Urteil des EuGH vom 19.02.2002

EuGH: gerichtliche zuständigkeit, nummer, erfüllungsort, ort der erfüllung, charakteristische leistung, unterlassungspflicht, belgien, unternehmen, kommission, vertragsstaat

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES
19. Februar 2002
„Brüsseler Übereinkommen - Artikel 5 Nummer 1 - Zuständigkeit in vertraglichen Streitigkeiten - Erfüllungsort
- Geografisch unbegrenzt geltende Unterlassungspflicht - Verpflichtung zweier Unternehmen, im
Zusammenhang mit einem öffentlichen Auftrag keine Bindung mit anderen Partnern einzugehen -
Anwendung von Artikel 2“
In der Rechtssache C-256/00
wegen eines dem Gerichtshof gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des
Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung
gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- undHandelssachen durch den Gerichtshof von der Cour d'appel Brüssel
(Belgien) in dem bei dieser anhängigen Rechtsstreit
Besix SA
gegen
Wasserreinigungsbau Alfred Kretzschmar GmbH & Co. KG (WABAG),
Planungs- und Forschungsgesellschaft Dipl. Ing. W. Kretzschmar GmbH & Co. KG (Plafog)
vorgelegten Ersuchens um Vorabentscheidung über die Auslegung von Artikel 5 Nummer 1 des genannten
Übereinkommens vom 27. September 1968 (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens
vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs
Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1 und - geänderte Fassung - S. 77)
erlässt
DER GERICHTSHOF
unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, des Kammerpräsidenten P. Jann, der
Kammerpräsidentinnen F. Macken und N. Colneric sowie der Richter A. La Pergola, J.-P. Puissochet, M.
Wathelet, R. Schintgen (Berichterstatter) und V. Skouris,
Generalanwalt: S. Alber
Kanzler: R. Grass
unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen
- der Besix SA, vertreten durch A. Delvaux, avocat,
- der Wasserreinigungsbau Alfred Kretzschmar GmbH & Co. KG (WABAG) und der Planungs- und
Forschungsgesellschaft Dipl. Ing. W. Kretzschmar GmbH & Co. KG (Plafog), vertreten durch P. Hallet, avocat,
- der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch J. L. Iglesias Buhigues und X. Lewis
als Bevollmächtigte,
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 27. September 2001,
folgendes
Urteil
1.
Die Cour d'appel Brüssel hat mit Urteil vom 19. Juni 2000, beim Gerichtshof eingegangen am 28. Juni
2000, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27.
September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher
Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen durch den Gerichtshof eine Frage nach der Auslegung
von Artikel 5 Nummer 1 dieses Übereinkommens (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des
Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des
Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland (ABl. L 304, S. 1, und - geänderte Fassung - S.
77) (im Folgenden: Übereinkommen) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
2.
Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Gesellschaft belgischen Rechts Besix SA
(im Folgenden: Besix) mit Sitz in Brüssel (Belgien) und den in Kulmbach (Deutschland) ansässigen
Gesellschaften deutschen Rechts Wasserreinigungsbau Alfred Kretzschmar GmbH & Co. KG (im
Folgenden: WABAG) und Planungs- und Forschungsgesellschaft Dipl. Ing. W. Kretzschmar GmbH & Co.
KG (im Folgenden: Plafog) wegen Schadensersatzes, den Besix von WABAG und Plafog wegen
Verletzung einer Ausschließlichkeitsklausel in einem einen öffentlichen Auftrag betreffenden Vertrag
durch diese verlangt.
Brüsseler Übereinkommen
3.
Die Zuständigkeitsvorschriften des Übereinkommens finden sich in dessen Titel II mit den Artikeln 2
bis 24.
4.
Artikel 2 Absatz 1 des Übereinkommens, der zum 1. Abschnitt „Allgemeine Vorschriften“ des Titels II
gehört, lautet:
„Vorbehaltlich der Vorschriften dieses Übereinkommens sind Personen, die ihren Wohnsitz in dem
Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den
Gerichten dieses Staates zu verklagen.“
5.
Im selben Abschnitt bestimmt Artikel 3 Absatz 1:
„Personen, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, können vor den
Gerichten eines anderen Vertragsstaats nur gemäß den Vorschriften des 2. bis 6. Abschnitts verklagt
werden.“
6.
