Urteil des EuGH vom 30.04.1998

EuGH: freizügigkeit der arbeitnehmer, gesetzlicher vertreter, kommission, regierung, behandlung, ordnungswidrigkeit, niederlassung, vertragsverletzung, gemeinschaftsrecht, luxemburg

WICHTIGER RECHTLICHER HINWEIS:
und Urheberrechtsschutz.
URTEIL DES GERICHTSHOFES (Sechste Kammer)
30. April 1998
„Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats — Aufenthaltsrecht — Ausweispflicht — Sanktionen“
In der Rechtssache C-24/97
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
und Pieter Jan Kuijper als Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer
Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
Klägerin,
gegen
Bundesrepublik Deutschland
Wirtschaft, D-53107 Bonn, als Bevollmächtigten,
Beklagte,
wegen Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den
Artikeln 48, 52 und 59 EG-Vertrag sowie aus Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 68/360/EWG des Rates vom 15.
Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer der
Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft (ABl.L 257, S. 13) und aus Artikel
4 Absatz 1 der Richtlinie 73/148/EWG des
Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der
Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des
Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14) verstoßen hat, daß sie Staatsangehörige der anderen
Mitgliedstaaten, die sich im deutschen Hoheitsgebiet aufhalten, bei vergleichbaren Verstößen gegen die
Ausweispflicht hinsichtlich des Verschuldensmaßstabs und des Bußgeldrahmens in unverhältnismäßiger
Weise anders behandelt als deutsche Staatsangehörige,
erläßt
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten H. Ragnemalm (Berichterstatter) sowie der Richter G. F. Mancini, J.
L. Murray, G. Hirsch und K. M. Ioannou,
Generalanwalt: F. G. Jacobs
Kanzler: R. Grass
aufgrund des Berichts des Berichterstatters,
nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 22. Januar 1998,
folgendes
Urteil
1.
Die Kommission der Europäischen Gemeinschaften hat mit Klageschrift, die am 17. Januar 1997 bei
der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EG-Vertrag Klage erhoben auf
Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den
Artikeln 48, 52 und 59 EG-Vertrag sowie aus Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 68/360/EWG des Rates
vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Arbeitnehmer
der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der Gemeinschaft (ABl. L 257, S. 13) und
aus Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise-
und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der
Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. L 172, S. 14)
verstoßen hat, daß sie Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten, die sich im deutschen
Hoheitsgebiet aufhalten, bei vergleichbaren Verstößen gegen die Ausweispflicht hinsichtlich des
Verschuldensmaßstabs und des
Bußgeldrahmens in unverhältnismäßiger Weise anders behandelt als deutsche Staatsangehörige.
2.
Nach § 12a Absatz 1 Nummer 2 des Gesetzes über Einreise und Aufenthalt von Staatsangehörigen
der Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 22. Juli 1969 handelt
ordnungswidrig, wer sich als Person, der nach diesem Gesetz Freizügigkeit gewährt wird, im
Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhält, ohne den erforderlichen Paß oder Paßersatz oder eine
erforderliche Aufenthaltsgenehmigung oder Duldung zu besitzen.
3.
Gemäß § 12a Absatz 2 handelt ordnungswidrig auch, wer eine in Absatz 1 bezeichnete Handlung
fahrlässig begeht. Absatz 3 bestimmt, daß die Ordnungswidrigkeit mit einer Geldbuße bis zu 5 000 DM
geahndet werden kann.
4.
Für Ordnungswidrigkeiten deutscher Staatsangehöriger sieht § 5 Absatz 1 Nummern 1 und 2 sowie
Absatz 2 des Gesetzes über Personalausweise vom 19. Dezember 1950 vor:
„(1) Ordnungswidrig handelt, wer
1. vorsätzlich oder leichtfertig es unterläßt, für sich oder als gesetzlicher Vertreter eines
Minderjährigen für diesen einen Ausweis ausstellen zu lassen, obwohl er dazu verpflichtet ist,
2. es unterläßt, einen Ausweis auf Verlangen einer zuständigen Stelle vorzulegen ...
(2) Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden.“
5.
Nach § 17 Absatz 1 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten vom 24. Mai 1968 beträgt die
Geldbuße mindestens 5 DM und, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt, höchstens 1 000 DM.
Gemäß Absatz 4 soll die Geldbuße den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter aus der
Ordnungswidrigkeit gezogen hat, übersteigen. Reicht das gesetzliche Höchstmaß hierzu nicht aus, so
kann es überschritten werden.
6.
In einem förmlichen Aufforderungsschreiben vom 25. Juli 1990 an die deutsche Regierung
beanstandete die Kommission, wie Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten, die sich im
Bundesgebiet aufhielten, bei Verstößen gegen die Ausweispflicht durch die deutschen Stellen
behandelt würden. Diese Behandlung sei gegenüber der Behandlung deutscher Staatsangehöriger
diskriminierend.
7.
