; er ist daher
zur Entscheidung über die Begründetheit an das Gericht zurückzuverweisen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden:
1. Das Urteil des Gerichts erster Instanz vom 24. September 1996 in der Rechtssache T-
494/93 (Compagnie Continentale/Kommission) wird aufgehoben, soweit mit ihm die
Nichtigkeitsklage der Compagnie Continentale (France) SA als unzulässig abgewiesen
wird.
2. Die Rechtssache wird zur Entscheidung über die Begründetheit an das Gericht erster
Instanz zurückverwiesen.
3. Die Kostenentscheidung bleibt vorbehalten.
Rodríguez Iglesias
Gulmann
Ragnemalm
Wathelet
Schintgen
Mancini
Moitinho de Almeida
Kapteyn
Murray
Edward
Puissochet
Hirsch
Jann
Sevón
Ioannou
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 5. Mai 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Französisch.