In Artikel 5 im 2. Abschnitt „Besondere Zuständigkeiten“ des Titels II des Übereinkommens heißt es:
„Eine Person, die ihren Wohnsitz in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, kann in einem
anderen Vertragsstaat verklagt werden:
1. wenn ein Vertrag oder Ansprüche aus einem Vertrag den Gegenstand des Verfahrens bilden, vor
dem Gericht des Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre.
...“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage
7.
Nach den Akten des Ausgangsverfahrens unterzeichneten WABAG, die zur Gruppe Deutsche
Babcock gehört, und Besix am 24. Januar 1984 in Brüssel einen in Französisch abgefassten Vertrag,
mit dem sie sich zur Abgabe eines gemeinsamen Angebots für einen öffentlichen Auftrag des
Vorhabens „Wasserzuführung in elf städtischen Zentren von Kamerun“ des Ministeriums für Bergbau
und Energie von Kamerun und im Fall des Zuschlags zu gemeinsamer Vertragserfüllung verpflichteten.
8.
Laut dem unterzeichneten Vertrag verpflichteten sich die beiden Unternehmen, „Ausschließlichkeit
zu wahren ... und keine Bindung mit anderen Partnern einzugehen“.
9.
Bei der Öffnung der Angebote stellte sich jedoch heraus, dass Plafog, die wie WABAG zur Gruppe
Deutsche Babcock gehört, gemeinsam mit einem finnischen Unternehmen ebenfalls ein Angebot für
den fraglichen öffentlichen Auftrag abgegeben hatte.
10.
Nach Prüfung aller Angebote teilte man den Auftrag auf und vergab die Arbeiten in verschiedenen
Losen an mehrere Unternehmen. Ein Los erhielt die Arbeitsgemeinschaft, zu der Plafog gehörte,
während die schlechter eingestufte Arbeitsgemeinschaft WABAG-Besix keinen der Teilaufträge bekam.
11.
Da nach Auffassung von Besix eine Verletzung der Ausschließlichkeits- und
Wettbewerbsverbotsklausel vorlag, erhob sie am 19. August 1987 beim Tribunal de commerce Brüssel
gegen WABAG und Plafog eine Klage auf Schadensersatz in Höhe von 80 000 000 BEF.
12.
Das Tribunal de commerce bejahte seine Zuständigkeit für die Klage gemäß Artikel 5 Nummer 1 des
Übereinkommens, da nach dem Kollisionsrecht des angerufenen Gerichts das Recht des Staates
anwendbar sei, zu dem der Vertrag die engsten Beziehungen aufweise, und da die Verpflichtung zur
Ausschließlichkeit als Nebenpflicht der Ausarbeitung des gemeinsamen Angebots in Belgien zu
erfüllen sei.
13.
Es wies die Klage aber als unbegründet ab, woraufhin Besix Berufung bei der Cour d'appel Brüssel
einlegte.
14.
Im Wege der Anschlussberufung erhoben WABAG und Plafog die Einwendung, dass für den
Rechtsstreit allein die deutschen Gerichte zuständig seien.
15.
Besix verwies hingegen darauf, dass die Ausschließlichkeitspflicht bereits teilweise in Belgien erfüllt
worden sei, da das vereinbarte Wettbewerbsverbot die Ausarbeitung des gemeinsamen Angebots
ermöglicht habe und bereits dies die Zuständigkeit der belgischen Gerichte gemäß Artikel 5 Nummer
1 des Übereinkommens begründe.
16.
Die Cour d'appel Brüssel meint, die vertragliche Verpflichtung, die im Sinne von Artikel 5 Nummer 1
des Übereinkommens den Gegenstand des Verfahrens bilde, sei die - nach Auffassung von Besix
durch WABAG und Plafog verletzte - Verpflichtung, im Rahmen des fraglichen öffentlichen Auftrags die
Ausschließlichkeit zu wahren und keine Bindungen mit anderen Partnern einzugehen.
17.
