Urteil des EuGH vom 20.03.2003

EuGH: grundsatz der gleichbehandlung, diskriminierung, verkürzung der arbeitszeit, vergleichbare leistung, altersrente, arbeitsbedingungen, regierung, soziale sicherheit, angemessene entschädigung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
20. März 2003
„Sozialpolitik - Gleichbehandlung von Männern und Frauen - Regelung über Altersteilzeitarbeit - Richtlinie
76/207/EWG - Mittelbare Diskriminierung - Objektive Rechtfertigung“
In der Rechtssache C-187/00
betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 234 EG vom Arbeitsgericht Hamburg (Deutschland) in dem bei
diesem anhängigen Rechtsstreit
Helga Kutz-Bauer
gegen
Freie und Hansestadt Hamburg
vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 2 Absatz 1 und 5 Absatz 1 der
Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der
Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung
und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40)
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer R. Schintgen in Wahrnehmung der Aufgaben des
Präsidenten der Sechsten Kammer sowie der Richter C. Gulmann und V. Skouris, der Richterin F. Macken
(Berichterstatterin) und des Richters J. N. Cunha Rodrigues,
Generalanwalt: A. Tizzano,
Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen:
- von Helga Kutz-Bauer, vertreten durch Rechtsanwalt K. Bertelsmann,
- der Freien und Hansestadt Hamburg, vertreten durch Rechtsanwalt T. Scholle,
- der deutschen Regierung, vertreten durch W.-D. Plessing und T. Jürgensen als Bevollmächtigte,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J. Sack als Bevollmächtigten,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Frau Kutz-Bauer, der Freien und Hansestadt Hamburg, der
deutschen Regierung und der Kommission in der Sitzung vom 23. Oktober 2001,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 5. Februar 2002
folgendes
Urteil
1.
Das Arbeitsgericht Hamburg (Deutschland) hat mit Beschluss vom 3. Mai 2000 und ergänzender
Begründung vom 29. Juni 2000, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Mai bzw. 4. Juli 2000, gemäß
Artikel 234 EG zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 2 Absatz 1 und 5 Absatz 1 der Richtlinie
76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung
von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum
beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen (ABl. L 39, S. 40) zur
Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen Frau Kutz-Bauer (nachstehend: Klägerin)
und der Freien und Hansestadt Hamburg (nachstehend: Beklagte), in dem es um den Ausschluss der
Klägerin von der nach einer tarifvertraglichen Regelung für den öffentlichen Dienst möglichen
Inanspruchnahme von Altersteilzeitarbeit geht.
Gemeinschaftsrechtliche Vorschriften
3.
Die Richtlinie 76/207 hat nach ihrem Artikel 1 Absatz 1 zum Ziel, dass in den Mitgliedstaaten der
Grundsatz der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur
Beschäftigung, einschließlich des Aufstiegs, und des Zugangs zur Berufsbildung sowie in Bezug auf die
Arbeitsbedingungen und in Bezug auf die soziale Sicherheit unter den in Artikel 1 Absatz 2
vorgesehenen Bedingungen verwirklicht wird.
4.
Artikel 2 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 lautet:
„Der Grundsatz der Gleichbehandlung im Sinne der nachstehenden Bestimmungen beinhaltet, dass
keine unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts - insbesondere unter
Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand - erfolgen darf.“
5.
Artikel 5 der Richtlinie 76/207 bestimmt:
„(1) Die Anwendung des Grundsatzes der Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen
einschließlich der Entlassungsbedingungen beinhaltet, dass Männern und Frauen dieselben
Bedingungen ohne Diskriminierung aufgrund des Geschlechts gewährt werden.
(2) Zu diesem Zweck treffen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen,
a) dass die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz unvereinbaren Rechts- und
Verwaltungsvorschriften beseitigt werden;
b) dass die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Bestimmungen in Tarifverträgen
oder Einzelarbeitsverträgen, in Betriebsordnungen sowie in den Statuten der freien Berufe nichtig
sind, für nichtig erklärt oder geändert werden können;
c) dass die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Rechts- und
Verwaltungsvorschriften, bei denen der Schutzgedanke, aus dem heraus sie ursprünglich entstanden
sind, nicht mehr begründet ist, revidiert werden; dass hinsichtlich der Tarifbestimmungen gleicher Art
die Sozialpartner zu den wünschenswerten Revisionen aufgefordert werden.“
6.
Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen
Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der
sozialen Sicherheit (ABl. 1979, L 6, S. 24) lautet:
„Diese Richtlinie findet Anwendung
a) auf die gesetzlichen Systeme, die Schutz gegen folgende Risiken bieten:
- Krankheit,
- Invalidität,
- Alter,
- Arbeitsunfall und Berufskrankheit,
- Arbeitslosigkeit;
b) auf Sozialhilferegelungen, soweit sie die unter Buchstabe a) genannten Systeme ergänzen oder
ersetzen sollen.“
7.
Gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 beinhaltet der Grundsatz der Gleichbehandlung den
Fortfall jeglicher unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung aufgrund des Geschlechts,
insbesondere unter Bezugnahme auf den Ehe- oder Familienstand.
8.
Nach ihrem Artikel 7 Absatz 1 Buchstabe a steht die Richtlinie 79/7 nicht der Befugnis der
Mitgliedstaaten entgegen, von ihrem Anwendungsbereich die Festsetzung des Rentenalters für die
Gewährung der Altersrente oder Ruhestandsrente und etwaige Auswirkungen daraus auf andere
Leistungen auszuschließen.
