Urteil des EuGH vom 29.04.2004

EuGH: arzneimittel, schutz der gesundheit, kommission, vitamin, regierung, in gerechtfertigter weise, lebensmittel, inverkehrbringen, dänemark, ernährung

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
29. April 2004
„Vertragsverletzungsklage – Artikel 30 und 36 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG und 30 EG) –
Richtlinie 65/65/EWG – Lebensmittelzubereitungen, deren Vitamingehalt die dreifache empfohlene
Tagesdosis überschreitet – Präparate, die im Ausfuhrmitgliedstaat rechtmäßig als
Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht werden – Präparate, die im Einfuhrmitgliedstaat als
Arzneimittel eingestuft werden – Begriff des ‚Arzneimittels‘ – Behinderung – Rechtfertigung – Gesundheit der
Bevölkerung – Verhältnismäßigkeit – Zulässigkeit der Klage“
In der Rechtssache C-387/99
Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland,
Rechtsanwalt J. Sedemund,
Beklagte,
unterstützt durch
Königreich Dänemark,
und
und
und
Republik Finnland,
Luxemburg,
Streithelfer,
wegen Feststellung, dass die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel
30 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG) verstoßen hat, dass sie Vitamin- und
Mineralstoffpräparate, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig als Nahrungsergänzungsmittel hergestellt
oder in den Verkehr gebracht werden, hinsichtlich aller Vitamine und Mineralstoffe bei Überschreiten der
dreifachen von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung empfohlenen Tagesdosis als Arzneimittel einstuft,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris in Wahrnehmung der Aufgaben des Präsidenten der Sechsten
Kammer, der Richter J. N. Cunha Rodrigues und R. Schintgen sowie der Richterinnen F. Macken
(Berichterstatterin) und N. Colneric,
Generalanwalt: L. A. Geelhoed,
Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler,
aufgrund des Sitzungsberichts,
nach Anhörung der Verfahrensbeteiligten in der Sitzung vom 21. Februar 2002,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 16. Mai 2002,
folgendes
Urteil
1
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 8. Oktober 1999 bei der
Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, nach Artikel 226 EG Klage erhoben auf Feststellung, dass die
Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 30 EG‑Vertrag (nach Änderung
jetzt Artikel 28 EG) verstoßen hat, dass sie Vitamin- und Mineralstoffpräparate, die in anderen
Mitgliedstaaten rechtmäßig als Nahrungsergänzungsmittel hergestellt oder in den Verkehr gebracht werden,
hinsichtlich aller Vitamine und Mineralstoffe bei Überschreiten der dreifachen von der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung empfohlenen Tagesdosis als Arzneimittel einstuft.
Gemeinschaftsrecht
2
Nach Artikel 1 Nummer 2 Unterabsatz 1 der Richtlinie 65/65/EWG des Rates vom 26. Januar 1965 zur
Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften über Arzneimittel (ABl. Nr. 22, S. 369) in der Fassung
der Richtlinie 93/39/EWG des Rates vom 14. Juni 1993 (ABl. L 214, S. 22, im Folgenden: Richtlinie 65/65) sind
Arzneimittel „alle Stoffe oder Stoffzusammensetzungen, die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung
menschlicher oder tierischer Krankheiten bezeichnet werden“ (Arzneimittel „nach der Bezeichnung“). Nach
Unterabsatz 2 dieser Bestimmung gelten ebenfalls als Arzneimittel „alle Stoffe oder
Stoffzusammensetzungen, die dazu bestimmt sind, im oder am menschlichen oder tierischen Körper zur
Erstellung einer ärztlichen Diagnose oder zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der
menschlichen oder tierischen Körperfunktionen angewandt zu werden“ (Arzneimittel „nach der Funktion“).
3
Artikel 3 Absatz 1 der Richtlinie 65/65 bestimmt:
„Ein Arzneimittel darf in einem Mitgliedstaat erst dann in den Verkehr gebracht werden, wenn von der
zuständigen Behörde dieses Mitgliedstaats nach dieser Richtlinie eine Genehmigung für das
Inverkehrbringen erteilt wurde oder wenn eine Genehmigung für das Inverkehrbringen nach der Verordnung
(EWG) Nr. 2309/93 des Rates vom 22. Juli 1993 zur Festlegung von Gemeinschaftsverfahren für die
Genehmigung und Überwachung von Human- und Tierarzneimitteln und zur Schaffung einer Europäischen
Agentur für die Beurteilung von Arzneimitteln [ABl. L 214, S. 1] erteilt wurde.“
4
Artikel 4 Absatz 3 der Richtlinie 65/65 legt fest, welche Angaben und Unterlagen dem Antrag auf Erteilung
einer Genehmigung für das Inverkehrbringen beizufügen sind.
5
Artikel 5 der Richtlinie 65/65 lautet:
„Die Genehmigung nach Artikel 3 wird versagt, wenn sich nach Prüfung der in Artikel 4 aufgeführten
Angaben und Unterlagen ergibt, entweder dass das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch
schädlich ist oder dass seine therapeutische Wirksamkeit fehlt oder vom Antragsteller unzureichend
begründet ist oder dass das Arzneimittel nicht die angegebene Zusammensetzung nach Art und Menge
aufweist.
Die Genehmigung wird auch dann versagt, wenn die Angaben und Unterlagen zur Stützung des Antrags nicht
den Bestimmungen des Artikels 4 entsprechen.“
6
Es ist unstreitig, dass es zu dem für die vorliegende Klage maßgebenden Zeitpunkt, nämlich am Ende der in
der mit Gründen versehenen Stellungnahme vom 30. Dezember 1998 festgesetzten Frist von zwei Monaten,
im Gemeinschaftsrecht keine Vorschriften gab, die die Voraussetzungen regelten, unter denen
Lebensmitteln des gängigen Verbrauchs Nährstoffe wie Vitamine und Mineralstoffe zugesetzt werden dürfen.
7
Hingegen waren mehrere für eine besondere Ernährung bestimmte Lebensmittel Gegenstand von
Richtlinien, die die Kommission auf der Grundlage der Richtlinie 89/398/EWG des Rates vom 3. Mai 1989 zur
Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Lebensmittel, die für eine besondere
Ernährung bestimmt sind (ABl. L 186, S. 27), erlassen hat.
Vorgerichtliches Verfahren
8
Der Kommission gingen Beschwerden zu, wonach in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellte und in
den Verkehr gebrachte Lebensmittel bei ihrer Einfuhr in Deutschland als Arzneimittel eingestuft würden,
wenn ihr Gehalt an Vitaminen und Mineralstoffen die dreifache von der Deutschen Gesellschaft für
Ernährung empfohlene Tagesdosis überschreite.
