Urteil des EuGH vom 28.11.2002

EuGH: kommission, republik, regierung, mitgliedstaat, gemeinschaftsrecht, erfüllung, betreiber, markt, liberalisierung, luxemburg

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
28. November 200
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Richtlinie 98/30/EG - Nichtumsetzung innerhalb der gesetzten
Frist“
In der Rechtssache C-259/01
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Französische Republik
Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
wegen Feststellung, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie
98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame
Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt (ABl. L 204, S. 1) und insbesondere deren Artikel 29 verstoßen hat,
dass sie nicht die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um dieser Richtlinie
nachzukommen, oder jedenfalls solche Vorschriften der Kommission nicht mitgeteilt hat,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten der Zweiten Kammer R. Schintgen (Berichterstatter) in Wahrnehmung der
Aufgaben des Präsidenten der Sechsten Kammer, der Richter C. Gulmann und V. Skouris sowie der
Richterinnen F. Macken und N. Colneric,
Generalanwältin: C. Stix-Hackl
Kanzler: R. Grass
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 11. Juli 2002,
folgendes
Urteil
1.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 3. Juli 2001 bei der
Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 226 EG eine Klage erhoben auf Feststellung,
dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus der Richtlinie 98/30/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 betreffend gemeinsame Vorschriften für
den Erdgasbinnenmarkt (ABl. L 204, S. 1, nachfolgend: Richtlinie) und insbesondere deren Artikel 29
verstoßen hat, dass sie nicht die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um
dieser Richtlinie nachzukommen, oder jedenfalls solche Vorschriften der Kommission nicht mitgeteilt
hat.
Rechtlicher Rahmen und Vorverfahren
2.
Gemäß Artikel 29 der Richtlinie setzen die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und
Verwaltungsvorschriften in Kraft, um dieser Richtlinie binnen zwei Jahren nach ihrem Inkrafttreten
nachzukommen, und unterrichten die Kommission unverzüglich davon.
3.
Mit Schreiben vom 17. August 2000 übermittelten die französischen Behörden der Kommission
Informationen zum Stand der Umsetzung der Richtlinie in das französische Recht. Sie teilten mit, dass
ein Gesetzesentwurf im Ministerrat gebilligt worden sei und dem Parlament zur baldigen Annahme
vorgelegt werden solle.
4.
Da die Kommission keine Informationen erhielt, aus denen sie auf die förmliche Annahme der
Maßnahmen zur Umsetzung der Richtlinie innerhalb der in Artikel 29 vorgeschriebenen Frist hätte
schließen können, richtete sie am 22. September 2000 ein Schreiben an die französischen Behörden,
in dem sie feststellte, dass die französische Regierung insoweit gegen ihre gemeinschaftsrechtlichen
Verpflichtungen verstoßen habe, und forderte sie auf, binnen zwei Monaten hierzu Stellung zu
nehmen.
5.
Mit Schreiben vom 21. November 2000 antworteten die französischen Behörden auf dieses
Mahnschreiben und machten geltend, dass die Umsetzung der Richtlinie in das französische Recht
weitreichende Änderungen des nationalen rechtlichen Rahmens erfordere. Außerdem hätten die
französischen Marktteilnehmer in Erwartung der Annahme des Gesetzentwurfs zur Umsetzung der
Richtlinie Übergangsmaßnahmen zur Liberalisierung des Gasnetzzugangs getroffen.
6.
Nachdem die Kommission festgestellt hatte, dass die Französische Republik keine Maßnahme zur
Umsetzung der Richtlinie ergriffen hatte, richtete sie an diesen Mitgliedstaat am 5. Februar 2001 eine
mit Gründen versehene Stellungnahme, in der sie ihn aufforderte, binnen zwei Monaten ab Zustellung
der Stellungnahme die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um den Verpflichtungen aus der
Richtlinie nachzukommen.
7.
Mit Schreiben vom 6. April 2001 informierten die französischen Behörden die Kommission erneut
sowohl über ihre Absicht, die Richtlinie in das französische Recht umzusetzen, als auch über die
Existenz von Übergangsmaßnahmen, mit denen die sofortige Verwirklichung der Ziele der Richtlinie
sichergestellt werden solle.
