Urteil des EuG vom 14.03.2017

Beschwerdekammer, Rechtliches Gehör, Verordnung, Geistiges Eigentum

Vorläufige Fassung
URTEIL DES GERICHTS (Dritte Kammer)
14. März 2017(
*
)
„Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsverfahren – Eingetragenes Gemeinschaftsgeschmacksmuster, das eine Saugdüse für Staubsauger
darstellt – Älteres Gemeinschaftsgeschmacksmuster – Nichtigkeitsgrund – Eigenart – Informierter Benutzer – Art. 6 und Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der
Verordnung (EG) Nr. 6/2002“
In der Rechtssache T‑174/16
Wessel-Werk GmbH
Klägerin,
gegen
Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO),
Beklagter,
andere Beteiligte im Verfahren vor der Beschwerdekammer des EUIPO und Streithelferin vor dem Gericht:
Wolf PVG GmbH & Co. KG
betreffend eine Klage gegen die Entscheidung der Dritten Beschwerdekammer des EUIPO vom 18. Februar 2016 (Sache R 1652/2014-3) in
berichtigter Fassung zu einem Nichtigkeitsverfahren zwischen Wolf PVG und Wessel-Werk
erlässt
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten S. Frimodt Nielsen, des Richters V. Kreuschitz (Berichterstatter) und der Richterin N. Półtorak,
Kanzler: E. Coulon,
aufgrund der am 18. April 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klageschrift,
aufgrund der am 13. Juli 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung des EUIPO,
aufgrund der am 6. Juli 2016 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangenen Klagebeantwortung der Streithelferin,
aufgrund des Umstands, dass keine der Parteien binnen der Frist von drei Wochen nach der Mitteilung, dass das schriftliche Verfahren
abgeschlossen ist, die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung beantragt hat, und des daher gemäß Art. 106 Abs. 3 der Verfahrensordnung des
Gerichts ergangenen Beschlusses, ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Vorgeschichte des Rechtsstreits
Am 18. Mai 2007 meldete die Klägerin, die Wessel-Werk GmbH, beim Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO) ein
(
Gemeinschaftsgeschmacksmuster (ABl. 2002, L 3, S. 1) an.
Das mit der Erzeugnisangabe „Saugdüse für Staubsauger“ angemeldete Geschmacksmuster wird wie folgt dargestellt:
Das angegriffene Geschmacksmuster wurde am 18. Mai 2007 unter der Nr. 725932-0004 eingetragen und im
Blatt für
Gemeinschaftsgeschmacksmuster Nr. 88/2007 vom 19. Juni 2007 veröffentlicht.
Am 15. November 2013 beantragte die Streithelferin, die Wolf PVG GmbH & Co. KG, beim EUIPO gemäß Art. 52 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1
Buchst. a und b der Verordnung Nr. 6/2002 die Nichtigerklärung des angegriffenen Geschmacksmusters, wobei sie insbesondere geltend machte,
dass dieses keine Erscheinungsform eines Erzeugnisses oder eines Teils davon im Sinne von Art. 3 Buchst. a dieser Verordnung zeige und dass es
ihm an Neuheit und Eigenart im Sinne der Art. 5 und 6 der Verordnung mangele.
Zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung führte die Streithelferin das ältere, am 18. April 2006 veröffentlichte
Gemeinschaftsgeschmacksmuster Nr. 493945-0002 mit der Erzeugnisangabe „Staubsaugerdüsen“ an, das u. a. mit Fotografien (D1 bis D3) wie folgt
dargestellt wird:
(D1)
(D2)
(D3)
Mit Entscheidung vom 19. Juni 2014 wies die Nichtigkeitsabteilung sämtliche von der Streithelferin angeführte Nichtigkeitsgründe und damit ihren
Antrag auf Erklärung der Nichtigkeit insgesamt zurück und erlegte ihr die Kosten auf.
Am 3. Juli 2014 legte die Streithelferin gegen die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung Beschwerde nach den Art. 55 bis 60 der Verordnung
Nr. 6/2002 ein.
Mit Entscheidung vom 18. Februar 2016, die mit Entscheidung vom 14. März 2006 berichtigt wurde (im Folgenden: angefochtene Entscheidung), gab
die Dritte Beschwerdekammer des EUIPO der Beschwerde statt, hob die Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung auf und erklärte das angegriffene
Geschmacksmuster für nichtig.