9
Da die Kommission der Auffassung war, dass diese Verwaltungspraxis (im Folgenden: deutsche Praxis)
Artikel 30 EG‑Vertrag zuwiderlief, richtete sie am 7. April 1998 an die deutsche Regierung ein
Mahnschreiben.
10
Die deutsche Regierung antwortete darauf am 12. Juni 1998, die Regelvermutung, dass eine
Lebensmittelzubereitung ein Arzneimittel bilde, wenn sie mehr Vitamine und Mineralstoffe als die dreifache
von anerkannten wissenschaftlichen Institutionen empfohlene Tagesdosis enthalte, sei gerechtfertigt. Diese
Regelvermutung gelte allerdings nur für wasserlösliche Vitamine, während die gefährlicheren fettlöslichen
Vitamine strengeren Beurteilungskriterien genügen müssten.
11
Die Kommission nahm demgegenüber an, dass diese so genannte „Dreifach-Regel“ allgemein gelte, und
wies darauf hin, dass die strengeren Beurteilungskriterien für fettlösliche Vitamine nicht genannt worden
seien. Sie richtete daher am 30. Dezember 1998 an die Bundesrepublik Deutschland eine mit Gründen
versehene Stellungnahme mit der Aufforderung, dieser innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach ihrer
Zustellung nachzukommen.
12
Mit Schreiben vom 14. April 1999 betonte die deutsche Regierung, dass die Frage, ob ein Arzneimittel im
Sinne der Richtlinie 65/65 vorliege, auch ihrer Auffassung nach von Fall zu Fall nach Maßgabe der jeweiligen
Produktmerkmale zu entscheiden sei, und bekräftigte ihren Standpunkt, dass die deutsche Praxis mit dem
Gemeinschaftsrecht in Einklang stehe.
13
Daraufhin hat die Kommission die vorliegende Klage erhoben.
14
Mit Beschlüssen vom 7. April und 10. Mai 2000 sind das Königreich Dänemark und die Republik Finnland als
Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Bundesrepublik Deutschland zugelassen worden.
Zur Klage
15
Die Kommission meint, dass die von Deutschland angewandte Dreifach-Regel Artikel 30 EG‑Vertrag und der
Rechtsprechung des Gerichtshofes, insbesondere dem Urteil vom 30. November 1983 in der Rechtssache
227/82 (Van Bennekom, Slg. 1983, 3883), zuwiderlaufe. Nach diesem Urteil sei die Qualifizierung eines
Vitamins als Arzneimittel von Fall zu Fall unter Berücksichtigung der beim jeweiligen Stand der
wissenschaftlichen Erkenntnis feststehenden pharmakologischen Eigenschaften jedes einzelnen Vitamins
vorzunehmen. Die Dreifach-Regel erfasse jedoch sämtliche Vitaminpräparate, die mehr Vitamine als die
dreifache empfohlene Tagesdosis enthielten. Sie berücksichtige damit nicht die pharmakologischen
Eigenschaften des einzelnen Vitamins und widerspreche folglich dem Gemeinschaftsrecht. Der
Schädlichkeitsgrad von Vitaminen sei unterschiedlich. Eine pauschale oder abstrakte Betrachtung aller
Vitamine, die sich notwendig am strengsten Maßstab zu orientieren habe, gehe somit über das hinaus, was
für das gemeinschaftsrechtlich zulässige Ziel des Gesundheitsschutzes erforderlich sei, und sei daher
unverhältnismäßig.
16
Eine angemessenere Regelung bestünde beispielsweise darin, für jedes einzelne Vitamin nach Maßgabe
seiner Eigenschaften einen Multiplikationsfaktor oder Höchstwert festzulegen, bei dessen Überschreitung
das Präparat als Arzneimittel gelte.
17
Die deutsche Regierung macht zunächst geltend, dass die Klage unzulässig sei, da sie sich undifferenziert
und unabhängig von einem konkreten Sachverhalt auf alle Vitamin- und Mineralstoffpräparate erstrecke.
18
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes müsse eine Klageschrift im Vertragsverletzungsverfahren
genau die Rügen bezeichnen, über die der Gerichtshof entscheiden solle, und im Einzelnen angeben, aus
welchen Tatsachen und Umständen sich der Verstoß ergeben solle. Dies sei hier nicht geschehen. Zum
einen gebe die Kommission nicht konkret an, für welche Vitamine und für welche Mineralstoffe nach ihrer
Erkenntnis eine über der in Deutschland zulässigen Dosierung liegende Höchstgrenze für die Zwecke des
Gesundheitsschutzes in gleicher Weise angemessen wäre. Zum anderen stelle die Kommission nicht klar,
welche Vitamin- oder Mineralstoffprodukte Gegenstand der Klage seien. Damit werde es dem Gerichtshof
nicht ermöglicht, zu prüfen, ob die Bundesrepublik Deutschland in konkreten Fällen ihr Ermessen
überschritten habe.
19
In der Sache weist die deutsche Regierung zunächst darauf hin, dass es im Rahmen einer
Vertragsverletzungsklage der Kommission obliege, das Bestehen der behaupteten Vertragsverletzung
nachzuweisen. Im vorliegenden Fall müsse die Kommission nachweisen, dass die deutschen Behörden in
konkreten Fällen bei der Einstufung eines Produktes als Arzneimittel das ihnen nach der Richtlinie 65/65 und
Artikel 36 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 30 EG) zustehende Ermessen überschritten und den
Begriff des Arzneimittels falsch angewandt hätten. Diesen Beweis habe die Kommission aber nicht erbracht.
Vielmehr habe die deutsche Regierung für Präparate, die vor Erhebung der vorliegenden Klage Gegenstand
von zwei Vorverfahren gewesen seien, den Nachweis erbracht, dass deren Einstufung als Arzneimittel
gerechtfertigt sei.
20
Die Kommission könne auch nicht bloß darauf verweisen, dass die gleichen Präparate in anderen
Mitgliedstaaten keine Arzneimittel seien. Da eine vollständige Harmonisierung fehle, könnten bei der
Qualifizierung eines Erzeugnisses als Arzneimittel zwischen den Mitgliedstaaten Unterschiede fortbestehen
(Urteil vom 20. Mai 1992 in der Rechtssache C-290/90, Kommission/Deutschland, Slg. 1992, I-3317, Randnrn.