Deutsche Rechtsvorschriften
9.
In Deutschland bestehen für die Altersversorgung und die Altersteilzeitarbeit bundes- und
landesrechtliche Regelungen. Außerdem sind sie Gegenstand von Tarifverträgen.
10.
Die Voraussetzungen für den Bezug einer ungekürzten gesetzlichen Altersrente sind im
Sozialgesetzbuch, Sechstes Buch (im Folgenden: SGB VI), geregelt.
11.
§ 35 SGB VI bestimmt zur Regelaltersrente:
„Versicherte haben Anspruch auf Altersrente, wenn sie
1. das 65. Lebensjahr vollendet und
2. die allgemeine Wartezeit erfüllt
haben.“
12.
In § 38 SGB VI war in der bis zum 31. Dezember 1999 geltenden Fassung die Altersrente wegen
Arbeitslosigkeit oder nach Altersteilzeitarbeit geregelt. Danach hatten Versicherte Anspruch auf
Altersrente, wenn sie insbesondere das 60. Lebensjahr vollendet, 24 Kalendermonate
Altersteilzeitarbeit ausgeübt und die Wartezeit von 15 Jahren erfüllt hatten.
13.
Nach § 39 SGB VI in der bis zum 31. Dezember 1999 geltenden Fassung hatten versicherte Frauen
Anspruch auf Altersrente, wenn sie u. a. das 60. Lebensjahr vollendet hatten.
14.
Das Hamburgische Ruhegeldgesetz sieht vor, dass männliche Beschäftigte bis zur Vollendung des
65. Lebensjahres arbeiten müssen, um Ansprüche aus der gesetzlichen Altersversorgung in
ungekürzter Form geltend zu machen, während weibliche Beschäftigte den ungekürzten Anspruch mit
Vollendung des 60. Lebensjahres haben.
15.
Nach dem Hamburgischen Ruhegeldgesetz führt der frühestmögliche Bezug einer ungekürzten
gesetzlichen Altersrente für Frauen nicht zu einer Verschlechterung oder einem Ruhen der
Zusatzversorgung.
16.
Die Altersteilzeitarbeit ist im Altersteilzeitgesetz vom 23. Juli 1996 (AltTZG, BGBl. 1996 I S. 1078)
geregelt.
17.
Wie sich aus § 1 Absatz 1 AltTZG ergibt, soll durch Altersteilzeitarbeit älteren Arbeitnehmern ein
gleitender Übergang vom Erwerbsleben in die Altersrente ermöglicht werden.
18.
Gemäß § 1 Absatz 2 AltTZG fördert die Bundesanstalt für Arbeit durch Leistungen nach diesem
Gesetz die Teilzeitarbeit von Arbeitnehmern, die ihre Arbeitszeit ab Vollendung des 55. Lebensjahres
spätestens ab 31. Juli 2004 vermindern und damit die Einstellung eines sonst arbeitslosen
Arbeitnehmers ermöglichen.
19.
Nach den Vorschriften des Altersteilzeitgesetzes kann Altersteilzeitarbeit entweder in einer
gleichförmigen Verkürzung der Arbeitszeit während des fraglichen Zeitraums bestehen oder nach dem
so genannten Blockmodell geleistet werden, bei dem auf einen Zeitraum der Vollzeitarbeit ein
Zeitraum folgt, in dem der Beschäftigte nicht arbeitet, das Beschäftigungsverhältnis aber gleichwohl
fortbesteht.
20.
Gemäß § 2 Absatz 1 Nummern 1 und 2 AltTZG werden Leistungen für Arbeitnehmer gewährt, die das
55. Lebensjahr vollendet haben und aufgrund einer Vereinbarung mit ihrem Arbeitgeber, die
zumindest bis zu dem Zeitpunkt laufen muss, zu dem eine Altersrente beansprucht werden kann, ihre
Arbeitszeit vermindert haben.
21.
Voraussetzung ist gemäß § 3 Absatz 1 Nummer 2 und Absatz 3 AltTZG, dass der Arbeitgeber einen
Arbeitslosen einstellt, und zwar zur Beschäftigung entweder gleichzeitig mit dem in die
Altersteilzeitarbeit Übergegangenen oder, falls der Arbeitnehmer nach dem Blockmodell
Altersteilzeitarbeit geleistet hat, nach dessen Eintritt in den Ruhestand.
22.
Die Inanspruchnahme der Altersteilzeitarbeit wird zum einen durch ein höheres Entgelt gefördert,
das gemäß § 3 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe a AltTZG mindestens 70 % des Netto-
Vollzeitarbeitsentgelts betragen muss.
23.
Zum anderen erstattet die Bundesanstalt für Arbeit gemäß § 4 AltTZG dem Arbeitgeber dessen
Aufwendungen für die Aufstockung des für die Altersteilzeitarbeit gezahlten Entgelts und der Beiträge
zur Rentenversicherung.
24.