Zur Begründung der angefochtenen Entscheidung stellte die Beschwerdekammer zunächst fest, dass der Nichtigkeitsgrund gemäß Art. 25 Abs. 1
Buchst. a der Verordnung Nr. 6/2002 nicht mehr Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sei (Rn. 13 der angefochtenen Entscheidung).
10
Im Rahmen ihrer Prüfung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 führte die
Beschwerdekammer erstens aus, dass die vom älteren Geschmacksmuster dargestellten Staubsaugerdüsen mit Fadenheber gemäß der Darstellung
15 bis 18 der
angefochtenen Entscheidung). Zweitens sei der maßgebliche informierte Benutzer im vorliegenden Fall die Person, die Staubsauger
benutze
der Staubsaugerdüsen gebe, einschließlich der Teile, über die diese Erzeugnisse gewöhnlich verfügten, wie beispielsweise Fadenheber, und widme
ihnen eine verhältnismäßig große Aufmerksamkeit (Rn. 19 und 20 der angefochtenen Entscheidung). Drittens war die Beschwerdekammer der
Auffassung, dass der Grad der Gestaltungsfreiheit des Entwerfers einmal hinsichtlich der Abmessungen und der Form des Fadenhebers, der auf die
Größe des Saugmunds und der Düse abgestimmt sein müsse, dann hinsichtlich des Materials, das zur Aufnahme von Fäden und Fasern geeignet sein
21 bis 23 der
angefochtenen Entscheidung). Dagegen bestünden keine Einschränkungen in Bezug auf die Farbgebung
Beschwerdekammer im Wesentlichen aus, dass das Verbot der Verwendung des roten Farbstoffs, das aus einem an die Kunden der Klägerin
gerichteten Rundschreiben vom 7. Februar 2007 hervorgehe, aus Umweltschutzerwägungen erfolgt sei, und nicht aufgrund technischer Vorgaben
(Rn. 24 der angefochtenen Entscheidung).
11
Zum Gesamteindruck, den die einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster hervorrufen, stellte die Beschwerdekammer fest, dass sie
hinsichtlich ihrer Struktur und Wölbung übereinstimmten und dass sich die Unterschiede demnach auf die Länge und die Farbgebung der Fadenheber
. Der informierte Benutzer wisse, dass die Länge im Wesentlichen durch den Aufbau der Staubsaugerdüse vorgegeben
sei, und werde diesem Merkmal im Gesamteindruck keine besondere Bedeutung beimessen
anders als die Oberflächenstruktur keinerlei Auswirkungen auf die Funktion des Fadenhebers – und damit auf die Gestaltungsfreiheit des Entwerfers –
habe. Außerdem nehme der informierte Benutzer den Fadenheber nicht isoliert wahr, sondern als Bestandteil der Staubsaugerdüse und ihrer
Funktionen, so dass er ihm eine geringere Bedeutung beimesse. Im Übrigen reiche der schwache Unterschied zwischen der braunen Farbe des
angegriffenen und der roten Farbe des älteren Geschmacksmusters nicht aus, um beim informierten Benutzer einen unterschiedlichen
27 bis 29 der angefochtenen Entscheidung).
12
Die Beschwerdekammer zog aus alldem den Schluss, dass das ältere Geschmacksmuster der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters
entgegenstehe und die Prüfung der Neuheit des angegriffenen Geschmacksmusters deshalb dahingestellt bleiben könne (Rn. 30 der angefochtenen
Entscheidung).
Anträge der Parteien
13
Die Klägerin beantragt,
– die angefochtene Entscheidung aufzuheben;
– dem EUIPO sowie der Streithelferin die Kosten aufzuerlegen.
14
Das EUIPO und die Streithelferin beantragen,
– die Klage abzuweisen;
– der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Rechtliche Würdigung
15
Zur Stützung ihrer Klage bringt die Klägerin drei Klagegründe vor. Erstens macht sie einen Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit
Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 geltend. Dieser Klagegrund ist in zwei Teile unterteilt, mit denen zum einen eine fehlerhafte Auslegung des
Begriffs des informierten Benutzers und zum anderen eine fehlerhafte Beurteilung des Gesamteindrucks der einander gegenüberstehenden
Geschmacksmuster geltend gemacht werden. Zweitens rügt sie einen Verstoß gegen Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 sowie drittens eine
Verletzung von Art. 62 dieser Verordnung und des Anspruchs auf rechtliches Gehör.
