Urteil des EuG vom 30.04.2002
EuG: kommission, gibraltar, staatliche beihilfe, regierung, eröffnung des verfahrens, klage auf nichtigerklärung, verordnung, mitgliedstaat, juristische person, aufschiebende wirkung
URTEIL DES GERICHTS (Zweite erweiterte Kammer)
30. April 2002
„Staatliche Beihilfen - Steuerregelungen - Bestehende oder neue Beihilfen - Eröffnung des förmlichen
Prüfverfahrens im Sinne von Artikel 88 Absatz 2 EG“
In den verbundenen Rechtssachen T-195/01 und T-207/01
Regierung von Gibraltar
Schuster, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
unterstützt durch
Königreich Spanien
Luxemburg,
Streithelfer,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidungen SG(2001) D/289755 und SG(2001) D/289757 der Kommission
vom 11. Juli 2001 über die Eröffnung des Verfahrens gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG in Bezug auf
Rechtsvorschriften von Gibraltar über steuerbefreite und qualifizierte Gesellschaften,
erlässt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Zweite erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten R. M. Moura Ramos, der Richterin V. Tiili sowie der Richter J. Pirrung, P.
Mengozzi und A. W. H. Meij,
Kanzler: J. Plingers, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 5. März 2002,
folgendes
Urteil
Rechtlicher Rahmen
1.
Gemäß Artikel 87 Absatz 1 EG sind staatliche Beihilfen, abgesehen von bestimmten Ausnahmen,
verboten. Um die Wirksamkeit dieses Verbotes zu sichern, erlegt Artikel 88 EG der Kommission eine
besondere Überwachungspflicht und den Mitgliedstaaten genaue Verpflichtungen zu dem Zweck auf,
der Kommission die Erfüllung ihrer Aufgabe zu erleichtern und zu verhindern, dass sie vor vollendete
Tatsachen gestellt wird.
2.
So überprüft die Kommission gemäß Artikel 88 Absatz 1 EG fortlaufend in Zusammenarbeit mit den
Mitgliedstaaten die in diesen bestehenden Beihilferegelungen und schlägt ihnen gegebenenfalls „die
zweckdienlichen Maßnahmen vor, welche die fortschreitende Entwicklung und das Funktionieren des
Gemeinsamen Marktes erfordern“.
3.
Werden die Einführung oder Umgestaltung von Beihilfen beabsichtigt, so muss die Kommission
gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG so rechtzeitig unterrichtet werden, dass sie sich dazu äußern kann. Die
Kommission muss das kontradiktorische Verfahren gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG einleiten, wenn sie
der Auffassung ist, dass ein angemeldetes Beihilfevorhaben nicht mit dem Gemeinsamen Markt
vereinbar ist. Die Mitgliedstaaten dürfen die beabsichtigten Maßnahmen nicht durchführen, bevor die
Kommission eine abschließende Entscheidung darüber erlassen hat, ob diese Maßnahmen mit dem
Gemeinsamen Markt vereinbar sind.
4.
Artikel 1 der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere
Vorschriften für die Anwendung von Artikel [88 EG] (ABl. L 83, S. 1, im Folgenden:
Beihilfeverfahrensverordnung), die am 16. April 1999 in Kraft trat, enthält folgende in den
vorliegenden Verfahren relevante Definitionen:
„a) .Beihilfen' alle Maßnahmen, die die Voraussetzungen des Artikels [87] Absatz 1 des Vertrags
erfüllen;
b) .bestehende Beihilfen'
i) ... alle Beihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags in dem entsprechenden Mitgliedstaat
bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags eingeführt
worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind;
...
ii) genehmigte Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die von der Kommission oder
vom Rat genehmigt wurden;
...
v) Beihilfen, die als bestehende Beihilfen gelten, weil nachgewiesen werden kann, dass sie zu dem
Zeitpunkt, zu dem sie eingeführt wurden, keine Beihilfe waren und später aufgrund der Entwicklung
des Gemeinsamen Marktes zu Beihilfen wurden, ohne dass sie eine Änderung durch den betreffenden
Mitgliedstaat erfahren haben. Werden bestimmte Maßnahmen im Anschluss an die Liberalisierung
einer Tätigkeit durch gemeinschaftliche Rechtsvorschriften zuBeihilfen, so gelten derartige
Maßnahmen nach dem für die Liberalisierung festgelegten Termin nicht als bestehende Beihilfen;
c) .neue Beihilfen' alle Beihilfen, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die keine bestehenden
Beihilfen sind, einschließlich Änderungen bestehender Beihilfen;
...
f) .rechtswidrige Beihilfen' neue Beihilfen, die unter Verstoß gegen Artikel [88] Absatz 3 des Vertrags
eingeführt werden“.