Diese Aufwendungen werden jedoch nicht erstattet, wenn der Arbeitgeber die Voraussetzungen
des § 3 Absatz 1 Nummer 2 und Absatz 3 AltTZG hinsichtlich der Einstellung eines Arbeitslosen nicht
erfüllt. Jedoch entfällt nach § 8 Absatz 2 AltTZG die Verpflichtung des Arbeitgebers zur Zahlung des
aufgestockten Entgelts nach § 3 Absatz 1 Nummer 1 Buchstabe a AltTZG nicht, wenn er die
Voraussetzungen für die Erstattung seitens der Bundesanstalt für Arbeit nicht mehr erfüllt.
25.
Nach § 5 Absatz 1 AltTZG endet die finanzielle Förderung der Bundesanstalt für Arbeit u. a., wenn
der Arbeitnehmer das 65. Lebensjahr vollendet hat oder eine ungekürzte Altersrente beanspruchen
kann.
26.
Im maßgeblichen Zeitpunkt war der Tarifvertrag zur Regelung der Altersteilzeit vom 5. Mai 1998
(nachstehend: TV ATZ) die für den öffentlichen Dienst geltende tarifvertragliche Regelung der
Altersteilzeit. Er war im Hinblick auf die durch das Altersteilzeitgesetz eröffneten Möglichkeiten
geschlossen worden.
27.
Die Präambel des TV ATZ lautet wie folgt:
„Die Tarifvertragsparteien wollen mit Hilfe dieses Tarifvertrages älteren Beschäftigten einen
gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand ermöglichen und dadurch vorrangig
Auszubildenden und Arbeitslosen Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen.“
28.
§ 2 Absätze 1 und 2 TV ATZ lautet:
„(1) Der Arbeitgeber kann mit vollbeschäftigten Arbeitnehmern, die das 55. Lebensjahr und eine
Beschäftigungszeit ... von fünf Jahren vollendet haben und in den letzten fünf Jahren an mindestens 1
080 Kalendertagen mit der regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit beschäftigt waren, die Änderung
des Arbeitsverhältnisses in ein Altersteilzeitarbeitsverhältnis auf der Grundlage des
Altersteilzeitgesetzes vereinbaren ...
(2) Arbeitnehmer, die das 60. Lebensjahr vollendet haben und die übrigen Voraussetzungen des
Absatzes 1 erfüllen, haben Anspruch auf Vereinbarung eines Altersteilzeitarbeitsverhältnisses ...“
29.
§§ 4 Absatz 1 und 5 Absätze 1 und 2 TV ATZ sehen vor, das das Entgelt, das dem für die
Teilzeitarbeit vorgesehenen Betrag entspricht, um 20 % dieses Betrages aufgestockt wird. Jedenfalls
muss das Entgelt des Altersteilzeitbeschäftigten 83 % des Nettobetrags des Entgelts betragen, das
ihm bei Vollzeitarbeit zustünde.
30.
§ 9 Absätze 1 und 2 TV ATZ bestimmt:
„(1) Das Arbeitsverhältnis endet zu dem in der Altersteilzeitvereinbarung festgelegten Zeitpunkt.
(2) Das Arbeitsverhältnis endet unbeschadet der sonstigen tariflichen Beendigungstatbestände ...
a) mit Ablauf des Kalendermonats vor dem Kalendermonat, für den der Arbeitnehmer eine Rente
wegen Alters oder, wenn er von der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung
befreit ist, eine vergleichbare Leistung einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines
Versicherungsunternehmens beanspruchen kann; dies gilt nicht für Renten, die vor dem für den
Versicherten maßgebenden Rentenalter in Anspruch genommen werden können, oder
b) mit Beginn des Kalendermonats, für den der Arbeitnehmer eine Rente wegen Alters, eine
Knappschaftsausgleichsleistung, eine ähnliche Leistung öffentlich-rechtlicher Art oder, wenn er von
der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung befreit ist, eine vergleichbare
Leistung einer Versicherungs- oder Versorgungseinrichtung oder eines Versicherungsunternehmens
bezieht.“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen
31.
Die am 21. August 1939 geborene Klägerin ist bei der Beklagten als Leiterin der Landeszentrale für
Politische Bildung angestellt.
32.
Sie beantragte bei ihrer Arbeitgeberin den Abschluss einer Vereinbarung, wonach sie vom 1.
September 1999 bis zum 31. August 2004, an dem sie ihr 65. Lebensjahr vollendet, Altersteilzeitarbeit
in der Form eines Blockmodells leisten würde. Nach diesem Modell hätte sie zweieinhalb Jahre
ganztägig und anschließend bis zum Ende dieses Fünfjahreszeitraums nicht mehr gearbeitet.
33.
Die Beklagte lehnte diesen Antrag nach Prüfung mit Schreiben vom 21. Dezember 1998 ab. Die
Klägerin erfülle zwar die persönlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von
Altersteilzeitarbeit gemäß § 2 TV ATZ. Doch hätte nach Maßgabe von § 9 Absatz 2 TV ATZ eine
Vereinbarung über Altersteilzeitarbeit zwischen den Parteien zur Folge, dass das geänderte
Arbeitsverhältnis sofort wieder enden würde.
34.
Einen zweiten Antrag der Klägerin lehnte die Beklagte mit Schreiben vom 6. Juli 1999 mit der
Begründung ab, dass zwar mit Vollendung des 60. Lebensjahres ein Anspruch auf Vereinbarung einer
Altersteilzeit bestehe, das Arbeitsverhältnis jedoch zugleich gemäß § 9 des genannten Tarifvertrages
automatisch zu demselben Zeitpunkt enden würde, da aufgrund des Hamburgischen
Ruhegeldgesetzes keine Verschlechterung der Zusatzversorgung eintreten würde.