Mit Rücksicht auf die ständige Rechtsprechung seit dem Urteil vom 6. Oktober 1976 in der
Rechtssache 12/76 (Tessili, Slg. 1976, 1473), wonach der Erfüllungsort für die streitige Verpflichtung
nach dem Recht, das nach den Kollisionsnormen des angerufenen Gerichts auf diese Verpflichtung
anwendbar sei, zu ermitteln sei, sowie weiter darauf, dass das - nach dem belgischen
Zustimmungsgesetz erst für ab dem 1. Januar 1988 geschlossene Verträge geltende -
Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht, aufgelegt zur
Unterzeichnung am 19. Juni 1980 in Rom (ABl. L 266, S. 1), hier nicht anwendbar sei, sei nach
belgischem Recht mangels Rechtswahl der Vertragsparteien - wie im vorliegenden Fall - das Recht des
Staates anwendbar, zu dem der Vertrag die engsten Beziehungen aufweise.
18.
Der Vertrag vom 24. Januar 1984 sei in Brüssel geschlossen worden, ferner sei Besix, auf die der
größere Teil des Auftrags entfallen sei, als führendes Unternehmen der Arbeitsgemeinschaft WABAG-
Besix betrachtet worden, und sie habe die Arbeiten am gemeinsamen Angebot in Brüssel koordiniert.
Folglich sei das belgische Recht das Recht des Staates, zu dem der Vertrag einschließlich der in ihm
enthaltenen Ausschließlichkeitsverpflichtung die engsten Beziehungen aufweise.
19.
Belgien sei auch der Ort, an dem die Parteien, da das gemeinsame Angebot dort auszuarbeiten
gewesen sei, faktisch das größte Interesse an der Einhaltung der Ausschließlichkeitsverpflichtung
gehabt hätten, und in allgemeinerer Weise bestünden im vorliegenden Fall zwischen dem Rechtsstreit
und den belgischen Gerichten besonders enge Beziehungen, die die Anwendung von Artikel 5 Nummer
1 des Übereinkommens rechtfertigten.
20.
Dennoch sei fraglich, ob der Umstand, dass die Ausschließlichkeitsverpflichtung insbesondere in
Belgien zu erfüllen gewesen sei - und dort auch tatsächlich erfüllt worden sei, da Plafog mit dem
finnischen Unternehmen in Deutschland verhandelt habe - genüge, um die Zuständigkeit der
belgischen Gerichte zu begründen. Da nämlich der Wille der Parteien eindeutig dahin gegangen sei,
dass sich ihr Vertragspartner nichtgegenüber einem dritten Partner zur Abgabe eines gemeinsamen
Angebots für den öffentlichen Auftrag verpflichte, sei der Ort, wo eine derartige Verpflichtung dennoch
eingegangen oder erfüllt worden sei, nur von geringer Bedeutung, da die streitige
Ausschließlichkeitspflicht weltweit gelte und ihre Erfüllungsorte somit besonders zahlreich seien.
21.
Vor diesem Hintergrund hält die Cour d'appel eine Auslegung des Übereinkommens für notwendig,
um über den Rechtsstreit entscheiden zu können; sie hat demgemäß das Verfahren ausgesetzt und
dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt:
Ist Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens dahin auszulegen, dass eine Person, die ihren Wohnsitz
in dem Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats hat, in einer vertraglichen Streitigkeit in einem anderen
Vertragsstaat vor dem Gericht jedes beliebigen Ortes, an dem die Verpflichtung erfüllt worden ist oder
zu erfüllen wäre, verklagt werden kann, und zwar insbesondere dann, wenn die Verpflichtung - wie im
vorliegenden Fall die Verpflichtung, bei der Abgabe eines gemeinsamen Angebots für einen
öffentlichen Auftrag ausschließlich mit einem Vertragspartner zu handeln und keine Bindung mit einem
anderen Partner einzugehen - auf ein Unterlassen gerichtet und deshalb an jedem Ort der Welt zu
erfüllen ist?
Wenn die vorstehende Frage zu verneinen ist, kann dann die genannte Person vor dem Gericht eines
bestimmten Ortes unter den Orten, an denen die Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre,
verklagt werden, und nach welchem Kriterium ist dieser Ort zu bestimmen?
22.