Mit Schreiben vom 11. Januar 1991, 20. März 1991 und 18. Februar 1992 räumte die deutsche
Regierung eine Ungleichbehandlung ein und teilte mit, daß sie bereit sei, die entsprechenden
Änderungen vorzunehmen. Die Verabschiedung eines
solchen Gesetzesentwurfs sei für 1992 vorgesehen. Die deutsche Regierung verwies auch auf zwei
Schreiben des Bundesministeriums des Inneren an die Innenminister und -senatoren der Länder, in
denen diese gebeten werden, dafür Sorge zu tragen, daß Verstöße von Staatsangehörigen der
anderen Mitgliedstaaten gegen die Ausweispflicht nur bei leichtfertiger Tatbegehung geahndet
würden.
8.
Da die angekündigte Änderung nicht erfolgte, richtete die Kommission am 27. Juli 1995 eine mit
Gründen versehene Stellungnahme an die deutsche Regierung, in der sie diese aufforderte, die
notwendigen Maßnahmen zu treffen, um ihren Verpflichtungen binnen zwei Monaten nach
Bekanntgabe der Stellungnahme nachzukommen.
9.
Da hierauf keine Mitteilung über die Änderung der streitigen Regelungen erfolgte, hat die
Kommission die vorliegende Klage erhoben.
10.
Die vorgeworfene Vertragsverletzung wird von der deutschen Regierung in ihrer Klagebeantwortung
nicht bestritten.
11.
Artikel 48 EG-Vertrag, der durch die Richtlinie 68/360 durchgeführt wurde, und die Artikel 52 und 59
EG-Vertrag, die durch die Richtlinie 73/148 durchgeführt wurden, beruhen auf denselben Grundsätzen;
dies gilt sowohl für das Recht der vom Gemeinschaftsrecht geschützten Personen, in das Gebiet der
Mitgliedstaaten einzureisen und sich dort aufzuhalten, als auch für das Verbot jeder auf der
Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung (vgl. Urteil vom 8. April 1976 in der
Rechtssache 48/75, Royer, Slg. 1976, 497, Randnrn. 11 und 12).
12.
Nach Artikel 4 Absatz 1 sowohl der Richtlinie 68/360 als auch der Richtlinie 73/148 gewähren die
Mitgliedstaaten den Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten und deren Familienangehörigen, die
einen gültigen Personalausweis oder Reisepaß vorlegen, das Aufenthaltsrecht in ihrem Hoheitsgebiet.
13.
Das Gemeinschaftsrecht verbietet einem Mitgliedstaat nicht, zu kontrollieren, ob die Verpflichtung
zur Vorlage einer Aufenthaltserlaubnis eingehalten wird, sofern er seinen eigenen Staatsangehörigen
eine entsprechende Verpflichtung hinsichtlich ihres Personalausweises auferlegt (vgl. Urteil vom 27.
April 1989 in der Rechtssache 321/87, Kommission/Belgien, Slg. 1989, 997, Randnr. 12).
14.
Falls diese Verpflichtung nicht eingehalten wird, dürfen die innerstaatlichen Stellen Sanktionen
verhängen, die denen entsprechen, die bei geringfügigeren Vergehen von Inländern — wie Verstößen
gegen die Ausweispflicht — gelten; Voraussetzung ist allerdings, daß keine unverhältnismäßige
Sanktion vorgesehen wird, die ein Hindernis für die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schaffen würde
(vgl. Urteil vom 12. Dezember 1989 in der Rechtssache C-265/88, Messner, Slg. 1989, I-4209, Randnr.
14).
15.
Nach alledem ist festzustellen, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre
Verpflichtungen aus den Artikeln 48, 52 und 59 EG-Vertrag sowie aus Artikel 4 der Richtlinien 68/360
und 73/148 verstoßen hat, daß sie Staatsangehörige der anderen Mitgliedstaaten, die sich im
deutschen Hoheitsgebiet aufhalten, bei vergleichbaren Verstößen gegen die Ausweispflicht
hinsichtlich des Verschuldensmaßstabs und des Bußgeldrahmens in unverhältnismäßiger Weise
anders behandelt als deutsche Staatsangehörige.
Kosten
16.
Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei zur Tragung der Kosten zu
verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, hat sie die
Kosten zu tragen.
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF (Sechste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Bundesrepublik Deutschland hat dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den
Artikeln 48, 52 und 59 EG-Vertrag sowie aus Artikel 4 der Richtlinie 68/360/EWG des Rates
vom 15. Oktober 1968 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für
Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten und ihre Familienangehörigen innerhalb der
Gemeinschaft und aus Artikel 4 der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur
Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der
Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des
Dienstleistungsverkehrs verstoßen, daß sie Staatsangehörige der anderen
Mitgliedstaaten, die sich im deutschen Hoheitsgebiet aufhalten, bei vergleichbaren
Verstößen gegen die Ausweispflicht hinsichtlich des Verschuldensmaßstabs und des
Bußgeldrahmens in unverhältnismäßiger Weise anders behandelt als deutsche
Staatsangehörige.
2. Die Bundesrepublik Deutschland trägt die Kosten des Verfahrens.
Ragnemalm
Mancini
Murray
Hirsch Ioannou
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. April 1998.
Der Kanzler
Der Präsident der Sechsten Kammer
R. Grass
H. Ragnemalm
Verfahrenssprache: Deutsch.