15 bis 17). Der Umstand, dass ein Erzeugnis in einem Mitgliedstaat kein Arzneimittel sei, verbiete es einem
anderen Mitgliedstaat nicht, es wegen seiner pharmakologischen Eigenschaften als Arzneimittel einzustufen
(Urteil vom 21. März 1991 in der Rechtssache C-369/88, Delattre, Slg. 1991, I-1487, Randnr. 27).
21
Die deutsche Regierung bestreitet weiterhin das Vorbringen der Kommission, dass in der deutschen Praxis
für die Einstufung von Vitamin- und Mineralstoffpräparaten als Arzneimittel deren Eigenschaften nicht
berücksichtigt würden.
22
So gelte die Dreifach‑Regel, erstens, nicht für sämtliche Vitamine und Mineralstoffe. Bei den Vitaminen werde
zwischen wasserlöslichen Vitaminen und fettlöslichen Vitaminen unterschieden. Die Dreifach‑Regel gelte
nicht für die fettlöslichen Vitamine A und D, für die wegen ihrer erhöhten gesundheitlichen Gefährlichkeit die
einfache Tagesdosis als Obergrenze zur Abgrenzung von Lebensmitteln zu Arzneimitteln herangezogen
werde. Die Dreifach‑Regel werde nur für die wasserlöslichen Vitamine B
1
, B
2
, B
6
, B
12
und C, Niacin, Folsäure,
Pantothensäure und Biotin angewandt und gelte darüber hinaus als Orientierungsleitlinie für die insoweit
vergleichbaren fettlöslichen Vitamine E und K. Die Dreifach‑Regel gelte außerdem nicht für Mineralstoffe.
23
Zweitens sei die Dreifach‑Regel für die Einstufung eines Vitaminpräparats als Arzneimittel nur eine
Orientierungslinie unter vielen. Sie entbinde die deutschen Behörden nicht davon, die konkreten
Eigenschaften eines Präparats ebenso zu bewerten wie sein Erscheinungsbild gegenüber dem Verbraucher.
So sei bei den Präparaten, die Gegenstand der beiden genannten Vorverfahren gewesen seien, die
Dreifach‑Regel in bestimmten Fällen nicht angewandt worden. In anderen Fällen seien Präparate deshalb als
Arzneimittel eingestuft worden, weil sie andere als schädlich betrachtete Stoffe als Vitamine oder
Mineralstoffe enthalten hätten. In wieder anderen Fällen beruhe die Einstufung als Arzneimittel darauf, dass
die fraglichen Präparate Arzneimittel „nach der Bezeichnung“ im Sinne der Richtlinie 65/65 seien.
24
Drittens werde die empfohlene Tagesdosis für jedes einzelne Vitamin nach Maßgabe seiner individuellen
Eigenschaften festgelegt. Daher führe die Dreifach‑Regel zu Ergebnissen, die diese individuellen
Eigenschaften ebenfalls berücksichtigten.
25
Schließlich macht die deutsche Regierung geltend, dass die deutsche Praxis aus Gründen des
Gesundheitsschutzes gerechtfertigt sei.
26
Nach ständiger Rechtsprechung (Urteil Van Bennekom, Randnrn. 26 und 27) richte sich die Einstufung von
Vitaminpräparaten als Lebensmittel oder als Arzneimittel grundsätzlich nach ihrer Dosierung. Die deutsche
Praxis, die zwischen einer lebensmittelrechtlich zu beurteilenden Geringdosierung und einer
arzneimittelrechtlich zu beurteilenden Hochdosierung unterscheide, stehe daher mit der Rechtsprechung
des Gerichtshofes in Einklang. Dass sie sachgerecht sei, finde eine weitere Bestätigung im Urteil des
Gerichtshofes vom 10. Dezember 1998 in der Rechtssache C‑328/97 (Glob‑Sped, Slg. 1998, I‑8357),
demzufolge ein hochdosiertes Vitamin‑C‑Präparat als Arzneiware im Sinne der Kombinierten Nomenklatur
einzustufen sei.
27
Schließlich sei die wissenschaftliche Ermittlung von „Höchstwerten“, bei deren Überschreitung eine
Gesundheitsgefährdung zu besorgen sei, für die meisten Vitamine und Mineralstoffe noch nicht
abgeschlossen; insoweit bestünden noch erhebliche Unsicherheiten. Nach der Rechtsprechung des
Gerichtshofes, die es zur Sache der Mitgliedstaaten erkläre, in den durch den EG‑Vertrag gesetzten Grenzen
zu bestimmen, in welchem Umfang sie den Schutz der menschlichen Gesundheit und des menschlichen
Lebens gewährleisten wollten (Urteil vom 10. November 1994 in der Rechtssache C‑320/93, Ortscheit, Slg.
1994, I‑5243, Randnr. 16), bleibe es der Bundesrepublik Deutschland unbenommen, eine Höchstgrenze
festzusetzen, die gewährleiste, dass im freien Verkauf verfügbare Nahrungsergänzungsmittel nicht in einer
Weise dosiert seien, die dem Verbraucher Schaden zufügen könne.
28
Die Kommission habe nicht angegeben, ab welcher Dosierung zwischen einem Nahrungsergänzungsmittel
und einem Arzneimittel unterschieden werden könne. Sie habe auch nicht erwähnt, dass bestimmte
Mitgliedstaaten strengere Empfehlungen als die der Deutschen Gesellschaft für Ernährung erlassen hätten.
Die vorliegenden wissenschaftlichen Erkenntnisse ließen nicht den Schluss zu, dass die Dreifach‑Regel aus
ernährungswissenschaftlicher oder medizinischer Sicht falsch sei.
29
In ihrer Erwiderung trägt die Kommission vor, dass die Vertragsverletzung nicht die Einstufung des einen
oder anderen einzelnen Präparats betreffe, sondern die Verwaltungspraxis, Präparate durchgängig als
Arzneimittel einzustufen, wenn ihr Gehalt an Vitaminen oder Mineralstoffen die dreifache empfohlene
Tagesdosis überschreite. Diese Praxis gehe über das für den Gesundheitsschutz Erforderliche hinaus, weil
darin nicht von Fall zu Fall entschieden werde; sie sei daher unverhältnismäßig und rechtswidrig. Im Übrigen
sei es für den Erfolg der vorliegenden Klage unerheblich, dass die Durchführung dieser Praxis in manchen
Fällen zu wissenschaftlich vertretbaren Ergebnissen führe, da jedenfalls die Praxis als solche rechtswidrig
sei.