5.
Gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung „teilen die Mitgliedstaaten der
Kommission ihre Vorhaben zur Gewährung neuer Beihilfen rechtzeitig mit“, und nach Absatz 3 dieser
Verordnung dürfen solche Beihilfen nicht eingeführt werden, „bevor die Kommission eine
diesbezügliche Genehmigungsentscheidung erlassen hat oder die Beihilfe als genehmigt gilt“. Nach
Artikel 4 Absatz 4 entscheidet die Kommission, das Verfahren nach Artikel 88 Absatz 2 EG (im
Folgenden: förmliches Prüfverfahren) zu eröffnen, wenn sie nach einer vorläufigen Prüfung feststellt,
dass die angemeldete Maßnahme Anlass zu „Bedenken hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit dem
Gemeinsamen Markt gibt“.
6.
Gemäß Artikel 6 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung enthält die „Entscheidung über die
Eröffnung des förmlichen Prüfverfahrens ... eine Zusammenfassung der wesentlichen Sach- und
Rechtsfragen, eine vorläufige Würdigung des Beihilfecharakters der geplanten Maßnahme durch die
Kommission und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem
Gemeinsamen Markt“.
7.
Nach Artikel 7 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung wird das förmliche Prüfverfahren „durch
eine Entscheidung nach den Absätzen 2 bis 5 dieses Artikels abgeschlossen“. Gelangt die Kommission
zu dem Schluss, dass die angemeldete Maßnahme keine Beihilfe darstellt, so stellt sie dies durch
Entscheidung fest (Absatz 2). Gelangt sie zu dem Schluss, dass die angemeldete Beihilfe mit dem
Gemeinsamen Markt unvereinbar ist, so entscheidet sie, dass diese Beihilfe nicht eingeführt werden
darf (Absatz 5). Die Entscheidungen nach den Absätzen 2 bis 5 werden erlassen, sobald die in Artikel
4 Absatz 4 genannten Bedenken ausgeräumt sind (Absatz 6).
8.
Hinsichtlich nicht angemeldeter Maßnahmen bestimmt Artikel 10 Absatz 1 der
Beihilfeverfahrensverordnung: „Befindet sich die Kommission im Besitz von Informationen gleich
welcher Herkunft über angebliche rechtswidrige Beihilfen, so prüft sie diese Informationen
unverzüglich.“ Nach Artikel 13 Absatz 1 kann diese Prüfung mit einer Entscheidung zur Eröffnung eines
förmlichen Prüfverfahrens abgeschlossen werden.
9.
Gemäß Artikel 11 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung kann die Kommission eine
Entscheidung erlassen, mit der dem Mitgliedstaat aufgegeben wird, alle rechtswidrigen Beihilfen so
lange auszusetzen, bis sie eine Entscheidung über die Vereinbarkeit der Beihilfe mit dem
Gemeinsamen Markt erlassen hat. Artikel 11 Absatz 2 ermächtigt sie, eine Entscheidung zu erlassen,
mit der dem Mitgliedstaat aufgegeben wird, alle rechtswidrigen Beihilfen einstweilig zurückzufordern,
sofern u. a. „[n]ach geltender Praxis ... hinsichtlich des Beihilfecharakters der betreffenden
Maßnahme keinerlei Zweifel [besteht]“.
10.