Wie aus dem Vorlageurteil hervorgeht, hat die Cour d'appel Brüssel zum einen festgestellt, dass die
für die Anwendung von Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens relevante Verpflichtung im
vorliegenden Fall eine Unterlassungspflicht sei, nämlich die Verpflichtung der Parteien, im Rahmen
eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens keine Bindungen mit anderen Partnern einzugehen; zum
anderen hat sie festgestellt, dass die Parteien weder den Erfüllungsort dieser vertraglichen
Verpflichtung noch den Gerichtsstand für einen etwaigen, die Verpflichtung betreffenden Rechtsstreit,
noch das auf den Vertrag anzuwendende Recht bestimmt hätten. Ferner sei nach den Gegebenheiten
des Einzelfalls der eindeutige Wille der Parteien dahin gegangen, die Erfüllung dieser Verpflichtung
weltweit sicherzustellen, so dass die Erfüllungsorte der Verpflichtung besonders zahlreich seien.
23.
Die Vorlagefrage ist im Licht dieser Umstände zu beantworten.
24.
Wie auch das vorlegende Gericht selbst erwähnt, hat der Gerichtshof mehrfach entschieden, dass
die Rechtssicherheit eines der Ziele des Übereinkommens ist (Urteile vom 4. März 1982 in der
Rechtssache 38/81, Effer, Slg. 1982, 825, Randnr. 6, vom 17. Juni 1992 in der Rechtssache C-26/91,
Handte, Slg. 1992, I-3967, Randnrn. 11, 12, 18 und 19, vom 20. Januar 1994 in der Rechtssache C-
129/92, Owens Bank, Slg. 1994, I-117, Randnr. 32, vom 29. Juni 1994 in der Rechtssache C-288/92,
CustomMade Commercial, Slg. 1994, I-2913, Randnr. 18, und vom 28. September 1999 in der
Rechtssache C-440/97, GIE Groupe Concorde u. a., Slg. 1999, I-6307, Randnr. 23).
25.
Mit dem Übereinkommen soll ausweislich seiner Präambel in der Gemeinschaft der Rechtsschutz der
dort ansässigen Personen dadurch gestärkt werden, dass es gemeinsame Zuständigkeitsregeln
festlegt, die eine Sicherheit im Hinblick auf die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen den
verschiedenen nationalen Gerichten, die mit einem Rechtsstreit befasst werden können,
gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil Custom Made Commercial, Randnr. 15).
26.
Der Grundsatz der Rechtssicherheit verlangt insbesondere, dass die von der allgemeinen Regel des
Übereinkommens abweichenden Zuständigkeitsregeln, wie Artikel 5 Nummer 1, so ausgelegt werden,
dass ein informierter, verständiger Beklagter vorhersehen kann, vor welchem anderen Gericht als dem
des Staates, in dem er seinen Wohnsitz hat, er verklagt werden könnte (Urteile Handte, Randnr. 18,
und GIE Groupe Concorde u. a., Randnr. 24).
27.
Nach ständiger Rechtsprechung ist es außerdem unerlässlich, eine Häufung der Gerichtsstände zu
vermeiden, um der Gefahr einander widersprechender Entscheidungen zu begegnen und die
Anerkennung und Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen außerhalb des Urteilsstaats zu
erleichtern (Urteile vom 6. Oktober 1976 in der Rechtssache 14/76, De Bloos, Slg. 1976, 1497,
Randnr. 9, vom 15. Januar 1987 in der Rechtssache 266/85, Shenavai, Slg. 1987, 239, Randnr. 8, vom
13. Juli 1993 in der Rechtssache C-125/92, Mulox IBC, Slg. 1993, I-4075, Randnr. 21, vom 9. Januar
1997 in der Rechtssache C-383/95, Rutten, Slg. 1997, I-57, Randnr. 18, und vom 5. Oktober 1999 in
der Rechtssache C-420/97, Leathertex, Slg. 1999, I-6747, Randnr. 31).
28.
Demnach ist Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens dahin auszulegen, dass die Zuständigkeit für
Rechtsstreitigkeiten in einem Fall, in dem die fragliche vertragliche Verpflichtung an verschiedenen
Orten erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre, einem Gericht nicht deshalb zuerkannt werden kann,
weil in seiner örtlichen Zuständigkeit ein beliebiger dieser Erfüllungsorte liegt.
29.
Vielmehr ist schon nach dem Wortlaut dieser Bestimmung, die die Zuständigkeit für vertragliche
Streitigkeiten dem Gericht „des Ortes“, an dem die den Gegenstand des Verfahrens bildende
Verpflichtung erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre, zuweist, für diese Verpflichtung ein einziger
Erfüllungsort zu bestimmen.