Zum ersten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 25 Abs. 1 Buchst. b in Verbindung mit Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002
16
Im Rahmen ihres ersten Klagegrundes bringt die Klägerin vor, die Voraussetzungen des Art. 25 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 6/2002 lägen
nicht vor, weil das angegriffene Geschmacksmuster Eigenart im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der Verordnung habe.
17
Erstens rügt die Klägerin die Auslegung des Begriffs des informierten Benutzers durch die Beschwerdekammer. Fadenheber seien Zwischenprodukte,
die sich an Hersteller von Staubsaugern richteten. Sie würden unter der Kontrolle dieser Hersteller weiterverarbeitet, von diesen in
Staubsaugerdüsen eingesetzt und dann an den Endverbraucher verkauft. Daher sei der informierte Benutzer im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der
Verordnung Nr. 6/2002 im vorliegenden Fall die Industrie auf der nächsten Bearbeitungsstufe. Dank ihrer umfangreichen Kenntnis im betreffenden
Bereich wüssten die Staubsaugerhersteller um die Merkmale verschiedener Fadenheber, seien besonders wachsam und nähmen einen direkten
Vergleich zwischen den einander gegenüberstehenden Geschmacksmustern vor. Deren technische Eigenschaften setzten sich nur aus Geometrie,
Oberfläche und Stoffqualität zusammen, seien aber auch von nicht unerheblicher Bedeutung für die Qualität der Staubsaugerdüsen und somit für die
Staubsauger insgesamt. Hätte die Beschwerdekammer die informierten Benutzer zutreffend definiert, wäre sie zu dem Ergebnis gelangt, dass das
angegriffene Geschmacksmuster einen von dem des älteren Geschmacksmusters verschiedenen Gesamteindruck hervorrufe.
18
Das EUIPO beantragt vorab, das Argument, wonach der informierte Benutzer der Hersteller von Staubsaugern sei, als unzulässig zurückzuweisen, weil
es erstmals vor dem Gericht und damit verspätet vorgebracht worden sei und im Sinne von Art. 188 der Verfahrensordnung des Gerichts den
Jedenfalls macht das EUIPO
zurückzuweisen sei.
19
Hierzu genügt es, festzustellen, dass die Beschwerdekammer in Rn. 19 der angefochtenen Entscheidung im Einklang mit der ständigen
Rechtsprechung zutreffend angenommen hat, dass der informierte Benutzer weder der Hersteller noch der Verkäufer des Erzeugnisses ist, in das das
fragliche Geschmacksmuster aufgenommen werden soll (Urteil vom 18. März 2010, Grupo Promer Mon Graphic/HABM – PepsiCo [Wiedergabe eines
runden Werbeträgers], T‑9/07, EU:T:2010:96, Rn. 62, auf Rechtsmittel hin bestätigt mit Urteil vom 20. Oktober 2011, PepsiCo/Grupo Promer Mon
(Urteile
vom
, Rn. 25).
20
Dem ersten Teil des ersten Klagegrundes kann daher – ohne dass geprüft zu werden bräuchte, ob er eine unzulässige Änderung des
Streitgegenstands im Verfahren vor dem Gericht darstellt – nicht gefolgt werden, und die Feststellung, dass der informierte Benutzer derjenige ist,
der einen Staubsauger und somit auch dessen Saugdüse gemäß seiner Funktion als Haushaltsgerät für Reinigungszwecke benutzt, ist zu bestätigen.
So hat die Beschwerdekammer in Rn. 20 der angefochtenen Entscheidung aus dieser Rechtsprechung (Urteil vom 20. Oktober 2011, PepsiCo/Grupo
Promer Mon Graphic, C‑281/10 P, EU:C:2011:679, Rn. 59) zutreffend gefolgert, dass dieser informierte Benutzer, ohne Entwerfer oder technischer
Sachverständiger zu sein, die verschiedenen Geschmacksmuster, die es im Bereich von Staubsaugerdüsen gebe, einschließlich ihrer gewöhnlichen
Merkmale kennt und eine vergleichsweise große Aufmerksamkeit aufbringt.