35.
Vor dem vorlegenden Gericht macht die Klägerin geltend, die Verneinung ihres Anspruchs auf
Altersteilzeitarbeit stelle eine mittelbare Diskriminierung aufgrund des Geschlechts dar, die gegen die
Richtlinie 76/207 verstoße.
36.
Da das Arbeitsgericht Hamburg für die Entscheidung des Rechtsstreits eine Auslegung der
Richtlinie 76/207 für erforderlich hält, hat es das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende
Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Verstößt eine tarifvertragliche Regelung für den öffentlichen Dienst, die männlichen wie
weiblichen Beschäftigten die Inanspruchnahme von Altersteilzeit erlaubt, gegen Artikel 2 Absatz 1 und
Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9. Februar 1976 zur Verwirklichung des
Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur
Beschäftigung, zur Berufsausbildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die
Arbeitsbedingungen, wenn sie die Altersteilzeit nur bis zu dem Zeitpunkt zulässt, in dem erstmalig eine
ungekürzte Rente aus der gesetzlichen Altersversorgung in Anspruch genommen werden kann, und
wenn zugleich die Gruppe der Personen, die ungekürzte Rente bereits mit 60 beziehen können, fast
ausschließlich aus Frauen besteht, während die Gruppe, die eine ungekürzte Rente erst ab 65
beziehen kann, fast ausschließlich aus Männern besteht?
2. Sind die innerstaatlichen Gerichte befugt, bei Verstoß der tariflichen und gesetzlichen
Regelungen gegen die Richtlinie 76/207 bzw. 79/7/EWG die entsprechenden Regelungen unter
Außerachtlassung der EG-widrigen Einschränkungen zugunsten der benachteiligten Gruppe so lange
anzuwenden, bis durch die Tarifvertragsparteien und/oder den Gesetzgeber eine diskriminierungsfreie
Regelung geschaffen ist?
Zur ersten Vorlagefrage
37.
Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Artikel 2 Absatz 1 und 5
Absatz 1 der Richtlinie 76/207 dahin auszulegen sind, dass sie einer tarifvertraglichen Regelung für
den öffentlichen Dienst, die männlichen wie weiblichen Beschäftigten die Inanspruchnahme von
Altersteilzeitarbeit erlaubt, entgegenstehen, wenn nach dieser Regelung die Berechtigung zur
Altersteilzeitarbeit nur bis zu dem Zeitpunkt besteht, in dem erstmals eine ungekürzte Rente aus der
gesetzlichen Altersversorgung in Anspruch genommen werden kann, und wenn die Gruppe der
Personen, die eine solche Rente bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres beziehen können, fast
ausschließlich aus Frauen besteht, während die Gruppe, die eine solche Rente erst mit Vollendung
des 65. Lebensjahres beziehen kann, fast ausschließlich aus Männern besteht.
38.
Die Klägerin und die Kommission machen geltend, die durch den TV ATZ in die Regelung über
Altersteilzeitarbeit eingeführte Ungleichbehandlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern
falle in den Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207, insbesondere deren Artikel 2 Absatz 1 und
Artikel 5 Absatz 1, da diese Regelung die dort genannten Arbeitsbedingungen betreffe.
39.
Nach Auffassung der Kommission gehört eine Vereinbarung zur Regelung der Altersteilzeitarbeit
nicht zu den nach Artikel 3 der Richtlinie 79/7 unter diese Richtlinie fallenden gesetzlichen Systemen,
die Schutz gegen das Risiko des Alters bieten. Deshalb bedürfe es keiner Auseinandersetzung mit der
Frage, ob sich aus den Bestimmungen der Richtlinie 79/7 eine Einschränkung der Tragweite des
Artikels 2 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 ergeben könne.
40.
Zudem könne sich Artikel 7 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 natürlich nur auf Leistungen im Bereich der
sozialen Sicherheit beziehen; die Argumente der Beklagten seien ungeeignet, die Anwendung der
Artikel 2 und 5 der Richtlinie 76/207 auszuschließen. Die erste Frage sei daher zu bejahen.
41.
Die deutsche Regierung macht dagegen geltend, die Regelung über Altersteilzeitarbeit unterliege
in Anbetracht ihres Zweckes und ihrer Systematik der Richtlinie 79/7. Diese Regelung solle zum einen
älteren Arbeitnehmern einen gleitenden Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand ermöglichen
und zum anderen jungen Arbeitnehmern durch Schaffung freier Arbeitsplätze
Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnen.
42.
In der vorliegenden Rechtssache lägen die Voraussetzungen vor, die der Gerichtshof im Urteil vom
30. März 1993 in der Rechtssache C-328/91 (Thomas u. a., Slg. 1993, I-1247) für die Anwendung der
Ausnahme des Artikels 7 Absatz 1 der Richtlinie 79/7 aufgestellt habe. Mit der deutschen Regelung
über Altersteilzeitarbeit solle nämlich die Kohärenz zwischen dem System der finanziellen Förderung
der Altersteilzeitarbeit und dem System der Ruhestandsrenten gewährleistet werden. Um eine
Überschneidung der Systeme der Arbeitslosenversicherung und der Rentenversicherung zu
vermeiden, müsse verhindert werden, dass auch noch solche Arbeitnehmer aus Mitteln der
Bundesanstalt für Arbeit unterstützt würden, die bereits eine ungekürzte Altersrente beziehen
könnten.