30.
In Übereinstimmung mit dem Bericht von Herrn Jenard zu dem Übereinkommen (ABl. 1979, C 59, S.
1, 22) rechtfertigen sich die besonderen Zuständigkeitsregeln im 2. Abschnitt des Titels II des
Übereinkommens vor allem aus einer engen Verknüpfung zwischen dem Rechtsstreit und dem zu
seiner Entscheidung berufenen Gericht (Urteil vom 17. Januar 1980 in der Rechtssache 56/79, Zelger,
Slg. 1980, 89, Randnr. 3).
31.
So waren für die Wahl des Zuständigkeitskriteriums in Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens
Gründe der geordneten Rechtspflege und der sachgerechten Verfahrensgestaltung maßgebend (vgl.
in diesem Sinne u. a. Urteile Tessili, Randnr. 13, Shenavai, Randnr. 6, und Mulox IBC, Randnr. 17, sowie
analog zu Artikel 5 Nummer 3 des Übereinkommens Urteile vom 11. Januar 1990 in der Rechtssache C-
220/88, Dumez France und Tracoba, Slg. 1990, I-49, Randnr. 17, vom 7. März 1995 in der Rechtssache
C-68/93, Shevill u. a., Slg. 1995, I-415, Randnr. 19, und vom 19. September 1995 in der Rechtssache
C-364/93, Slg. 1995, I-2719, Randnr. 10), da das Gericht des Ortes, an dem die den Gegenstand des
Verfahrens bildende Vertragspflicht zu erfüllen wäre, besonders wegen der Nähe zum
Streitgegenstand und der leichteren Beweisaufnahme in der Regel am besten geeignet ist, über den
Rechtstreit zu entscheiden.
32.
Daher ist in einem Fall wie dem Ausgangssachverhalt, der durch eine Vielzahl von Erfüllungsorten
der fraglichen Vertragspflicht gekennzeichnet ist, ein einziger Erfüllungsort zu bestimmen; dies ist
grundsätzlich der Ort, zu dessen Gericht der Streitgegenstand die engste Verknüpfung aufweist.
33.
Wie die Kommission zu Recht hervorgehoben hat, lässt sich dieses Ergebnis jedoch nicht durch
Heranziehung der überkommenen Rechtsprechung des Gerichtshofes erreichen, wonach der Ort, an
dem die den Gegenstand des Verfahrens bildende Verpflichtung im Sinne von Artikel 5 Nummer 1 des
Übereinkommens erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre, nach den Kollisionsnormen des angerufenen
Gerichts zu bestimmen ist (Urteile Tessili, Randnrn. 13 und 15, Custom Made Commercial, Randnr. 26,
GIE Groupe Concorde u. a., Randnr. 32, und Leathertex, Randnr. 33).
34.
Da hier eine vertragliche Unterlassungspflicht in Frage steht, die geografisch unbegrenzt gilt, wird
mit dieser Vorgehensweise nicht die Zuständigkeit einer Vielzahl von Gerichten vermieden, denn sie
führte zu dem Ergebnis, dass für die Verpflichtung Erfüllungsorte in allen Vertragsstaaten bestehen.
Sie birgt außerdem die Gefahr, dass der Kläger denjenigen Erfüllungsort wählen könnte, der ihm nach
seinen Interessen am günstigsten erscheint.
35.
Daher lässt sich mit einer solchen Auslegung nicht das für die Entscheidung des Rechtsstreits
örtlich am besten qualifizierte Gericht ermitteln, und sie gefährdet überdies die Vorhersehbarkeit des
zuständigen Gerichts, so dass sie mit dem Grundsatz der Rechtssicherheit nicht vereinbar ist.
36.
Andererseits kann der Erfüllungsort im Sinne von Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens auch
nicht autonom ausgelegt werden, da dies die ständige Rechtsprechung seit dem Urteil Tessili (vgl.
oben, Randnr. 33), die der Gerichtshof erst kürzlich in den Urteilen GIE Groupe Concorde u. a. und
Leathertex bestätigt hat, in Frage stellen würde.
37.