21
Zweitens rügt die Klägerin die von der Beschwerdekammer in den Rn. 28 und 29 der angefochtenen Entscheidung vorgenommene Beurteilung des
Gesamteindrucks der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster. Der informierte Benutzer – eine Person aus der Industrie – konzentriere
nämlich seine Aufmerksamkeit auf den Fadenheber als solchen und nicht als Bestandteil einer Staubsaugerdüse insgesamt. Diesem Benutzer komme
es darauf an, den richtigen Fadenheber für eine Staubsaugerdüse zu finden, damit diese in die Staubsaugerdüse verbaut werden könne und
optimale Saugergebnisse erzielt würden. In dieser Hinsicht seien Geometrie und Struktur der Oberfläche des Fadenhebers besonders wichtig. Unter
solchen Umständen sei eine Abweichung der Farbe von Rot nach Braun geeignet, vom informierten Benutzer wahrgenommen zu werden und bei ihm
einen anderen Gesamteindruck hervorzurufen.
22
Das EUIPO und die Streithelferin sind der Auffassung, dass der zweite Teil des ersten Klagegrundes zurückzuweisen ist.
23
Die Argumentation der Klägerin ist, soweit sie auf der Wahrnehmung des Herstellers von Staubsaugern beruht, aus den oben in den Rn. 19 und 20
angeführten Gründen ohne Weiteres zurückzuweisen, weil der informierte Benutzer im vorliegenden Fall der Endnutzer eines Staubsaugers oder einer
Staubsaugerdüse zu Reinigungszwecken ist.
24
Nach Art. 6 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 ist dafür, ob ein Geschmacksmuster Eigenart hat, der Gesamteindruck maßgebend, den es beim
informierten Benutzer hervorruft. Nach ständiger Rechtsprechung ist dem informierten Benutzer eine besondere Wachsamkeit eigen, sei es wegen
seiner persönlichen Erfahrung oder seiner umfangreichen Kenntnisse in dem betreffenden Bereich. So wird er im Allgemeinen einen direkten
Vergleich der fraglichen Geschmacksmuster vornehmen, es sei denn, ein solcher Vergleich ist im betreffenden Bereich, insbesondere wegen
spezieller Umstände oder der Merkmale der Gegenstände, die die Geschmacksmuster darstellen, undurchführbar oder ungewöhnlich (vgl. in diesem
, Rn. 53 und 55)
Benutzereigenschaft voraus, dass der Betreffende das Produkt, das das fragliche Geschmacksmuster verkörpert, zu dem für dieses Produkt
vorgesehenen Zweck benutzt (Urteile vom 6. Juni 2013, Uhrenzifferblätter, T‑68/11, EU:T:2013:298, Rn. 58, und vom 29. Oktober 2015,
Einhandmischer, T‑334/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:817, Rn. 25).
25
Was den Grad der Aufmerksamkeit des informierten Benutzers betrifft, ist dieser zwar nicht der durchschnittlich informierte, aufmerksame und
verständige Durchschnittsverbraucher, der ein Geschmacksmuster in der Regel als Ganzes wahrnimmt und nicht auf die verschiedenen Einzelheiten
achtet, aber auch kein Sachkundiger oder Fachmann, der minimale Unterschiede, die zwischen den einander gegenüberstehenden
Geschmacksmustern bestehen können, im Detail feststellen kann. Somit setzt die Bezeichnung „informiert“ voraus, dass der Benutzer, ohne dass er
ein Entwerfer oder technischer Sachverständiger wäre, verschiedene Geschmacksmuster kennt, die es in dem betroffenen Wirtschaftsbereich gibt,
dass er gewisse Kenntnisse in Bezug auf die Elemente besitzt, die diese Geschmacksmuster für gewöhnlich aufweisen, und dass er diese Produkte
aufgrund seines Interesses an ihnen mit vergleichsweise großer Aufmerksamkeit benutzt (Urteile vom 20. Oktober 2011, PepsiCo/Grupo Promer Mon
, Rn. 59, vom
Einhandmischer, T‑334/14, nicht veröffentlicht, EU:T:2015:817, Rn. 26).