Was die Rückforderung von Beihilfen angeht, so entscheidet die Kommission gemäß Artikel 14
Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung in Negativentscheidungen hinsichtlich rechtswidriger
Beihilfen, dass der betreffende Mitgliedstaat alle notwendigen Maßnahmen ergreift, um die Beihilfe
vom Empfänger zurückzufordern, es sei denn, dass die Rückforderung „gegen einen allgemeinen
Grundsatz des Gemeinschaftsrechts verstoßen würde“. Nach Artikel 15 Absatz 1 gelten die
„Befugnisse der Kommission zur Rückforderung von Beihilfen ... für eine Frist von zehn Jahren“.
11.
Das für bestehende Beihilfen geltende Verfahren ist in den Artikeln 17 bis 19 der
Beihilfeverfahrensverordnung geregelt. Gemäß Artikel 18 schlägt die Kommission, wenn sie zu dem
Schluss gelangt, dass die bestehende Beihilferegelung mit dem Gemeinsamen Markt nicht oder nicht
mehr vereinbar ist, dem betreffenden Mitgliedstaat zweckdienliche Maßnahmen vor. Stimmt der
Mitgliedstaat den vorgeschlagenen Maßnahmen nicht zu, kann die Kommission gemäß Artikel 19
Absatz 2 ein förmliches Prüfverfahren nach Artikel 4 Absatz 4 einleiten.
12.
Da das Gebiet von Gibraltar ein europäisches Hoheitsgebiet im Sinne von Artikel 299 Absatz 4 EG
ist, dessen auswärtige Beziehungen das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland
wahrnimmt, findet der EG-Vertrag auf dieses Gebiet Anwendung. Während gemäß Artikel 28 der Akte
über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten
Königreichs Großbritannien und Nordirland zu den Europäischen Gemeinschaften, die dem Vertrag
über diesen Beitritt beigefügt ist (ABl. 1972, L 73, S. 5), die Rechtsakte der Organe der Gemeinschaft
betreffend u. a. „die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die
Umsatzsteuer ... auf Gibraltar nicht anwendbar“ sind, sofern der Rat nicht etwas anderes bestimmt,
gelten die Bestimmungen des gemeinschaftlichen Wettbewerbsrechts einschließlich der
Bestimmungen über die von den Mitgliedstaaten gewährten Beihilfen auch dort.
13.
Die vorliegenden Rechtssachen betreffen zwei gesellschaftsrechtliche Regelungen über
„steuerbefreite Gesellschaften“ und „qualifizierte Gesellschaften“. Während erstere in Gibraltar nicht
angesiedelt sind, haben letztere dort „a bricks and mortarpresence“ (eine tatsächliche
Geschäftsstelle) und sind in verschiedenen Bereichen tätig.
Steuerbefreite Gesellschaften
14.
Ám 9. März 1967 erließ das House of Assembly von Gibraltar die Ordinance No. 2 of 1967, gemeinhin
bekannt unter der Bezeichnung „Companies (Taxation and Concessions) Ordinance“ (Verordnung
über die Gesellschaften [Besteuerung und Steuervergünstigungen]). Diese Verordnung wurde in den
Jahren 1969 und 1970 und nach dem Beitritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und
Nordirland noch zehnmal geändert, nämlich 1974, 1977, 1978, 1983, 1984, 1985, 1987, 1988, 1990
und 1993. Im vorliegenden Verfahren geht es um die geänderte Fassung der Verordnung von 1978
und 1983 (im Folgenden: Regelung über steuerbefreite Gesellschaften).
15.
Für die Anerkennung als steuerbefreite Gesellschaft muss ein Unternehmen die in Artikel 3 der
Regelung über steuerbefreite Gesellschaften festgelegten Voraussetzungen erfüllen. Dazu gehört das
Verbot der Ausübung einer gewerblichen oder sonstigen Tätigkeit in Gibraltar, ausgenommen
allerdings Tätigkeiten mit anderen steuerbefreiten oder - nach den Angaben im Verfahren der
einstweiligen Anordnung - qualifizierten Gesellschaften. Staatsangehörige und Bewohner von Gibraltar
können an einer steuerbefreiten Gesellschaft nicht beteiligt sein und aus einer solchen Beteiligung
keine Vorteile erlangen, es sei denn mittels einer Aktiengesellschaft als deren Aktionär. Ferner
schloss nach der 1983 vorgenommenen Änderung Artikel 3 der Regelung über steuerbefreite
Gesellschaften den Status Stellung einer steuerbefreiten Gesellschaft für die Gesellschaften im Sinne
des Kapitels IX, also Gesellschaften, die nicht in Gibraltar gegründet worden sind und dort nur über
eine Niederlassung verfügen, aus; es handelt sich dabei insbesondere um registrierte
Niederlassungen ausländischer Gesellschaften.