Entgegen der Vorgehensweise, der das vorlegende Gericht zuneigt, lässt sich der Erfüllungsort der
im Ausgangsfall fraglichen Verpflichtung somit zum einen nichtdurch Erwägungen tatsächlicher Art, mit
denen auf die konkreten, eine besonders enge Verknüpfung zwischen dem Streitgegenstand und
einem Vertragsstaat begründenden Umstände des Einzelfalls abgestellt wird, bestimmen.
38.
Zum anderen gilt zwar nach der Rechtsprechung zu Arbeitsverträgen, dass der Erfüllungsort für die
betreffende Verpflichtung nicht anhand des nach den Kollisionsnormen des angerufenen Gerichts
maßgebenden nationalen Rechts, sondern nach einheitlichen Kriterien zu ermitteln ist, die der
Gerichtshof auf der Grundlage des Systems und der Zielsetzungen des Übereinkommens festzulegen
hat (Urteil Mulox IBC, Randnr. 16), dass ferner nach diesen Kriterien der Erfüllungsort der Ort ist, an
dem der Arbeitnehmer die mit seinem Arbeitgeber vereinbarten Tätigkeiten tatsächlich ausübt (Urteil
Mulox IBC, Randnr. 20), und dass schließlich bei einem Arbeitsvertrag, zu dessen Erfüllung der
Arbeitnehmer seine Tätigkeit in mehr als einem Vertragsstaat ausübt, als Erfüllungsort im Sinne von
Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens entweder der Ort anzusehen ist, an dem oder von dem aus
der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber hauptsächlich erfüllt (Urteil
Mulox IBC, Randnr. 26), oder der Ort, den der Arbeitnehmer zum tatsächlichen Mittelpunkt seiner
Berufstätigkeit gemacht hat (Urteil Rutten, Randnr. 26).
39.
Entgegen dem Hilfsvorbringen von Besix kann diese Rechtsprechung des Gerichtshofes aber auf
den vorliegenden Fall nicht übertragen werden.
40.
Denn wie der Gerichtshof wiederholt entschieden hat (vgl. u. a. Urteile Shenavai, Randnr. 17, GIE
Groupe Concorde u. a., Randnr. 19, und Leathertex, Randnr. 36), ist es, wenn die Besonderheiten von
Arbeitsverträgen nicht vorliegen, weder erforderlich noch zweckmäßig, die für den Vertrag
charakteristische Leistung zu ermitteln und an ihrem Erfüllungsort die an den Erfüllungsort
anknüpfende gerichtliche Zuständigkeit für die Rechtsstreitigkeiten aus allen Vertragspflichten zu
konzentrieren.
41.
Auch die Wahl des Ortes, an dem die fragliche Vertragsverletzung begangen wurde, als
Erfüllungsort erscheint als Lösung ungeeignet, da sie mit der Bejahung einer autonomen Auslegung
des Begriffes des Erfüllungsorts, also ohne Rückgriff auf das nach den Kollisionsnormen des
angerufenen Gerichts auf die fragliche Verpflichtung anzuwendende Recht, gleichfalls eine Änderung
der mit dem Urteil Tessili begründeten Rechtsprechung bedeutete. Mit ihr ließe sich zudem in Fällen,
in denen die fragliche Klausel in mehreren Vertragsstaaten nicht eingehalten wurde, die
Zuständigkeit einer Vielzahl von Gerichten nicht vermeiden.
42.
Die Kommission hat schließlich vorgeschlagen, analog die vom Gerichtshof in Randnummer 19 des
Urteils Shenavai gewählte Lösung heranzuziehen, so dass für die Anwendung von Artikel 5 Nummer 1
des Übereinkommens in einem Fall wie dem Ausgangssachverhalt nicht der Ort der Erfüllung des
Wettbewerbsverbots, sondern der der positiven Verpflichtung wäre, der gegenüber die Einhaltung des
Wettbewerbsverbots akzessorisch ist, da sie ihre ordnungsgemäße Erfüllung sichert.
43.
Besix befürwortet eine Variante dieser Lösung, wonach die im Ausgangsfall fragliche
Unterlassungspflicht als Nebenpflicht der sich aus der Vereinbarung vom 24. Januar 1984 zwischen
Besix und WABAG ergebenden Verpflichtung, an der betreffenden öffentlichen Ausschreibung
teilzunehmen und im Fall des Zuschlags die Arbeiten auszuführen, anzusehen wäre, so dass im
vorliegenden Fall der Erfüllungsort dieser letzteren Verpflichtung zu ermitteln wäre.