26
Die Eigenart eines Geschmacksmusters ergibt sich aus einem Gesamteindruck der Unterschiedlichkeit oder eines fehlenden „Déjà-vu“ aus der Sicht
des informierten Benutzers gegenüber allem Vorherigem im Formenschatz der Geschmacksmuster, ohne Unterschiede zu berücksichtigen, die, auch
wenn sie über belanglose Details hinausgehen, nicht genügend ausgeprägt sind, um sich auf diesen Gesamteindruck auszuwirken, aber unter
(Urteil vom
16, vgl. auch Urteil vom
, Rn. 29 und die dort angeführte Rechtsprechung)
des Gesamteindrucks, den ein Geschmacksmuster beim informierten Benutzer hervorruft, ist überdies die Art und Weise zu berücksichtigen, wie das
von dem Geschmacksmuster dargestellte Produkt benutzt wird (vgl. Urteil vom 21. November 2013, El Hogar Perfecto del Siglo XXI/HABM – Wenf
International Advisers [Korkenzieher], T‑337/12, EU:T:2013:601, Rn. 46 und die dort angeführte Rechtsprechung).
27
Im vorliegenden Fall ist die Beschwerdekammer zu dem Ergebnis gelangt, dass es an einem unterschiedlichen Gesamteindruck der einander
gegenüberstehenden Geschmacksmuster und damit auch der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters fehlt (Rn. 27 bis 29 der
angefochtenen Entscheidung).
28
Nach Auffassung des Gerichts ist diese Beurteilung fehlerfrei.
29
Die Beschwerdekammer hat nämlich in Rn. 28 der angefochtenen Entscheidung zu Recht befunden, dass der informierte Benutzer den von den
beiden Geschmacksmustern erfassten Fadenheber als Teil einer Staubsaugerdüse betrachte und umgekehrt den Fadenheber nicht isoliert
wahrnehme und ihm nur eine untergeordnete Bedeutung zuerkenne, weil er für sich genommen keiner Benutzung zugänglich sei. Damit ist die
Beschwerdekammer stillschweigend, aber notwendig von der zutreffenden Prämisse ausgegangen, dass Staubsaugerdüsen komplexe Erzeugnisse
aus mehreren Bauelementen, darunter Fadenheber, im Sinne von Art. 3 Buchst. c der Verordnung Nr. 6/2002 sind.
30
Es ist außerdem festzustellen, dass ein informierter Staubsaugerbenutzer, dem eine besondere Wachsamkeit eigen ist und der einen direkten
Vergleich der fraglichen Geschmacksmuster vornimmt, zwar grundsätzlich wahrnehmen kann, dass diese zum einen insbesondere Fadenheber
darstellen und zum anderen bestimmte Unterschiede, vor allem hinsichtlich der jeweiligen Länge und Farbe dieser Fadenheber, aufweisen. Die
Geringfügigkeit des Unterschieds hinsichtlich der Länge und der Farbgebung – in den eigenen Worten der Klägerin zwischen „Rot“ und „Rotbraun“ – ist
jedoch nicht geeignet, beim informierten Benutzer einen Gesamteindruck der Unterschiedlichkeit zwischen diesen Geschmacksmustern insgesamt
hervorzurufen. Dies gilt umso mehr, als bei der bestimmungsgemäßen Verwendung eines Staubsaugers oder einer Staubsaugerdüse zu
Reinigungszwecken durch einen informierten Endbenutzer im Sinne von Art. 4 Abs. 2 Buchst. a und Abs. 3 der Verordnung Nr. 6/2002, die in diese
Erzeugnisse integrierten Fadenheber – gleichgültig, welche Länge oder Farbe sie haben – nicht sichtbar und damit nicht geeignet sind, die Eigenart
des angegriffenen Geschmacksmusters zu begründen. Zudem weiß der informierte Benutzer, wie die Beschwerdekammer in Rn. 28 der
angefochtenen Entscheidung zu Recht festgestellt hat, dass die Farbgebung des Fadenhebers keinerlei Auswirkungen auf seine Funktion hat und
dass die farblichen Unterschiede im gleichen Bereich des Farbspektrums liegen. Infolgedessen wird der informierte Benutzer diesen Unterschieden im
Rahmen des Gesamteindrucks der einander gegenüberstehenden Geschmacksmuster keine besondere Bedeutung zumessen.
31
Im Ergebnis ist daher festzustellen, dass die Beschwerdekammer den geringen Unterschied im Gesamteindruck der einander gegenüberstehenden
Geschmacksmuster zutreffend als ungeeignet angesehen hat, eine Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters im Sinne von Art. 6 Abs. 1 der
Verordnung Nr. 6/2002 zu begründen. Über die von der Klägerin in diesem Zusammenhang ebenfalls erhobene Rüge, die sich auf die
Gestaltungsfreiheit des Entwerfers bezieht, braucht damit nicht mehr entschieden zu werden.