30
Angegriffen werde die Dreifach‑Regel selbstverständlich nur, soweit für die Entscheidung, ob es sich um ein
Arzneimittel handele oder nicht, die Dosierung der Vitamine tatsächlich als ausschlaggebendes Kriterium
herangezogen werde. Die Kommission führt konkrete Fälle an, in denen es sich so verhalten habe. Hingegen
betreffe die Rüge der Dreifach‑Regel nicht die Fälle, in denen Lebensmittel aufgrund der Bezeichnung oder
deshalb, weil sie unzulässige Substanzen enthielten, als Arzneimittel eingestuft würden.
31
Die dänische Regierung macht unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteile Van
Bennekom, Randnr. 28, Delattre, Randnr. 27, und Kommission/Deutschland, Randnrn. 15 und 16) geltend,
dass die Mitgliedstaaten bei der Einstufung eines Erzeugnisses als Lebensmittel oder als Arzneimittel ein
weites Ermessen hätten.
32
Weiterhin ergebe sich aus dem Urteil vom 14. Juli 1983 in der Rechtssache 174/82 (Sandoz, Slg. 1983, 2445,
Randnrn. 11 und 16 bis 18) und dem Urteil Van Bennekom (Randnrn. 36 bis 38 und 41), dass die
Mitgliedstaaten angesichts der Gefahren, die eine übermäßige Aufnahme von Vitaminen für die menschliche
Gesundheit berge, und der ihnen dort, wo nach dem Stand der Forschung noch Unsicherheiten bestünden,
zuerkannten Entscheidungsbefugnis darüber, in welchem Umfang sie den Schutz des menschlichen Lebens
gewährleisten wollten, den Verkauf oder das Bereithalten von aus einem anderen Mitgliedstaat eingeführten
Vitaminpräparaten mit hohem Konzentrationsgrad verbieten dürften, sofern sie Genehmigungen zum
Vertrieb dann erteilten, wenn diese mit den Erfordernissen des Gesundheitsschutzes vereinbar seien.
33
Im Ergebnis ist die dänische Regierung der Auffassung, dass die von den deutschen Behörden angewandte
Dreifach‑Regel, da der gegenwärtige wissenschaftliche Kenntnisstand eine Festsetzung von kritischen
Mengen und Konzentrationen nicht erlaube, mit den Artikeln 30 und 36 EG‑Vertrag und insbesondere mit
dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in Einklang steht.
34
Die finnische Regierung macht unter Verweis auf das Urteil Van Bennekom geltend, dass die Mitgliedstaaten
für Vitamine und Mineralstoffe Höchstwerte festsetzen könnten, bei deren Überschreitung Präparate als
Arzneimittel eingestuft würden, sofern sie unter die Definition des Arzneimittels im Sinne der Richtlinie 65/65
fielen. Unter diese Definition fielen die Präparate, die mehr Vitamine oder Mineralstoffe als die empfohlene
Tagesdosis oder die Referenzzufuhrmenge für eine Bevölkerungsgruppe (Population Reference Intake)
enthielten, da sie der Verhütung von Krankheiten oder der Wiederherstellung, Besserung oder
Beeinflussung der Körperfunktionen dienten. Präparate, deren Vitamin- oder Mineralstoffgehalt unterhalb
dieser Werte bleibe, seien hingegen Lebensmittel.
35
Sollte Artikel 30 EG‑Vertrag anwendbar sein, so sei die deutsche Praxis aus Gründen des
Gesundheitsschutzes und des Verbraucherschutzes gerechtfertigt.
36
In ihrer Stellungnahme zu den Streithilfeschriftsätzen führt die Kommission aus, dass sie vorbehaltlich der
ausdrücklichen Bestätigung seitens der deutschen Regierung in der mündlichen Verhandlung, dass
Präparate mit den Vitaminen A oder D und Präparate mit Mineralstoffen nicht unter die Dreifach‑Regel fielen,
ihre Klage auf die Einstufung von Präparaten beschränken werde, die wasserlösliche Vitamine oder die
fettlöslichen Vitamine E oder K enthielten.
37
Zu diesen Präparaten führt die Kommission aus, dass die Mitgliedstaaten zwar mangels einer
Harmonisierung einen Beurteilungsspielraum hätten, in welchem Umfang sie den Schutz der Gesundheit
gewährleisten wollten, dass sie aber den freien Warenverkehr nicht dadurch beeinträchtigen dürften, dass
die Gefährlichkeit der Vitamine mit einem einheitlichen Multiplikationsfaktor bestimmt werde. Es gebe keinen
unmittelbaren, systematischen Zusammenhang zwischen der Höhe der empfohlenen Tagesdosis und der
potenziellen Gefährlichkeit eines Vitamins. So sei erwiesen, dass die Einnahme einer höheren Menge von
Vitamin C weitgehend ungefährlich sei, während anderes beispielsweise für die fettlöslichen Vitamine E und
K gelte. Zögen die deutschen Behörden die in dem Bericht des Wissenschaftlichen
Lebensmittelausschusses (Stellungnahme vom 11. Dezember 1992) enthaltenen Höchstmengen, deren
Überschreitung zu einer Gefahr für die Gesundheit führen könne, oder die in dem Bericht der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung aus dem Jahr 2000 angegebenen Tageshöchstwerte heran, so wäre ihnen kein
Vorwurf zu machen.
38
Berücksichtige man, dass die unbedenkliche Höchstmenge für einige Vitamine und Mineralstoffe nur leicht
über der empfohlenen Tagesdosis liege, für andere Vitamine hingegen um ein Vielfaches darüber, so
bedeute dies, dass die Bestimmung der unbedenklichen Höchstwerte nicht für alle Vitamine anhand der
Dreifach-Regel erfolgen könne.
Zur Zulässigkeit
39
Die Kommission hat genau bezeichnet, über welche Rügen gegen die Bundesrepublik Deutschland der
Gerichtshof entscheiden soll, und sie hat dargelegt, aus welchen Tatsachen und Umständen sich die
Vertragsverletzung ergeben soll.
40
Sie hat nämlich sowohl im Mahnschreiben und in der mit Gründen versehenen Stellungnahme als auch in der
Klageschrift klar den Streitgegenstand definiert, der nicht darin besteht, dass genau bestimmte
Vitaminpräparate als Arzneimittel qualifiziert werden, sondern in der deutschen Praxis, Vitaminpräparate
durchgängig und unabhängig davon, welches einzelne Vitamin sie enthalten, als Arzneimittel einzustufen,
wenn ihr Vitamingehalt die dreifache empfohlene Tagesdosis überschreitet.