43.
Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort geben zu können, ist zunächst zu prüfen,
ob die im Ausgangsverfahren fragliche Regelung über Altersteilzeitarbeit unter die Richtlinie 76/207
oder, wie die deutsche Regierung meint, unter die Richtlinie 79/7 fällt.
44.
Hierzu ist festzustellen, dass durch die Regelung über Altersteilzeitarbeit eine Verkürzung der
regelmäßigen Arbeitszeit erreicht werden soll, und zwar entweder durch eine gleichförmige Verkürzung
der Arbeitszeit während des gesamten fraglichen Zeitraums oder durch vorzeitiges Ausscheiden aus
dem Erwerbsleben. In beiden Fällen greift die Regelung in die Ausübung der Erwerbstätigkeit der
betroffenen Arbeitnehmer ein, indem ihre Arbeitszeit umgestaltet wird.
45.
Mit der im Ausgangsverfahren streitigen Regelung wurden daher Vorschriften hinsichtlich der
Arbeitsbedingungen im Sinne von Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207 aufgestellt.
46.
Entgegen der Auffassung der deutschen Regierung kann diese Folgerung nicht durch den Umstand
in Frage gestellt werden, dass durch den im Ausgangsverfahren fraglichen Tarifvertrag älteren
Beschäftigten ein gleitender Übergang vom Erwerbsleben in den Ruhestand ermöglicht und dadurch
Auszubildenden und Arbeitslosen Beschäftigungsmöglichkeiten eröffnet werden sollten. Dass mit
diesem Tarifvertrag diese beiden Ziele verfolgt wurden, reicht nicht aus, um die im Ausgangsverfahren
streitige Regelung in den Anwendungsbereich der Richtlinie 79/7 fallen zu lassen.
47.
Mit der ersten Frage wird also zutreffend nach der Auslegung der Artikel 2 Absatz 1 und 5 Absatz 1
der Richtlinie 76/207 gefragt.
48.
Aus der ersten Vorlagefrage geht hervor, dass die Gruppe der Personen, die eine ungekürzte
gesetzliche Altersrente bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres beziehen können, fast
ausschließlich aus Frauen besteht, während die Gruppe, die eine solche Rente erst mit Vollendung
des 65. Lebensjahres beziehen kann, fast ausschließlich aus Männern besteht.
49.
Den Akten ist zu entnehmen, dass zwar sowohl männliche als auch weibliche Beschäftigte ab
Vollendung des 55. Lebensjahres mit Zustimmung des Arbeitgebers Altersteilzeitarbeit in Anspruch
nehmen können, die große Mehrheit der Arbeitnehmer, die ein Recht darauf haben, ab dem
vollendeten 60. Lebensjahr für fünf Jahre von der Regelung über Altersteilzeitarbeit zu profitieren,
jedoch aus Männern besteht.
50.
Daher ist festzustellen, dass Regelungen wie die im Ausgangsverfahren streitigen tatsächlich zu
einer Diskriminierung der weiblichen Arbeitnehmer gegenüber den männlichen Arbeitnehmern führen
und grundsätzlich im Widerspruch zu den Artikeln 2 Absatz 1 und 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207
stehen. Etwas anderes würde nur gelten, wenn die unterschiedliche Behandlung der beiden Gruppen
von Arbeitnehmern durch objektive Faktoren gerechtfertigt wäre, die nichts mit einer Diskriminierung
aufgrund des Geschlechts zu tun haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 13. Juli 1989 in der
Rechtssache 171/88, Rinner Kühn, Slg. 1989, 2743, Randnr. 12, vom 6. Februar 1996 in der
Rechtssache C-457/93, Lewark, Slg. 1996, I-243, Randnr. 31; vom 17. Juni 1998 in der Rechtssache C-
243/95, Hill und Stapleton, Slg. 1998, I-3739, Randnr. 34, und vom 6. April 2000 in der Rechtssache C-
226/98, Jørgensen, Slg. 2000, I-2447, Randnr. 29).
51.
Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, das allein für die Beurteilung des Sachverhalts und die
Auslegung des nationalen Rechts zuständig ist, festzustellen, ob dies der Fall ist. Hierzu ist in
Anbetracht aller maßgeblichen Umstände und unter Prüfung der Frage, ob sich die mit den fraglichen
Vorschriften verfolgten Ziele durch andere Mittel erreichen lassen, zu untersuchen, ob diese Ziele
nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben und ob die streitigen
Vorschriften ein geeignetes Mittel zur Erreichung dieser Ziele sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9.
Februar 1999 in der Rechtssache C-167/97, Seymour-Smith und Perez, Slg. 1999, I-623, Randnr. 72).
52.
Zwar ist es im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens Sache des vorlegenden Gerichts, zu
beurteilen, ob solche objektiven Faktoren in dem ihm unterbreiteten konkreten Fall vorliegen. Da der
Gerichtshof jedoch die Fragen des vorlegenden Gerichts sachdienlich zu beantworten hat, kann er auf
der Grundlage der Akten des Ausgangsverfahrens und der vor ihm abgegebenen schriftlichen und
mündlichen Erklärungen Hinweise geben, die dem vorlegenden Gericht die Entscheidung ermöglichen
(vgl. Urteile Hill und Stapleton, Randnr. 36, und Seymour-Smith und Perez, C-167/97, Randnr. 68).