32
Nach alledem ist der erste Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
Zum zweiten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002
33
Mit dem zweiten Klagegrund wirft die Klägerin der Beschwerdekammer vor, gegen Art. 63 Abs. 1 der Verordnung Nr. 6/2002 verstoßen zu haben,
indem sie insbesondere bestimmte Aktenkonvolute mit Beispielen von Fadenhebern unberücksichtigt gelassen habe, weil diese undatiert gewesen
seien. Nach Auffassung der Klägerin hätten die in diesen Aktenkonvoluten angegebenen Links „eine an die von der Klägerin vorgebrachten
Tatsachen anknüpfende Amtsermittlung nach dem Zeitpunkt ihrer Vermarktung zugelassen“. Die Beschwerdekammer habe auch weitere Tatsachen,
die „dafür sprechen, dass sämtliche Fadenheber bis zum Anmeldezeitpunkt des [angegriffenen Geschmacksmusters] in Rot gehalten waren“, nicht
berücksichtigt, was darüber hinaus bedeute, dass sie gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 62 der Verordnung Nr. 6/2002 verstoßen
habe. Schließlich wirft die Klägerin der Beschwerdekammer einen Widerspruch in ihren Ausführungen in Rn. 23 der angefochtenen Entscheidung vor.
Denn dort heiße es, dass das ältere Geschmacksmuster die Etablierung der länglichen Form als Standard nachzuweisen geeignet sei, aber nicht die
Etablierung der Farbe Rot.
34
Das EUIPO und die Streithelferin beantragen, den vorliegenden Klagegrund zurückzuweisen.
35
Insoweit genügt die Feststellung, dass der vorliegende Klagegrund ins Leere geht, soweit er sich richtet zum einen gegen die in Rn. 29 der
angefochtenen Entscheidung lediglich ergänzend getroffene Feststellung, dass „die [von der Klägerin] eingereichten Unterlagen nicht ausreichen,
um [die] Praxis [der ausschließlichen Verwendung der Farbe Rot für Fadenheber] bezogen auf den Anmeldetag des angegriffenen
[Gemeinschaftsgeschmacksmusters] zu belegen“, und zum anderen gegen Rn. 6 dieser Entscheidung, die im Rahmen der Schilderung des
Sachverhalts nur erwähnt, dass die Klägerin „ein Konvolut überwiegend undatierter Internetausdrucke mit Abbildungen verschiedener
Staubsaugerdüsen [eingereicht]“ habe.
36
Wie das EUIPO und die Streithelferin im Wesentlichen ausgeführt haben, beruhen nämlich die von der Beschwerdekammer vorgenommene
Beurteilung der Eigenart im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 und der verfügende Teil der angefochtenen Entscheidung nicht auf diesen
Feststellungen, sondern vor allem darauf, dass der informierte Benutzer einer Staubsaugerdüse seine Aufmerksamkeit weder auf den Fadenheber
noch auf die Farbe konzentriere, denen er nur eine geringe Bedeutung zuerkenne, sondern auf den von einer Staubsaugerdüse insgesamt
hervorgerufenen Gesamteindruck, so dass der Farbunterschied zwischen Rot und Rotbraun zu gering sei, um die Eigenart des angegriffenen
Geschmacksmusters zu begründen (vgl. insbesondere Rn. 29 am Ende der angefochtenen Entscheidung). Jedenfalls hat die Klägerin nicht dargelegt,
ob und in welcher Weise die Beschwerdekammer im Rahmen ihrer Beurteilung der Eigenart im Sinne von Art. 6 der Verordnung Nr. 6/2002 diesen
Feststellungen und Beweismitteln eine Entscheidungserheblichkeit für das Beschwerdeverfahren beigemessen hat und inwiefern die
Beschwerdekammer gegen ihre Verpflichtung verstoßen haben soll, ihr in diesem Zusammenhang rechtliches Gehör zu gewähren. Vielmehr geht aus
den Rn. 14 bis 31 der angefochtenen Entscheidung hervor, dass diese Beweismittel bei dieser Beurteilung keinerlei entscheidende Rolle gespielt
haben und dass darüber hinaus die Beschwerdekammer die Farbunterschiede und die rote Farbe der Fadenheber berücksichtigt hat, ohne das
Bestehen dieser Tatsachen in Frage zu stellen.
37
Der zweite Klagegrund geht daher insgesamt ins Leere und ist zurückzuweisen.