16.
Nach Artikel 8 der Regelung über steuerbefreite Gesellschaften ist eine solche Gesellschaft - unter
bestimmten, engen Ausnahmen - in Gibraltar von der Einkommensteuer befreit und braucht nach
Artikel 10 dieser Regelung nur eine jährliche Pauschalsteuer von 225 GBP zu entrichten. Nach Artikel 9
der Regelung fallen außerdem für Beteiligungen an einer steuerbefreiten Gesellschaft, ihr gewährte
Darlehen und von ihr ausgegebene Schuldverschreibungen keinerlei Verkehrsteuern an.
- Änderung von 1978
17.
Nach der 1978 vorgenommenen Änderung bestimmt Artikel 9 der Regelung über steuerbefreite
Gesellschaften, dass die Verkehrsteuerbefreiung künftig für jede von einer steuerbefreiten
Gesellschaft ausgestellte Versicherungspolice gilt und dass der Wert einer solchen
Versicherungspolice nicht bei der Bestimmung des Satzes der auf andere Gegenstände erhobenen
Verkehrsteuern berücksichtigt werden oderdiesem hinzugefügt werden darf. Allerdings gilt die
Befreiung von den Verkehrsteuern nicht für Lebensversicherungspolicen, die einen
Staatsangehörigen oder Einwohner Gibraltars betreffen, und sie können in Bezug auf ihren Wert
berücksichtigt werden. Nach Artikel 9 in der 1978 geänderten Fassung wird - unbeschadet der
Bestimmungen des Stamp Duty Ordinance (Verordnung über Stempelabgaben) - bei der Ausstellung
von Verkehrsteuern befreiter Lebensversicherungspolicen, bei der Zahlung von Renten durch
steuerbefreite Gesellschaften oder bei bestimmten Vorgängen im Zusammenhang mit diesen Policen
oder Renten, wie der Sicherheitsleistung, dem Verkauf usw., keine Stempelabgabe erhoben.
- Änderung von 1983
18.
Durch die 1983 eingeführte Änderung wurden in Artikel 3 der Regelung über steuerbefreite
Gesellschaften die Worte „mit Ausnahme ihres Kapitels IX“ (siehe Randnr. 15) gestrichen, und es
wurde somit den von diesem Kapitel erfassten Gesellschaften erlaubt, die Stellung von
steuerbefreiten Gesellschaften zu erlangen.
Qualifizierte Gesellschaften
19.
Am 14. Juli 1983 erließ das House of Assembly die Ordinance No. 24 of 1983, gemeinhin bekannt
unter der Bezeichnung „Income Tax (Amendment) Ordinance 1983“ (Verordnung zur Änderung der
Verordnung über die Einkommensteuer). Mit dieser Verordnung wurden in die Ordinance No. 11 of
1952, gemeinhin bekannt unter der Bezeichnung „Income Tax Ordinance“ (Verordnung über die
Einkommensteuer), die Definition einer als „Qualifying Companies“ („qualifizierte Gesellschaft“)
bezeichneten Gesellschaftsart und verschiedene Vorschriften über diese eingefügt. Die erforderlichen
Einzelbestimmungen zur Durchführung dieser neuen Vorschriften wurden in den „Income Tax
(Qualifying Companies) Rules“ (Regeln über die Einkommensteuer [qualifizierte Gesellschaften]) vom
22. September 1983 erlassen. Die Ordinance No. 24 und die Regeln von 1983 (im Folgenden:
Regelung über qualifizierte Gesellschaften) bilden die in den vorliegenden Verfahren anwendbare
Regelung über qualifizierte Gesellschaften.
20.