44.
Eine solche Auslegung wäre allerdings schwerlich vereinbar mit dem Wortlaut von Artikel 5 Nummer
1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die
Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, das in bestimmten
Sprachfassungen seit seiner Änderung durch das Übereinkommen vom 9. Oktober 1978 über den
Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland auf das Zuständigkeitskriterium des Erfüllungsorts der „den Gegenstand des Verfahrens
bilden[den]“ Verpflichtung abstellt. Diese Auslegung wäre auch nicht vereinbar mit der
Rechtsprechung des Gerichtshofes zu der Fassung des Übereinkommens vor dieser Änderung der
Vorschrift, wonach die Verpflichtung, deren Erfüllungsort für die gerichtliche Zuständigkeit nach
Artikel 5 Nummer 1 maßgebend ist, diejenige vertragliche Verpflichtung ist, deren Nichterfüllung zur
Begründung der fraglichen Klage behauptet wird (Urteil De Bloos, Randnrn. 14 und 15).
45.
Wie oben in Randnummer 16 erwähnt, hat das vorlegende Gericht jedoch festgestellt, dass im
Ausgangsverfahren allein die Verpflichtung zur Wahrung der Ausschließlichkeit und der Unterlassung
von Wettbewerb in Frage steht, da Besix mit ihrer Klage ausschließlich Ersatz für den Schaden
begehrt, den sie durch die angebliche Verletzung dieser Verpflichtung durch WABAG und Plafog
erlitten habe. Demgemäß ist die Vorlagefrage der Cour d'appel Brüssel ausschließlich auf die
Bestimmung des Erfüllungsorts dieser Unterlassungspflicht gerichtet. Die von Besix und von der
Kommission befürwortete Herangehensweise würde aber eine vorherige Ermittlung der relevanten
Handlungspflicht erfordern.
46.
Im Übrigen obliegt nach der Zuständigkeitsverteilung im Vorabentscheidungsverfahren gemäß dem
Protokoll vom 3. Juni 1971 über die Auslegung des Übereinkommens durch den Gerichtshof die
Entscheidung über derartige Fragen der Tatsachenwürdigung dem vorlegenden Gericht, während der
Gerichtshof auf der Grundlage der vom nationalen Gericht getroffenen Feststellungen nur das
Übereinkommen auslegt (vgl. in diesem Sinne Urteil Leathertex, Randnr. 21).
47.
Außerdem standen in dem Rechtsstreit, der dem Urteil Shenavai zugrunde lag, im Unterschied zum
vorliegenden Ausgangsverfahren zwei gesonderte Verpflichtungen in Frage.
48.
Nach alledem erscheint Artikel 5 Nummer 1 des Übereinkommens nicht anwendbar in einem Fall wie
dem Ausgangssachverhalt, in dem es nicht möglich ist, das Gericht, das die engste Verknüpfung mit
dem Streitgegenstand aufweist, zu ermitteln und so diegerichtliche Zuständigkeit mit dem
tatsächlichen Erfüllungsort der vom nationalen Gericht für maßgebend erachteten Verpflichtung in
Einklang zu bringen.
49.
Eine Unterlassungspflicht, die wie die im Ausgangssachverhalt fragliche in der Verpflichtung
besteht, ausschließlich mit einem bestimmten Vertragspartner zu handeln, und einem Verbot, sich mit
einem dritten Partner zwecks Abgabe eines gemeinsamen Angebots in einer öffentlichen
Ausschreibung zu verbinden, und die nach dem Parteiwillen geografisch unbegrenzt, also weltweit -
und damit auch in allen Vertragsstaaten -, gilt, kann ihrem Wesen nach weder an einem bestimmten
Ort lokalisiert noch einem bestimmten Gericht zugeordnet werden, das zur Entscheidung eines
Rechtsstreits über diese Verpflichtung besonders geeignet wäre. Eine derartige Verpflichtung, etwas
überall zu unterlassen, weist definitionsgemäß keine besonders enge Verknüpfung mit einem
bestimmten Gericht auf.
50.
Deshalb lässt sich die Zuständigkeit in einem solchen Fall nur gemäß Artikel 2 des
Übereinkommens bestimmen, der einen sicheren und verlässlichen Anknüpfungspunkt bietet (Urteil
vom 15. Februar 1989 in der Rechtssache 32/88, Six Constructions, Slg. 1989, 341, Randnr. 20).