41
Weiterhin hat die Kommission ausdrücklich klargestellt, dass ihre Klage nicht bezwecke, den Gerichtshof
dazu zu veranlassen, in die wissenschaftliche Diskussion über die für die Einstufung von Vitaminen als
Arzneimittel festzusetzenden Schwellenwerte einzugreifen, sondern allein die Tatsache betreffe, dass in der
deutschen Praxis die pharmakologischen Eigenschaften des einzelnen Vitamins, die von Vitamin zu Vitamin
unterschiedlich seien, keine Berücksichtigung fänden.
42
Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (in diesem Sinne Urteile vom 9. Mai 1985 in der Rechtssache
21/84, Kommission/Frankreich, Slg. 1985, 1355, Randnrn. 13 und 15, vom 12. März 1998 in der Rechtssache
C‑187/96, Kommission/Griechenland, Slg. 1998, I-1095, Randnr. 23, und vom 29. Oktober 1998 in der
Rechtssache C‑185/96, Kommission/Griechenland, Slg. 1998, I‑6601, Randnr. 35) kann Gegenstand einer
Vertragsverletzungsklage auch eine Verwaltungspraxis sein, wenn es sich um eine in bestimmtem Grad
verfestigte und allgemeine Praxis handelt.
43
Im vorliegenden Fall ist der Klagebeantwortung der deutschen Regierung zu entnehmen, dass die deutschen
Behörden ein Vitaminpräparat, dessen Vitamingehalt die dreifache empfohlene Tagesdosis überschreitet, in
Anwendung der Dreifach‑Regel durchgängig als Arzneimittel einstufen, selbst wenn es für diese Einstufung
keine anderen Gründe gibt, wie etwa seinen Gehalt an als schädlich betrachteten Substanzen, die keine
Vitamine sind, oder seine Eigenschaft als Arzneimittel „nach der Bezeichnung“ im Sinne der Richtlinie 65/65.
44
Demnach ist die von der deutschen Regierung erhobene Unzulässigkeitseinrede zurückzuweisen.
Zur Begründetheit
45
Es ist vorab festzustellen, dass die Kommission angesichts der von der deutschen Regierung während des
vorliegenden Verfahrens gegebenen Erläuterungen, dass die Dreifach‑Regel für Vitaminpräparate mit den
Vitaminen A oder D und für Mineralstoffpräparate nicht angewandt werde, ihre Klage hinsichtlich der
Einstufung dieser Präparate als Arzneimittel zurückgenommen hat. Damit betrifft die Klage nur noch die
Einstufung von Präparaten, die andere Vitamine als die Vitamine A und D enthalten.
46
Demgemäß beziehen sich die folgenden Ausführungen im vorliegenden Urteil auf alle Vitamine außer den
Vitaminen A und D und auf die sie enthaltenden Präparate.
47
Wie ebenfalls vorab klarzustellen ist, betrifft die Rüge der Kommission nur die durchgängige Einstufung von
Vitaminpräparaten als Arzneimittel allein aufgrund des Kriteriums, dass ihr Vitamingehalt die dreifache
empfohlene Tagesdosis überschreitet. Insbesondere legt die Kommission den deutschen Behörden nicht zur
Last, dass sie Präparate, die als Mittel zur Heilung oder zur Verhütung von Humankrankheiten bezeichnet
werden und daher unter die Definition des Arzneimittels „nach der Bezeichnung“ fallen, unabhängig von
ihrem Vitamingehalt als Arzneimittel einstufen.
48
Der Vorwurf der Vertragsverletzung richtet sich also gegen die deutsche Praxis, Vitaminpräparate, die in
anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig als Nahrungsergänzungsmittel hergestellt und in den Verkehr gebracht
werden, durchgängig als Arzneimittel „nach der Funktion“ einzustufen, wenn ihr Vitamingehalt die dreifache
empfohlene Tagesdosis überschreitet.
49
Den Artikeln 2 und 3 der Richtlinie 65/65 ist zu entnehmen, dass ein industriell hergestelltes Arzneimittel in
einem Mitgliedstaat nicht in den Verkehr gebracht werden darf, wenn dafür keine Genehmigung für das
Inverkehrbringen (Verkehrsgenehmigung) erteilt wurde.
50
Folglich stellt es, wenn ein industriell hergestelltes Erzeugnis unter die Definition des Arzneimittels gemäß
Artikel 1 Nummer 2 der Richtlinie 65/65 fällt, keine durch Artikel 30 EG‑Vertrag verbotene Beschränkung des
innergemeinschaftlichen Handels dar, den Importeur zu verpflichten, vor der Vermarktung des Erzeugnisses
im Einfuhrmitgliedstaat gemäß der Richtlinie 65/65 eine Verkehrsgenehmigung einzuholen (in diesem Sinne
Urteil vom 11. Dezember 2003 in der Rechtssache C‑322/01, Deutscher Apothekerverband, Slg. 2003, I-0000,
Randnrn. 48, 52 und 53).
51
Im Übrigen ist daran zu erinnern, dass die Richtlinie 65/65 zwar im Wesentlichen bezweckt, die Hindernisse
für den Handel mit Arzneimitteln innerhalb der Gemeinschaft zu beseitigen, und hierfür in Artikel 1 eine
Definition des Arzneimittels gibt, dass sie aber nur einen ersten Schritt zur Harmonisierung der nationalen
Regelungen für die Herstellung und den Vertrieb von pharmazeutischen Erzeugnissen darstellt (u. a. Urteil
Kommission/Deutschland, Randnr. 15).
52
Bei diesem Stand des Gemeinschaftsrechts lässt es sich kaum vermeiden, dass im Kontext der Richtlinie
65/65 Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bei der Qualifizierung von Erzeugnissen bestehen bleiben,
solange die Harmonisierung der zur Gewährleistung des Gesundheitsschutzes erforderlichen Maßnahmen
nicht vollständiger ist (u. a. Urteile vom 6. November 1997 in der Rechtssache C‑201/96, LTM, Slg. 1997,
I‑6147, Randnr. 24, und vom 12. März 1998 in der Rechtssache C‑270/96, Laboratoires Sarget, Slg. 1998,
I‑1121, Randnr. 23).
53
Dass ein Erzeugnis in einem anderen Mitgliedstaat als Lebensmittel qualifiziert wird, steht daher nicht dem
entgegen, ihm im Einfuhrstaat dann die Eigenschaft eines Arzneimittels zuzuerkennen, wenn es die
entsprechenden Merkmale aufweist (u. a. Urteile Delattre, Randnr. 27, LTM, Randnr. 24, und Laboratoires
Sarget, Randnr. 23).