Um den Status einer qualifizierten Gesellschaft zu erlangen, sind im Wesentlichen die gleichen
Voraussetzungen zu erfüllen wie für den Status einer steuerbefreiten Gesellschaft.
21.
Gemäß Artikel 41 Absatz 4 der Income Tax Ordinance unterliegen qualifizierte Gesellschaften der
Gewinnsteuer, deren Satz jedoch den in Gibraltar geltenden Satz der Körperschaftsteuer (gegenwärtig
35 % vom Gewinn) nicht überschreiten darf. Der tatsächlich geltende Satz für die von einer
qualifizierten Gesellschaft zu entrichtende Steuer wird durch keine Rechtsnorm festgelegt. Alle diese
Gesellschaften müssen allerdings nach den Angaben in den Akten und im Verfahren der einstweiligen
Anordnung Steuern in Höhe eines Satzes zahlen, dermit den Steuerbehörden von Gibraltar
ausgehandelt wird und zwischen 2 % und 10 % ihres Gewinnes schwankt. Nach Artikel 41 Absatz 4
Buchstaben b und c der Income Tax Ordinance sind ferner Honorare, die eine qualifizierte Gesellschaft
Empfängern ohne Wohnsitz in Gibraltar (einschließlich Direktoren) zahlt, und von ihr an die Aktionäre
ausgeschütteten Dividenden zu dem gleichen Satz zu versteuern wie ihr Gewinn. Nach der Stamp Duty
Ordinance fällt keine Stempelsteuer an für die Übertragung der Aktien einer qualifizierten
Gesellschaft, den Erwerb von einer solchen ausgegebener Lebensversicherungspolicen, von ihr
gezahlte Renten oder die Veräußerung, Verpfändung oder sonstige Transaktion solcher Policen oder
Renten.
Vorgeschichte der Rechtsstreitigkeiten
22.
Mit Schreiben vom 12. Februar 1999 ersuchte die Kommission den Ständigen Vertreter des
Vereinigten Königreichs bei der Europäischen Union um allgemeine Auskünfte u. a. über fünf in
Gibraltar geltende Steuerregelungen, deren Prüfung im Übrigen bereits der Rat im Zusammenhang
mit dem Verhaltenskodex für die Unternehmensbesteuerung (beigefügt den Schlussfolgerungen des
Rates „Wirtschafts- und Finanzfragen“ vom 1. Dezember 1997 zur Steuerpolitik, ABl. 1998, C 2, S. 1)
und außerdem eine 1997 vom Rat eingesetzte, gegenwärtig unter der Leitung von Frau Primarolo
stehende Arbeitsgruppe (im Folgenden: Arbeitsgruppe Primarolo), der hochrangige nationale
Steuerexperten und ein Kommissionsvertreter angehören, aufgenommen hatten.
23.
Zu diesen Regelungen gehörten die über die steuerbefreiten und über die qualifizierten
Gesellschaften. Die Regierung des Vereinigten Königreichs übermittelte die erbetenen Auskünfte mit
Schreiben vom 22. Juli 1999 und bat um eine Zusammenkunft mit den zuständigen Dienststellen der
Kommission, um diese Regelungen zu erörtern.
24.
Am 23. Mai und 28. Juni 2000 richtete die Kommission ein Schreiben und eine Erinnerung an den
Ständigen Vertreter des Vereinigten Königreichs, mit denen sie um ergänzende Informationen über
die Regelungen ersuchte.
25.
Die Ständige Vertretung des Vereinigten Königreichs beantwortete dies mit einem Schreiben vom 3.
Juli 2000, dem sie eine Kopie der Verordnung über die steuerbefreiten Gesellschaften von 1967 in der
Fassung von 1983 und der Verordnung von 1983 über die qualifizierten Gesellschaften in der 1984
geltenden Fassung beifügte.
26.
Mit Schreiben vom 14. Juli 2000 an den Ständigen Vertreter des Vereinigten Königreichs bestätigte
die Kommission, dass sie nach den ihr vorliegenden Angaben die Regelung über die steuerbefreiten
Gesellschaften für eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Betriebsbeihilfe halte. Um
festzustellen, ob es sich um eine bestehende Beihilfe handelte, ersuchte sie weiterhin um
Übermittlung einer Kopie der Verordnung in ihrer ursprünglichen Fassung von 1967 und
fordertezugleich die Regierung des Vereinigten Königreichs gemäß Artikel 17 Absatz 2 der
Beihilfeverfahrensverordnung zur Stellungnahme auf.