51.
Diese Lösung entspricht auch der Systematik des Übereinkommens und dem Zweck seines Artikels
5 Nummer 1.
52.
Die gemeinsame Zuständigkeitsregelung in Titel II des Übereinkommens beruht nämlich auf der in
seinem Artikel 2 Absatz 1 niedergelegten Grundregel, dass Personen, die ihren Wohnsitz im
Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats haben, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit vor den
Gerichten dieses Staates zu verklagen sind. Dass diese Zuständigkeitsregel ein allgemeiner
Grundsatz ist - sie ist Ausdruck des Rechtssprichworts actor sequitur forum rei -, erklärt sich daraus,
dass sie dem Beklagten grundsätzlich die Verteidigung erleichtert (z. B. Urteil vom 13. Juli 2000 in der
Rechtssache C-412/98, Group Josi, Slg. 2000, I-5925, Randnrn. 34 und 35).
53.
Nur als Ausnahme von diesem allgemeinen Grundsatz sieht das Übereinkommen gemäß seinem
Artikel 3 Absatz 1 u. a. besondere Zuständigkeitsregeln wie die des Artikels 5 Nummer 1 vor, deren
Wahl von einer Entscheidung des Klägers abhängt.
54.
Jedoch kann diese Wahlmöglichkeit nach ständiger Rechtsprechung keine Auslegung begründen,
die über die in dem Übereinkommen ausdrücklich vorgesehenen Fälle hinausginge, da andernfalls die
in Artikel 2 Absatz 1 des Übereinkommens niedergelegte Grundregel ausgehöhlt würde und der Kläger
gegebenenfalls einen Gerichtsstand wählen könnte, der für den in einem Vertragsstaat ansässigen
Beklagten unvorhersehbar wäre (vgl. u. a. Urteil Group Josi, Randnrn. 49 und 50, und die dort zitierte
Rechtsprechung).
55.
Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die besondere Zuständigkeitsregel für
vertragliche Streitigkeiten gemäß Artikel 5 Nummer 1 desÜbereinkommens nicht anwendbar ist in
einem Fall, in dem, wie im Ausgangssachverhalt, der Erfüllungsort der den Gegenstand des
Verfahrens bildenden Verpflichtung deshalb nicht bestimmt werden kann, weil die streitige
vertragliche Verpflichtung eine geografisch unbegrenzt geltende Unterlassungspflicht ist und damit
durch eine Vielzahl von Orten gekennzeichnet wird, an denen sie erfüllt worden ist oder zu erfüllen
wäre; in einem solchen Fall kann die Zuständigkeit nur nach dem allgemeinen Zuständigkeitskriterium
gemäß Artikel 2 Absatz 1 des Übereinkommens bestimmt werden.
Kosten
56.
Die Auslagen der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben hat, sind nicht
erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in
dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache
dieses Gerichts.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm von der Cour d'appel Brüssel mit Urteil vom 19. Juni 2000 vorgelegte Frage für Recht
erkannt:
Die besondere Zuständigkeitsregel für vertragliche Streitigkeiten gemäß Artikel 5 Nummer
1 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und
die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen in der Fassung
des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark,
Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland ist nicht
anwendbar in einem Fall, in dem, wie im Ausgangssachverhalt, der Erfüllungsort der den
Gegenstand des Verfahrens bildenden Verpflichtung deshalb nicht bestimmt werden
kann, weil die streitige vertragliche Verpflichtung eine geografisch unbegrenzt geltende
Unterlassungspflicht ist und damit durch eine Vielzahl von Orten gekennzeichnet wird, an
denen sie erfüllt worden ist oder zu erfüllen wäre; in einem solchen Fall kann die
Zuständigkeit nur nach dem allgemeinen Zuständigkeitskriterium gemäß Artikel 2 Absatz
1 des Übereinkommens bestimmt werden.
Rodríguez Iglesias
Jann
Macken
Colneric
La Pergola
Puissochet
Wathelet
Schintgen
Skouris
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 19. Februar 2002.
Der Kanzler
Der Präsident
R. Grass
G. C. Rodríguez Iglesias
Verfahrenssprache: Französisch.