8.
Da sich aus diesen Informationen ergab, dass die Richtlinie noch immer nicht in das französische
Recht umgesetzt war, hat die Kommission beschlossen, die vorliegende Klage zu erheben.
Zur Begründetheit
9.
Die Kommission führt aus, die Französische Republik habe gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 29
der Richtlinie verstoßen und verweist insoweit zum einen auf die Artikel 10 EG und 249 Absatz 3 EG
und zum anderen auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes, wonach die Mitgliedstaaten,
die Adressaten einer Richtlinie seien, ihre Rechtsvorschriften der Richtlinie innerhalb der festgelegten
Frist anpassen müssten, ohne sich auf Bestimmungen, Übungen oder Umstände ihrer internen
Rechtsordnung berufen zu können, um die Nichteinhaltung dieser Verpflichtung zu rechtfertigen.
10.
Die französische Regierung macht geltend, die Erfüllung der Verpflichtungen, die den
Mitgliedstaaten aufgrund der von der Kommission angeführten Artikel oblägen, erfordere nicht
zwingend den förmlichen Erlass von Vorschriften, sondern könne sich auch aus Änderungen ergeben,
die in der Bewirtschaftung eines Sektors erfolgt und geeignet seien, die mit einer Richtlinie verfolgten
Ziele zu erreichen.
11.
Im Hinblick auf die mit der Richtlinie verfolgten Ziele, wie sie insbesondere deren siebter und
neunter Begründungserwägung zu entnehmen seien, habe sie ihre Verpflichtungen teilweise erfüllt,
indem sie die Liberalisierung des Gassektors in Frankreich in der Praxis umgesetzt habe. Denn die
unmittelbare Anwendung einer Regelung, die die mit der Richtlinie angestrebte Wirkung erzeuge, z. B.
einen Zugang Dritter zum Gasnetz, ermögliche es einem Mitgliedstaat, den mit dieser Richtlinie
verfolgten Zielen gerecht zu werden und somit seine Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit aus Artikel 10
EG zu erfüllen.
12.
Zu der für den Zugang zum Fernleitungs- und Verteilungsnetz für Gas geschaffenen
Übergangsregelung bemerkt die französische Regierung, dass diese seit dem 10. August 2000 in Kraft
sei und dass die Kommission davon am 17. August 2000 unterrichtet worden sei. Diese Regelung
ermögliche es den „zugelassenen Kunden“ im Sinne von Artikel 18 der Richtlinie, einen Netzzugang
mittels Verträgen mit einer Laufzeit von mindestens einem Jahr zu erhalten. Die Allgemeinen
Bedingungen und die Tarife dieses Zugangs seien von den jeweiligen Marktteilnehmern veröffentlicht
worden. Ferner könnten die zugelassenen Kunden unter bestimmten Bedingungen zeitlich befristet
über Speicheranlagen an verschiedenen Stellen des Netzes verfügen.
13.
Der französischen Regierung zufolge konnten zugelassene Kunden dank dieser Regelung ihre
Gasversorgungsverträge neu verhandeln und sogar den Betreiber wechseln. Ein Jahr nach Einführung
dieser Regelung hätten 14 % der auf dem französischen Markt zugelassenen Kunden bereits den
Betreiber gewechselt und seien vier neue Betreiber auf diesem Markt erschienen.
14.
Außerdem hätten sich die Marktteilnehmer zur buchhalterischen Trennung ihrer Transport- und
Handelstätigkeiten und zur Sicherstellung völliger Transparenz der Handels- und Finanzbeziehungen
zwischen diesen Tätigkeiten verpflichtet.
15.
Die französische Regierung fügt in ihrer Gegenerwiderung hinzu, dass die Kommission lediglich die
Art der Umsetzung der Richtlinie in Frage gestellt habe, nicht jedoch die Effizienz der zu ihrer
Umsetzung getroffenen Maßnahmen.
16.
Im Übrigen beschleunige sich die Liberalisierung des Marktes. Denn zum einen würden mehr und
mehr Vorschriften für diesen Sektor erlassen - z. B. werde mit Artikel 81 des Finanzänderungsgesetzes
vom 31. Dezember 2001 das Konzessionssystem für Gasleitungen abgeschafft -, und zum anderen
öffne sich der französische Markt für Erdgas zunehmend.