27.
Hierauf reagierte die Ständige Vertretung des Vereinigten Königreichs mit Antwortschreiben vom 3.
August 2000, dem sie den ursprünglichen Text der Verordnung mit den geänderten Fassungen von
1969, 1970, 1977 und 1978 beifügte, und vom 12. September 2000; sie ersuchte darin außerdem
erneut um eine Sitzung mit Vertretern der Kommission. Im Schreiben vom 12. September 2000
erinnerte sie nochmals an diese Bitte und übersandte der Kommission ein Schriftstück der Regierung
von Gibraltar, die darin erläuterte, aus welchen Gründen sie die Regelung über die steuerbefreiten
Gesellschaften nicht für eine staatliche Beihilfe halte.
28.
Am 19. Oktober 2000 fand in Brüssel eine Sitzung von Vertretern der Regierung des Vereinigten
Königreichs und den Dienststellen der Kommission statt. Die Regierung des Vereinigten Königreichs
hatte auch Vertreter der Regierung von Gibraltar zur Teilnahme an der Sitzung eingeladen.
Verschiedene Antworten auf die Fragen, die die Kommission in dieser Sitzung stellte, wurden von der
Regierung von Gibraltar ausgearbeitet und der Kommission am 28. November 2000 bereits vor ihrer
förmlichen Übermittlung durch die Regierung des Vereinigten Königreichs am 8. Januar 2001 zur
Kenntnis gebracht.
Die angefochtene Entscheidungen
29.
Mit den Entscheidungen SG(2001) D/289755 und SG(2001) D/289757 vom 11. Juli 2001, der
Regierung des Vereinigten Königreichs zugestellt mit Schreiben vom selben Tag, eröffnete die
Kommission das förmliche Prüfverfahren hinsichtlich der Regelungen für steuerbefreite und für
qualifizierte Gesellschaften.
30.
In der Begründung der Entscheidung SG(2001) D/289755 stellt die Kommission nach einer
Zusammenfassung der wichtigsten Voraussetzungen für die Anerkennung als steuerbefreite
Gesellschaft in Nummer 9 fest:
„Nach den von den Behörden des Vereinigten Königreichs übermittelten Informationen weisen die
Rechtsvorschriften über steuerbefreite Gesellschaften, die nach dem Beitritt des Vereinigten
Königreichs zur Europäischen Union in Kraft gesetzt wurden, mindestens zwei gemäß der Regelung
über staatliche Beihilfen anzumeldende Änderungen auf.“
31.
Nach Auffassung der Kommission waren durch die Änderung von 1978 die steuerbefreiten
Gesellschaften dadurch von ihrer Steuerpflichtigkeit freigestellt worden, dass sie von der
Stempelsteuer für den Abschluss von Lebensversicherungsverträgen, auf die nach solchen Verträgen
gezahlten Rentenund für bestimmte Transaktionen im Zusammenhang mit solchen Verträgen und
Renten ausgenommen wurden. Durch die Änderung von 1983 sei die fragliche Steuerregelung
zugunsten neuer Unternehmen ausgeweitet worden, die nach der ursprünglichen, von 1967
datierenden Fassung der Verordnung über die steuerbefreiten Gesellschaften nicht die erforderlichen
Voraussetzungen für eine Anerkennung als steuerbefreite Gesellschaft erfüllt hätten (bei dieser
Unternehmensgruppe habe es sich um die gemäß Titel IX der Companies Ordinance [Verordnung über
Gesellschaften] von Gibraltar registrierten Niederlassungen ausländischer Gesellschaften gehandelt).