53.
Wie in den Randnummern 9 und 26 des vorliegenden Urteils erwähnt, bestehen in Deutschland für
die Altersversorgung und die Altersteilzeitarbeit bundes- und landesrechtliche sowie tarifvertragliche
Regelungen und wurde der im Ausgangsverfahren streitige TV ATZ im Hinblick auf die durch das
Altersteilzeitgesetz eröffneten Möglichkeiten geschlossen.
54.
Die deutsche Regierung macht geltend, mit einer Regelung wie der im Ausgangsverfahren
streitigen werde u. a. das Ziel der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit dadurch verfolgt, dass die
Versetzung von Arbeitnehmern, die noch keinen Rentenanspruch erworben hätten, in den Ruhestand
möglichst stark gefördert werde, um so freie Arbeitsplätze zu schaffen. Würde einem Arbeitnehmer,
der bereits einen ungekürzten Anspruch auf Altersrente erworben habe, gestattet, die Regelung über
Altersteilzeitarbeit in Anspruch zu nehmen, so würde dies bedeuten, dass zum einen ein nach dieser
Regelung einem Arbeitslosen zugedachter Arbeitsplatz weiter besetzt bliebe und dass zum anderen
das System der sozialen Sicherheit zusätzlich belastet würde, wodurch Mittel von anderen Zielen
abgezogen würden.
55.
Zu dem auf die Förderung von Einstellungen gestützten Argument der deutschen Regierung ist
festzustellen, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, die zur Verwirklichung ihrer
beschäftigungspolitischen Ziele geeigneten Maßnahmen zu wählen. Der Gerichtshof hat anerkannt,
dass die Mitgliedstaaten bei der Ausübung dieser Befugnis über einen weiten Beurteilungsspielraum
verfügen (vgl. Urteil Seymour-Smith und Perez, Randnr. 74).
56.
Überdies ist, wie der Gerichtshof in Randnummer 71 des Urteils Seymour-Smith und Perez
festgestellt hat, die Förderung von Einstellungen unbestreitbar ein legitimes Ziel der Sozialpolitik.
57.
Jedoch darf der Beurteilungsspielraum, über den die Mitgliedstaaten im Bereich der Sozialpolitik
verfügen, nicht dazu führen, dass ein tragender Grundsatz des Gemeinschaftsrechts wie der der
Gleichbehandlung von männlichen und weiblichen Arbeitnehmern ausgehöhlt wird (vgl. Urteil Seymour-
Smith und Perez, Randnr. 75).
58.
Wie aus der oben in Randnummer 51 angeführten Rechtsprechung hervorgeht, genügen bloße
allgemeine Behauptungen, dass die in Rede stehende Regelung zur Förderung von Einstellungen
geeignet sei, nicht, um darzutun, dass das Ziel der streitigen Vorschriften nichts mit einer
Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun hat, und um vernünftigerweise die Annahme zu
begründen, dass die gewählten Mittel zur Verwirklichung dieses Zieles geeignet sind oder sein
könnten.
59.
Zum Argument der deutschen Regierung betreffend die zusätzlichen Belastungen, die sich
ergäben, wenn weibliche Arbeitnehmer die im Ausgangsverfahren streitige Regelung in Anspruch
nehmen könnten, obwohl sie einen ungekürzten Anspruch auf Altersrente erworben haben, ist daran
zu erinnern, dass Haushaltserwägungen zwar sozialpolitischen Entscheidungen eines Mitgliedstaats
zugrunde liegen und die Art oder das Ausmaß der sozialen Schutzmaßnahmen, die er treffen möchte,
beeinflussen können; sie stellen als solche aber kein mit dieser Politik verfolgtes Ziel dar und können
daher eine Diskriminierung eines der Geschlechter nicht rechtfertigen (Urteil vom 24. Februar 1994 in
der Rechtssache C-343/92, Roks u. a., Slg. 1994, I-571, Randnr. 35).
60.
Würde man im Übrigen anerkennen, dass Haushaltserwägungen eine Ungleichbehandlung von
Männern und Frauen rechtfertigen können, die andernfalls eine verbotene mittelbare Diskriminierung
aufgrund des Geschlechts wäre, so hätte dies zur Folge, dass die Anwendung und die Tragweite einer
so grundlegenden Regel des Gemeinschaftsrechts wie der Gleichheit von Männern und Frauen zeitlich
und räumlich je nach dem Zustand der Staatsfinanzen der Mitgliedstaaten unterschiedlich sein
könnten (Urteil Roks u. a., Randnr. 36).
61.
Die Beklagte kann weder als Hoheitsträger noch als Arbeitgeber eine Diskriminierung, die aus der
Regelung über Altersteilzeitarbeit folgt, allein damit rechtfertigen, dass die Beseitigung einer solchen
Diskriminierung mit zusätzlichen Kosten verbunden wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil Hill und Stapleton,
Randnr. 40).
62.