17.
Wie die französische Regierung ausführt, ist der Rechtsprechung des Gerichtshofes zwar zu
entnehmen, dass die Umsetzung einer Richtlinie nicht notwendig in jedem Mitgliedstaat ein
Tätigwerden des Gesetzgebers verlangt. Der Gerichtshof hat aber entschieden, dass dies nur der Fall
ist, wenn das fragliche nationale Recht tatsächlich die vollständige Anwendung der betreffenden
Richtlinie durch die nationalen Behörden gewährleistet, die sich aus diesem Recht ergebende
Rechtslage hinreichend bestimmt und klar ist und die Begünstigten in die Lage versetzt werden, von
allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten
geltend zu machen (vgl. u. a. Urteil vom 10. Mai 2001 in der Rechtssache C-144/99,
Kommission/Niederlande, Slg. 2001, I-3541, Randnr. 17).
18.
Sodann lässt nach ständiger Rechtsprechung die unveränderte Fortgeltung einer nationalen
Regelung, die als solche mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbar ist, selbst dann, wenn der fragliche
Mitgliedstaat im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht handelt, Unklarheiten tatsächlicher Art
bestehen, weil die betroffenen Normadressaten bezüglich der ihnen eröffneten Möglichkeiten, sich auf
das Gemeinschaftsrecht zu berufen, in einem Zustand der Ungewissheit gelassen werden (Urteil vom
29. Oktober 1998 in der Rechtssache C-185/96, Kommission/Griechenland, Slg. 1998, I-6601, Randnr.
32, mit weiteren Nachweisen).
19.
Schließlich ist der Rechtsprechung des Gerichtshofes zur Umsetzung von Richtlinien zu entnehmen,
dass bloße Verwaltungspraktiken, die die Verwaltung ihrem Wesen nach beliebig ändern kann und die
nur unzureichend bekannt gemacht sind, nicht als eine wirksame Erfüllung der Verpflichtungen aus
dem EG-Vertrag angesehen werden können (vgl. u. a. Urteil vom 17. Januar 2002 in der Rechtssache
C-394/00, Kommission/Irland, Slg. 2000, I-581, Randnr. 11).
20.
Hier ergibt sich sowohl aus dem Schriftwechsel zwischen der französischen Regierung und der
Kommission im Vorverfahren als auch aus der Klagebeantwortung und der Gegenerwiderung, dass die
Rechtsvorschriften, die bei Ablauf der in der mit Gründen versehenen Stellungnahme gesetzten Frist in
Frankreich galten, nicht zur vollständigen Umsetzung der Richtlinie ausreichten.
21.
In Bezug auf die zur Erreichung der Ziele der Richtlinie ergriffenen praktischen Maßnahmen genügt
die Feststellung, dass, wie aus der in Randnummer 19 des vorliegenden Urteils zitierten
Rechtsprechung hervorgeht, bloße Verwaltungspraktiken nicht als eine wirksame Erfüllung der
Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag angesehen werden können. Das gilt erst recht für Praktiken, die
wie hier nicht von einem Mitgliedstaat ausgehen, sondern von den Marktteilnehmern eines
bestimmten Sektors eingeführt worden sind.
22.
Daher ist festzustellen, dass die Französische Republik dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus
Artikel 29 der Richtlinie verstoßen hat, dass sie nicht die erforderlichen Rechts- und
Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um dieser Richtlinie nachzukommen.
Kosten
23.
Gemäß Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes ist die unterliegende Partei auf
Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Kommission beantragt hat, der Französischen
Republik die Kosten aufzuerlegen und diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, ist die Französische
Republik zur Tragung der Kosten zu verurteilen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Französische Republik hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus Artikel 29 der
Richtlinie 98/30/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998
betreffend gemeinsame Vorschriften für den Erdgasbinnenmarkt verstoßen, dass sie nicht
die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen hat, um dieser Richtlinie
nachzukommen.
2. Die Französische Republik trägt die Kosten des Verfahrens.
Schintgen
Gulmann
Skouris
Macken
Colneric
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 28. November 2002.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
J.-P. Puissochet
Verfahrenssprache: Französisch.