54
Was des Näheren Vitaminpräparate angeht, so gab es zu dem für die vorliegende Klage maßgebenden
Zeitpunkt, wie die Kommission eingeräumt hat, im Gemeinschaftsrecht auf dem Gebiet der Einstufung dieser
Präparate als Arzneimittel oder als Lebensmittel keine Harmonisierung.
55
Es ist demnach zunächst zu prüfen, ob Vitaminpräparate, deren Vitamingehalt die dreifache empfohlene
Tagesdosis überschreitet, Arzneimittel „nach der Funktion“ im Sinne von Artikel 1 Nummer 2 Unterabsatz 2
der Richtlinie 65/65 sind.
56
Da Vitamine gewöhnlich als Stoffe definiert werden, die in ganz geringer Menge für die tägliche Ernährung
und das ordnungsgemäße Funktionieren des Organismus unbedingt erforderlich sind, können sie im
Allgemeinen nicht als Medikamente angesehen werden, soweit sie nur in kleinen Mengen eingenommen
werden. Dagegen ist unstreitig, dass Vitaminpräparate bisweilen, im Allgemeinen in starken Dosen, zu
therapeutischen Zwecken bei bestimmten Krankheiten verwendet werden, deren Ursache nicht der
Vitaminmangel ist. In diesen Fällen stellen diese Vitaminpräparate unbestreitbar Arzneimittel dar (Urteil Van
Bennekom, Randnrn. 26 und 27).
57
Daher obliegt es nach ständiger Rechtsprechung – vorbehaltlich gerichtlicher Kontrolle – den nationalen
Behörden, von Fall zu Fall zu entscheiden, ob ein Vitaminpräparat als Arzneimittel einzustufen ist, und dabei
alle seine Merkmale, insbesondere seine Zusammensetzung, seine pharmakologischen Eigenschaften – so,
wie sie sich beim jeweiligen Stand der Wissenschaft feststellen lassen –, die Modalitäten seiner Anwendung,
den Umfang seiner Verbreitung, seine Bekanntheit bei den Verbrauchern und die Risiken, die seine
Verwendung mit sich bringen kann, zu berücksichtigen (u. a. Urteile Van Bennekom, Randnr. 29, vom 21.
März 1991 in der Rechtssache C‑60/89, Monteil und Samanni, Slg. 1991, I‑1547, Randnr. 29, vom 16. April
1991 in der Rechtssache C‑112/89, Upjohn, Slg. 1991, I‑1703, Randnr. 23, und Kommission/Deutschland,
Randnr. 17).
58
Die zuständigen nationalen Behörden können also auch andere Merkmale als dasjenige berücksichtigen, ob
ein Erzeugnis ein Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung birgt. Es liegt auf der Hand, dass sich auch ein
Erzeugnis, das kein reales Risiko für die Gesundheit darstellt, auf das Funktionieren des Organismus
auswirken kann. Für die Einstufung eines Erzeugnisses als Arzneimittel „nach der Funktion“ müssen sich die
Behörden daher vergewissern, dass es zur Wiederherstellung, Besserung oder Beeinflussung der
Körperfunktionen bestimmt ist und somit Auswirkungen auf die Gesundheit im Allgemeinen haben kann
(Urteil Upjohn, Randnr. 17).
59
Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die deutsche Praxis in der Anwendung der allgemeinen Regel,
dass Vitaminpräparate als Arzneimittel eingestuft werden, sobald ihr Vitamingehalt die dreifache empfohlene
Tagesdosis überschreitet, besteht, die für alle diese Präparate unterschiedslos unabhängig davon gilt,
welches Vitamin sie enthalten.
60
Diese Praxis unterscheidet also nicht nach den verschiedenen in den geprüften Präparaten enthaltenen
Vitaminen, obgleich die Vitamine unstreitig unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesundheit im
Allgemeinen und insbesondere unterschiedliche etwaige Schädlichkeitsgrade haben. Daher kann die
Dreifach‑Regel wegen ihrer unterschiedslosen Anwendung zur Folge haben, dass bestimmte
Vitaminpräparate als Arzneimittel eingestuft werden, obwohl sie nicht „zur Wiederherstellung, Besserung
oder Beeinflussung der menschlichen Körperfunktionen“ geeignet sind.
61
Die deutsche Regierung macht geltend, dass die empfohlene Tagesdosis für jedes einzelne Vitamin nach
Maßgabe seiner besonderen Merkmale spezifisch festgelegt werde und infolgedessen die Dreifach-Regel zu
Ergebnissen führe, die diesen Merkmalen durchaus Rechnung trügen.
62
Die Einstufung eines Vitaminpräparats als Arzneimittel, die ausschließlich auf die empfohlene Tagesdosis
des darin enthaltenen Vitamins und damit auf eine Dosis gestützt ist, die potenziell den Bedarf aller
gesunden Individuen der in Frage stehenden Bevölkerungsgruppe an diesem Vitamin deckt, genügt jedoch
nicht vollständig dem Erfordernis, dass jedes Vitaminpräparat nach Maßgabe seiner pharmakologischen
Eigenschaften einzustufen ist. Somit ergibt sich, auch wenn bei Anwendung der Dreifach-Regel die
Vitaminkonzentration, von der an ein Präparat als Arzneimittel eingestuft wird, je nach Vitamin variiert,
daraus noch nicht notwendig der Schluss, dass jedes Vitaminpräparat, dessen Vitamingehalt die dreifache
empfohlene Tagesdosis überschreitet, unter die Definition des Arzneimittels „nach der Funktion“ im Sinne
der Richtlinie 65/65 fällt.
63
Unter diesen Umständen ist, zweitens, zu prüfen, ob das nach der deutschen Praxis bestehende Erfordernis
einer Genehmigung für das Inverkehrbringen als Arzneimittel eine durch Artikel 30 EG‑Vertrag verbotene
Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine Einfuhrbeschränkung darstellt und ob dieses Erfordernis
gegebenenfalls nach Artikel 36 EG‑Vertrag zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gerechtfertigt sein
kann.
64
Das in Artikel 30 EG‑Vertrag normierte Verbot von Maßnahmen gleicher Wirkung erfasst jede Regelung der
Mitgliedstaaten, die geeignet ist, den innergemeinschaftlichen Handel unmittelbar oder mittelbar,
tatsächlich oder potenziell zu behindern (u. a. Urteile vom 11. Juli 1974 in der Rechtssache 8/74, Dassonville,
Slg. 1974, 837, Randnr. 5, und vom 23. September 2003 in der Rechtssache C‑192/01,
Kommission/Dänemark, Slg. 2003, I‑0000, Randnr. 39).