Daher obliegt es der Beklagten, vor dem vorlegenden Gericht darzutun, dass die unterschiedliche
Behandlung, die sich aus der im Ausgangsverfahren streitigen Regelung über Altersteilzeitarbeit
ergibt, durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des
Geschlechts zu tun haben. Gelingt ihr dieser Beweis, so könnte der Umstand, dass die Bestimmungen
dieser Regelung, wonach Arbeitnehmer, die einen ungekürzten Anspruch auf Altersrente erworben
haben, davon ausgeschlossen sind, weibliche Arbeitnehmer zu einem erheblich höheren Prozentsatz
als männliche Arbeitnehmer betreffen, für sich allein nicht als Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 1 und 5
Absatz 1 der Richtlinie 76/207 betrachtet werden.
63.
Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass die Artikel 2 Absatz 1 und 5 Absatz 1 der
Richtlinie 76/207 dahin auszulegen sind, dass sie einer tarifvertraglichen Regelung für den
öffentlichen Dienst, die männlichen wie weiblichen Beschäftigten die Inanspruchnahme von
Altersteilzeitarbeit erlaubt, entgegenstehen, wenn nach dieser Regelung die Berechtigung zur
Altersteilzeitarbeit nur bis zu dem Zeitpunkt besteht, in dem erstmals eine ungekürzte Rente aus der
gesetzlichen Altersversorgung in Anspruch genommen werden kann, und wenn die Gruppe der
Personen, die eine solche Rente bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres beziehen können, fast
ausschließlich aus Frauen besteht, während die Gruppe, die eine solche Rente erst mit Vollendung
des 65. Lebensjahres beziehen kann, fast ausschließlich aus Männern besteht, es sei denn, diese
Regelung ist durch objektive Faktoren gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund
des Geschlechts zu tun haben.
Zur zweiten Frage
64.
Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob im Fall eines Verstoßes gegen
die Richtlinie 76/207 durch gesetzliche oder tarifvertragliche Regelungen, die eine mit der Richtlinie
unvereinbare Diskriminierung vorsehen, die nationalen Gerichte gehalten sind, die Diskriminierung
dadurch auszuschließen, dass sie diese Regelungen zugunsten der benachteiligten Gruppe
anwenden, ohne die Beseitigung der Diskriminierung durch den Gesetzgeber, die
Tarifvertragsparteien oder in anderer Weise zu beantragen oder abzuwarten.
65.
Die Klägerin macht geltend, nationale Gerichte hätten bei der Anwendung der entsprechenden
gesetzlichen und tarifvertraglichen Regelungen die gemeinschaftsrechtswidrigen, weibliche
Arbeitnehmer benachteiligenden Einschränkungen außer Acht zu lassen.
66.
Die Kommission trägt vor, gemäß Artikel 5 Absatz 2 der Richtlinie 76/207 sei es Aufgabe des
nationalen Gesetzgebers, die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen den Grundsatz der
Gleichbehandlung hinsichtlich der Arbeitsbedingungen angemessen zu regeln und insbesondere die
gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen wirksam auszugestalten. Dies könne bedeuten, dass
unter bestimmten Umständen der Aufhebung oder Änderung von diskriminierenden Regelungen
rückwirkende Kraft zuerkannt werden müsse oder dass, falls dies nicht möglich sei, eine angemessene
Entschädigung des Arbeitnehmers vorzusehen sei. Sei dies nicht geschehen, könnten sich
diskriminierte Arbeitnehmer gegenüber dem Mitgliedstaat als Arbeitgeber auf Artikel 5 der Richtlinie
76/207 berufen, um die Anwendung jeder diesem Artikel entgegenstehenden Regelung
auszuschließen.
67.
Die Beklagte begnügt sich zur zweiten Frage mit einem Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofes vom
7. Februar 1991 in der Rechtssache C-184/89 (Nimz, Slg. 1991, I-297), in dem es ebenfalls darum
gegangen sei, welche Folgen es habe, wenn ein nationales Gericht die Unvereinbarkeit einer
Tarifvereinbarung mit einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung - in der diesem Urteil zugrunde
liegenden Rechtssache Artikel 119 EG-Vertrag (die Artikel 117 bis 120 EG-Vertrag sind durch die
Artikel 136 EG bis 143 EG ersetzt worden) - feststelle.
68.
Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 Absatz 2 Buchstaben a
und b der Richtlinie 76/207 die erforderlichen Maßnahmen zu treffen haben, um sicherzustellen,
„a) dass die mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz unvereinbaren Rechts- und
Verwaltungsvorschriften beseitigt werden;
b) dass die mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung unvereinbaren Bestimmungen in Tarifverträgen
... für nichtig erklärt oder geändert werden können“.
69.
Außerdem ist hervorzuheben, dass nach ständiger Rechtsprechung Bestimmungen einer Richtlinie,
die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, vom Einzelnen vor den nationalen
Gerichten dem Mitgliedstaat gegenüber geltend gemacht werden können (vgl. insbesondere Urteil
vom 12. Juli 1990 in der Rechtssache C-188/89, Foster u. a., Slg. 1990, I-3313, Randnr. 16).
70.
Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207, der hinsichtlich der Arbeitsbedingungen einschließlich der
Entlassungsbedingungen jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts verbietet, ist, wie der
Gerichtshof bereits festgestellt hat, hinreichend genau, um von einem Rechtsbürger dem
Mitgliedstaat gegenüber in Anspruch genommen und von einem nationalen Gericht angewandt
werden zu können, um die Anwendung jeder nationalen Bestimmung, die Artikel 5 Absatz 1 nicht
entspricht, auszuschließen (vgl. Urteil vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84, Marshall I,
Slg. 1986, 723, Randnrn. 52 und 56, und Urteil Seymour-Smith und Perez, Randnr. 40).