Zum dritten Klagegrund: Verstoß gegen Art. 62 der Verordnung Nr. 6/2002 und Verletzung des rechtlichen Gehörs
38
Mit dem dritten Klagegrund wirft die Klägerin der Beschwerdekammer im Wesentlichen vor, gegen Art. 62 der Verordnung Nr. 6/2002 verstoßen und
ihren Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt zu haben, indem sie sich für ihre Beurteilung des Gesamteindrucks der einander gegenüberstehenden
Geschmacksmuster auf eine andere Darstellung (D3) des älteren Geschmacksmusters gestützt habe als die von der Nichtigkeitsabteilung
berücksichtigte Darstellung (D1).
39
Das EUIPO ist, unterstützt durch die Streithelferin, der Auffassung, dass dieser Klagegrund zurückzuweisen sei.
40
Vorab ist festzustellen, dass sowohl der Entscheidung der Nichtigkeitsabteilung als auch der angefochtenen Entscheidung eine Prüfung des oben in
Rn. 5 genannten älteren Geschmacksmusters zugrunde lag. Jedoch ist es zutreffend, dass sich die Beschwerdekammer hauptsächlich auf eine
andere Darstellung dieses Geschmacksmusters (D3) gestützt hat als diejenige, die von der Nichtigkeitsabteilung berücksichtigt worden war (D1). Es
ist aber darauf hinzuweisen, dass beide Darstellungen des älteren Geschmacksmusters von der Streithelferin bereits im Verfahren vor der
Nichtigkeitsabteilung vorgelegt wurden und damit Teil des Streitgegenstands im Verfahren vor der Beschwerdekammer waren. Was ferner die
Merkmale der von der Beschwerdekammer in der angefochtenen Entscheidung untersuchten Fadenheber betrifft, so wiesen die fraglichen
Darstellungen keine signifikanten Unterschiede auf, die sich auf die oben in den Rn. 27 bis 31 ausgeführte Beurteilung der Eigenart des
angegriffenen Geschmacksmusters hätten auswirken können.
41
Unter diesen Umständen kann die Klägerin nicht geltend machen, sie hätte sich zu den verschiedenen Darstellungen des älteren
Geschmacksmusters nicht sachgerecht im Sinne von Art. 62 der Verordnung Nr. 6/2002 äußern können (vgl. Urteil vom 27. Juni 2013, Beifa
Group/HABM – Schwan-Stabilo Schwanhäußer [Schreibgeräte], T‑608/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:334, Rn. 42 und die dort angeführte
Rechtsprechung). Dies ist umso weniger möglich, weil die Beschwerdekammer damit betraut war, eine vollständig neue Prüfung des Antrags auf
Nichtigerklärung sowohl in rechtlicher als auch in tatsächlicher Hinsicht vorzunehmen und über den oben in Rn. 40 beschriebenen Streitgegenstand
zu entscheiden, u. a., wie im vorliegenden Fall, in Ausübung der Zuständigkeiten der Nichtigkeitsabteilung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. Juni
2013, Schreibgeräte, T‑608/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:334, Rn. 56).
42
Jedenfalls war die Beschwerdekammer nicht dazu verpflichtet, die Klägerin vor dem Erlass der angefochtenen Entscheidung über ihre Absicht zu
informieren, ihre Beurteilung der Eigenart des angegriffenen Geschmacksmusters auf eine andere – übrigens in Bezug auf das Aussehen der in Rede
stehenden Fadenheber genauere – Darstellung des älteren Geschmacksmusters zu stützen als diejenige, die die Nichtigkeitsabteilung sehr knapp
geprüft hatte (vgl. in diesem Sinne entsprechend Urteil vom 27. Juni 2013, Schreibgeräte, T‑608/11, nicht veröffentlicht, EU:T:2013:334, Rn. 51 und
56).
43
Folglich ist der vorliegende Klagegrund zurückzuweisen und damit die Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
44
Nach Art. 134 Abs. 1 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin unterlegen
ist, sind ihr gemäß den Anträgen des EUIPO und der Streithelferin die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen hat
DAS GERICHT (Dritte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Wessel-Werk GmbH trägt die Kosten.
Frimodt Nielsen Kreuschitz Półtorak
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 14. März 2017.
Der Kanzler Die Präsidentin
E. Coulon I. Pelikánová
*
Verfahrenssprache: Deutsch.