65
Im vorliegenden Fall behindert die deutsche Praxis den Handel, da Vitaminpräparate, die in anderen
Mitgliedstaaten rechtmäßig als Nahrungsergänzungsmittel in den Verkehr gebracht oder hergestellt werden,
in Deutschland erst vertrieben werden dürfen, wenn sie eine Verkehrsgenehmigung für Arzneimittel erhalten
haben.
66
Der Gerichtshof hat bereits entschieden, dass ein Erzeugnis, das kein Arzneimittel im Sinne von Artikel 1
Nummer 2 der Richtlinie 65/65 ist, im nationalen Recht eines Mitgliedstaats – vorbehaltlich der Artikel 30 ff.
EG‑Vertrag über die aus anderen Mitgliedstaaten eingeführten Erzeugnisse – der für Arzneimittel geltenden
Regelung unterworfen werden kann (Urteile Van Bennekom, Randnrn. 15, 30, 31 und 38, vom 20. März 1986
in der Rechtssache 35/85, Tissier, Slg. 1986, 1207, Randnr. 22, und vom 28. Oktober 1992 in der
Rechtssache C‑219/91, Ter Voort, Slg. 1992, I‑5485, Randnr. 42).
67
Es ist daher weiter zu prüfen, ob die deutsche Praxis nach Artikel 36 EG‑Vertrag gerechtfertigt werden kann.
68
Soweit beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung noch Unsicherheiten bestehen, ist es
hierbei mangels einer Harmonisierung Sache der Mitgliedstaaten, unter Berücksichtigung der Erfordernisse
des freien Warenverkehrs innerhalb der Gemeinschaft zu bestimmen, in welchem Umfang sie den Schutz der
Gesundheit und des Lebens von Menschen gewährleisten wollen und ob sie für das Inverkehrbringen der
Lebensmittel eine vorherige Zulassung verlangen (Urteile Sandoz, Randnr. 16, Van Bennekom, Randnr. 37,
Kommission/Dänemark, Randnr. 42, und vom 5. Februar 2004 in der Rechtssache C‑24/00,
Kommission/Frankreich, Slg. 2004, I‑0000, Randnr. 49).
69
Dieses den Gesundheitsschutz betreffende Ermessen ist von besonderer Bedeutung, wenn nachgewiesen
wird, dass beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Forschung Unsicherheiten hinsichtlich
bestimmter Stoffe wie der Vitamine bestehen, die im Allgemeinen an sich nicht schädlich sind, die jedoch bei
übermäßigem Verzehr mit der gesamten in ihrer Zusammensetzung unvorhersehbaren und
unkontrollierbaren Nahrung besondere schädliche Wirkungen hervorrufen können (Urteile Sandoz, Randnr.
17, Kommission/Dänemark, Randnr. 43, und vom 5. Februar 2004, Kommission/Frankreich, Randnr. 50).
70
Es läuft daher grundsätzlich nicht dem Gemeinschaftsrecht zuwider, dass ein Mitgliedstaat verbietet,
Lebensmittel ohne vorherige Zulassung in den Verkehr zu bringen, wenn ihnen Nährstoffe wie andere
Vitamine als diejenigen, deren Zusatz durch die gemeinschaftliche Regelung für zulässig erklärt wird,
zugesetzt worden sind (Urteile Kommission/Dänemark, Randnr. 44, und vom 5. Februar 2004,
Kommission/Frankreich, Randnr. 51).
71
Allerdings müssen die Mitgliedstaaten bei der Ausübung ihres den Gesundheitsschutz betreffenden
Ermessens den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einhalten. Die von ihnen gewählten Maßnahmen sind
daher auf das Maß dessen zu beschränken, was zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung tatsächlich
erforderlich ist; sie müssen in einem angemessenen Verhältnis zu dem verfolgten Ziel stehen, und sie
müssen diejenigen Maßnahmen zur Erreichung dieses Ziels darstellen, die den innergemeinschaftlichen
Handelsverkehr am wenigsten beschränken (Urteile Sandoz, Randnr. 18, Van Bennekom, Randnr. 39,
Kommission/Dänemark, Randnr. 45, und vom 5. Februar 2004, Kommission/Frankreich, Randnr. 52).
72
Da Artikel 36 EG‑Vertrag zudem eine – eng auszulegende – Ausnahme vom Grundsatz des freien
Warenverkehrs innerhalb der Gemeinschaft darstellt, ist es Sache der nationalen Behörden, die sich hierauf
berufen, in jedem Einzelfall im Licht der inländischen Ernährungsgewohnheiten und unter Berücksichtigung
der Ergebnisse der internationalen wissenschaftlichen Forschung darzulegen, dass ihre Regelung zum
wirksamen Schutz der von dieser Bestimmung erfassten Interessen erforderlich ist, insbesondere, dass das
Inverkehrbringen der in Frage stehenden Erzeugnisse ein reales Risiko für die Gesundheit der Bevölkerung
darstellt (Urteile Sandoz, Randnr. 22, Van Bennekom, Randnr. 40, Kommission/Dänemark, Randnr. 46, und
vom 5. Februar 2004, Kommission/Frankreich, Randnr. 53).
73
Im vorliegenden Fall rügt die Kommission, dass die deutsche Praxis deshalb nicht verhältnismäßig sei, weil
sie nicht auf einer Einzelfallprüfung beruhe, sondern auf einem allgemeinen, durchgängig angewandten
Beurteilungsmaßstab. Es ist daher zu prüfen, ob das mit dieser Praxis verfolgte Ziel, die Gesundheit der
Bevölkerung zu schützen, nicht durch Maßnahmen hätte erreicht werden können, die den
innergemeinschaftlichen Handelsverkehr weniger beschränken.
74
Auch wenn das Gemeinschaftsrecht grundsätzlich, wie oben in Randnummer 70 ausgeführt, einer Regelung
der vorherigen Zulassung nicht entgegensteht, ist doch festzustellen, dass die Erteilung einer
Verkehrsgenehmigung für die in Frage stehenden Vitaminpräparate als Arzneimittel besonders strengen
Voraussetzungen unterliegt.