71.
Im Übrigen wäre ein Rechtsbürger wie die Klägerin in der Lage, Artikel 5 Absatz 1 der Richtlinie
76/207 gegenüber einem Hoheitsträger wie der Beklagten geltend zu machen (vgl. in diesem Sinne
Urteile Marshall I, Randnr. 49, und vom 12. Juli 1990 in der Rechtssache C-188/89, Foster, Slg. 1990, I-
3313, Randnrn. 19 und 21).
72.
Der Gerichtshof hat außerdem entschieden, dass im Fall einer mittelbaren Diskriminierung durch
eine Bestimmung eines Tarifvertrags die Angehörigen der dadurch benachteiligten Gruppe Anspruch
auf die gleiche Behandlung wie die übrigen Arbeitnehmer haben (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 27.
Juni 1990 in der Rechtssache C-33/89, Kowalska, Slg. 1990, I-2591, Randnr. 19, und Nimz, Randnr. 18).
73.
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (siehe insbesondere das Urteil vom 9. März 1978 in
der Rechtssache 106/77, Simmenthal, Slg. 1978, 629. Randnr. 24) ist das nationale Gericht, das im
Rahmen seiner Zuständigkeit die Gemeinschaftsrechtsnormen anzuwenden hat, gehalten, für die volle
Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen, indem es erforderlichenfalls jede entgegenstehende
Bestimmung des nationalen Rechts aus eigener Entscheidungsbefugnis unangewendet lässt, ohne
dass es die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Wege oder durch
irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwarten müsste.
74.
Diese Erwägungen gelten auch für den Fall, dass sich die dem Gemeinschaftsrecht
entgegenstehende Bestimmung aus einem Tarifvertrag ergibt. Es wäre nämlich mit dem Wesen des
Gemeinschaftsrechts unvereinbar, wenn dem nationalen Gericht die uneingeschränkte Befugnis
abgesprochen würde, unmittelbar bei der ihm obliegenden Anwendung des Gemeinschaftsrechts
Bestimmungen eines Tarifvertrags außer Anwendung zu lassen, die die volle Wirksamkeit der
gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften möglicherweise behindern (vgl. Urteil Nimz, Randnr. 20).
75.
Aus diesen Erwägungen ist auf die zweite Frage zu antworten, dass im Falle eines Verstoßes gegen
die Richtlinie 76/207 durch gesetzliche oder tarifvertragliche Regelungen, die eine mit der Richtlinie
unvereinbare Diskriminierung vorsehen, die nationalen Gerichte gehalten sind, die Diskriminierung auf
jede denkbare Weise und insbesondere dadurch auszuschließen, dass sie diese Regelungen
zugunsten der benachteiligten Gruppe anwenden, ohne die Beseitigung der Diskriminierung durch
den Gesetzgeber, die Tarifvertragsparteien oder in anderer Weise zu beantragen oder abzuwarten.
Kosten
76.
Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission, die Erklärungen vor dem Gerichtshof
abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das
Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die
Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
auf die ihm vom Arbeitsgericht Hamburg mit Beschlüssen vom 3. Mai und 29. Juni 2000 vorgelegten
Fragen für Recht erkannt:
1. Die Artikel 2 Absatz 1 und 5 Absatz 1 der Richtlinie 76/207/EWG des Rates vom 9.
Februar 1976 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und
Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum
beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen sind dahin auszulegen,
dass sie einer tarifvertraglichen Regelung für den öffentlichen Dienst, die männlichen wie
weiblichen Beschäftigten die Inanspruchnahme von Altersteilzeitarbeit erlaubt,
entgegenstehen, wenn nach dieser Regelung die Berechtigung zur Altersteilzeitarbeit nur
bis zu dem Zeitpunkt besteht, in dem erstmals eine ungekürzte Rente aus der
gesetzlichen Altersversorgung in Anspruch genommen werden kann, und wenn die
Gruppe der Personen, die eine solche Rente bereits mit Vollendung des 60. Lebensjahres
beziehen können, fast ausschließlich aus Frauen besteht, während die Gruppe, die eine
solche Rente erst mit Vollendung des 65. Lebensjahres beziehen kann, fast ausschließlich
aus Männern besteht, es sei denn, diese Regelung ist durch objektive Faktoren
gerechtfertigt, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun
haben.
2. Im Falle eines Verstoßes gegen die Richtlinie 76/207 durch gesetzliche oder
tarifvertragliche Regelungen, die eine mit der Richtlinie unvereinbare Diskriminierung
vorsehen, sind die nationalen Gerichte gehalten, die Diskriminierung auf jede denkbare
Weise und insbesondere dadurch auszuschließen, dass sie diese Regelungen zugunsten
der benachteiligten Gruppe anwenden, ohne die Beseitigung der Diskriminierung durch
den Gesetzgeber, die Tarifvertragsparteien oder in anderer Weise zu beantragen oder
abzuwarten.
Schintgen
Gulmann
Skouris
Macken
Cunha Rodrigues
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 20. März 2003.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
J.-P. Puissochet
Verfahrenssprache: Deutsch.