75
So muss für eine solche Zulassung nach Artikel 4 der Richtlinie 65/65 die für das Inverkehrbringen
verantwortliche Person ihrem Antrag Angaben und Unterlagen beifügen u. a. über die Zusammensetzung
nach Art und Menge aller Bestandteile des Arzneimittels (Artikel 4 Absatz 3 Nr. 3), über – in summarischer
Form – die Zubereitungsweise (Artikel 4 Absatz 3 Nr. 4), über Heilanzeigen, Gegenanzeigen und
Nebenwirkungen (Artikel 4 Absatz 3 Nr. 5), über die Dosierung, die Darreichungsform, die Art und Form der
Anwendung und die mutmaßliche Haltbarkeitsdauer (Artikel 4 Absatz 3 Nr. 6), über die vom Hersteller
angewandten Kontrollmethoden (Artikel 4 Absatz 3 Nr. 7) und über die Ergebnisse von
physikalisch‑chemischen, biologischen oder mikrobiologischen, pharmazeutischen, toxikologischen und
klinischen Versuchen (Artikel 4 Absatz 3 Nr. 8). Außerdem muss der für das Inverkehrbringen Verantwortliche
nachweisen, dass der Hersteller in seinem Land die Genehmigung zur Herstellung von Arzneimitteln besitzt
(Artikel 4 Absatz 3 Nr. 10).
76
Weiterhin sind die Vorschriften über den Vertrieb von Arzneimitteln wesentlich strenger als die über den
Lebensmittelvertrieb (vgl. Richtlinie 92/25/EWG des Rates vom 31. März 1992 über den Großhandelsvertrieb
von Humanarzneimitteln [ABl. L 113, S. 1]), den Lebensmittelverkauf (vgl. Richtlinien 92/26/EWG des Rates
vom 31. März 1992 zur Einstufung bei der Abgabe von Humanarzneimitteln [ABl. L 113, S. 5] und 92/27/EWG
des Rates vom 31. März 1992 über die Etikettierung und die Packungsbeilage von Humanarzneimitteln [ABl.
L 113, S. 8]) und die Lebensmittelwerbung (vgl. Richtlinie 92/28/EWG des Rates vom 31. März 1992 über die
Werbung für Humanarzneimittel [ABl. L 113, S. 13]).
77
Unter diesen Umständen könnte die deutsche Praxis nur dann als verhältnismäßig angesehen werden, wenn
das Verbot, die in Frage stehenden Vitaminpräparate als Lebensmittel in den Verkehr zu bringen, und die
obligatorische Einholung einer Verkehrsgenehmigung für Arzneimittel tatsächlich in jedem Einzelfall zum
Schutz der Gesundheit der Bevölkerung erforderlich sind.
78
Im Rahmen dieser Praxis wird das Inverkehrbringen sämtlicher Vitaminpräparate, die mehr als die dreifache
empfohlene Tagesdosis enthalten, durchgängig davon abhängig gemacht, dass eine Verkehrsgenehmigung
für Arzneimittel erteilt worden ist, ohne dass dabei nach den verschiedenen zugesetzten Vitaminen und
insbesondere nach der Höhe des Risikos, das dieser Zusatz möglicherweise für die Gesundheit der
Bevölkerung begründet, unterschieden wird.
79
Die Durchgängigkeit dieser Praxis macht es somit unmöglich, ein reales Risiko für die Gesundheit der
Bevölkerung zu ermitteln und zu bewerten, wofür in jedem Einzelfall eine eingehende Prüfung der mit dem
Zusatz der fraglichen Vitamine möglicherweise verbundenen Folgen erforderlich wäre (in diesem Sinne Urteil
Kommission/Dänemark, Randnr. 56).
80
Nach dieser Praxis ist auch für ein Vitaminpräparat, dessen Inverkehrbringen für die Gesundheit der
Bevölkerung kein reales Risiko bedeutete, eine Verkehrsgenehmigung für Arzneimittel erforderlich.
81
Eine weniger beschränkende Maßnahme bestünde darin, für jedes Vitamin oder jede Vitamingruppe nach
Maßgabe ihrer jeweiligen pharmakologischen Eigenschaften einen Grenzwert festzulegen, bei dessen
Überschreitung die Präparate, die eines dieser Vitamine enthalten, in der innerstaatlichen Rechtsordnung
dem Arzneimittelrecht unterlägen, während unterhalb dieses Grenzwerts für sie eine einfache
Vertriebsgenehmigung erteilt würde.
82
Würden die zuständigen deutschen Behörden für die Einstufung von Vitaminpräparaten die
pharmakologischen Eigenschaften jedes einzelnen Vitamins oder jeder Vitamingruppe berücksichtigen, so
könnte dies zwar für bestimmte Präparate in gerechtfertigter Weise zu dem gleichen Ergebnis führen wie die
Dreifach‑Regel. Für die Entscheidung über die vorliegende Vertragsverletzungsklage ist dies jedoch ohne
Bedeutung. Wie oben in Randnummer 73 ausgeführt, sind Streitgegenstand nämlich die durchgängige
Anwendung der Dreifach-Regel und der Umstand, dass sie nicht auf einer Einzelfallprüfung beruht.
83
Nach alledem hat die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 30
EG‑Vertrag verstoßen, dass sie Vitaminpräparate, die in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig als
Nahrungsergänzungsmittel hergestellt oder in den Verkehr gebracht werden, hinsichtlich aller Vitamine
außer den Vitaminen A und D bei Überschreiten der dreifachen von der Deutschen Gesellschaft für
Ernährung empfohlenen Tagesdosis durchgängig als Arzneimittel einstuft.
Kosten
84
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu
verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr gemäß dem
Antrag der Kommission die Kosten aufzuerlegen. Nach Artikel 69 § 4 der Verfahrensordnung tragen die
Mitgliedstaaten und die Organe, die dem Rechtsstreit als Streithelfer beigetreten sind, ihre eigenen Kosten.
Das Königreich Dänemark und die Republik Finnland tragen daher ihre eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1.
Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 30
EG‑Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 28 EG) verstoßen, dass sie Vitaminpräparate, die
in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig als Nahrungsergänzungsmittel hergestellt oder in
den Verkehr gebracht werden, hinsichtlich aller Vitamine außer den Vitaminen A und D bei
Überschreiten der dreifachen von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung empfohlenen
Tagesdosis durchgängig als Arzneimittel einstuft.
2.
Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.
3.
Das Königreich Dänemark und die Republik Finnland tragen ihre eigenen Kosten.
Skouris
Cunha Rodrigues
Schintgen
Macken
Colneric
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. April 2004.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
V. Skouris
Verfahrenssprache: Deutsch.