Diese Unternehmen zahlen im Fall ihrer Anerkennung als steuerbefreite Gesellschaften nur eine
jährliche Pauschalsteuer von 300 GBP. Die Kommission gelangte daher zu dem Ergebnis, dass wegen
dieser „wesentlichen Änderungen“, durch die sowohl die gewährte Vergünstigung ihrem Betrag nach
erhöht als auch der Kreis der potenziell Begünstigten ausgeweitet worden seien, „die Regelung über
die steuerbefreiten Gesellschaften nicht als eine bestehende Beihilfe, sondern als eine rechtswidrige
Beihilfe anzusehen“ sei.
32.
Die Kommission fasste das Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der
Regierung von Gibraltar im Rahmen ihrer Vorprüfung zusammen und stellte sodann fest, dass dieses
Vorbringen nicht genüge, um die Bedenken hinsichtlich der Natur der fraglichen Regelung als einer
bestehenden staatlichen Beihilfe auszuräumen. Die Kommission prüfte anschließend die
Rechtmäßigkeit der Beihilfe und kam zu dem Ergebnis, dass diese offenbar nicht in den
Anwendungsbereich der in Artikel 87 Absatz 3 EG aufgeführten Ausnahmen falle. Sie ersuchte die
Beteiligten um Stellungnahme dazu, ob der Rückforderung der Beihilfe, „falls [diese] für rechtswidrig
und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt werden sollte“, etwaige Hindernisse
entgegenstünden. Sie wies die Regierung des Vereinigten Königreichs darauf hin, dass das Verfahren
gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG aufschiebende Wirkung habe und dass gemäß Artikel 14 der
Beihilfeverfahrensverordnung eine rechtswidrige Beihilfe vom Empfänger zurückzufordern sei.
33.
In der Begründung der Entscheidung SG(2001) D/289757 führte die Kommission aus, dass die
Regelung über qualifizierte Gesellschaften von der Definition einer bestehenden Beihilfe gemäß Artikel
1 der Beihilfeverfahrensverordnung „anscheinend nicht erfasst“ werde und dass „sie derzeit als eine
nicht angemeldete Beihilfe anzusehen“ sei.
34.
Nach der Feststellung, dass es sich bei dieser Regelung offenbar um eine Beihilfe im Sinne von
Artikel 87 Absatz 1 EG handele, stellte die Kommission fest, dass sie „derzeit“ als eine Betriebsbeihilfe
anzusehen sein könnte, die offenbar nicht unter eine der Ausnahmen gemäß Artikel 87 Absatz 3 EG
falle. Sie ersuchte die Beteiligten um Stellungnahme, ob der Rückforderung der Beihilfe, „falls [diese]
für rechtswidrig und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt werden sollte“,etwaige
Hindernisse entgegenstünden. Sie wies die Regierung des Vereinigten Königreichs auf die
aufschiebende Wirkung des Verfahrens gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG sowie darauf hin, dass eine
rechtswidrige Beihilfe gemäß Artikel 14 der Beihilfeverfahrensverordnung vom Empfänger
zurückzufordern sei.
Verfahren
35.
Mit Klageschrift, die am 20. August 2001 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen und unter der
Nummer T-195/01 in das Register eingetragen worden ist, hat die Regierung von Gibraltar (im
Folgenden: Klägerin) gemäß Artikel 230 Absatz 4 EG eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung
SG(2001) D/289755 (im Folgenden: angefochtene Entscheidung I) über die Eröffnung des förmlichen
Prüfverfahrens wegen der Regelung über steuerbefreite Gesellschaften erhoben.
36.
Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat
die Klägerin einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung I und auf
Erlass einstweiliger Anordnungen, mit denen der Kommission die Bekanntgabe der Eröffnung des in
Frage stehenden Verfahrens untersagt werden soll, gestellt.
37.
Mit Klageschrift, die am 7. September 2001 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen und unter der
Nummer T-207/01 in das Register eingetragen worden ist, hat die Antragstellerin gemäß Artikel 230
Absatz 4 EG eine Klage auf Nichtigerklärung der Entscheidung SG(2001) D/289757 (im Folgenden:
angefochtene Entscheidung II) über die Eröffnung eines förmlichen Prüfverfahrens wegen der
Regelung über qualifizierte Gesellschaften erhoben.
38.
Mit besonderem Schriftsatz, der am selben Tag bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist, hat
die Klägerin einen Antrag auf Aussetzung des Vollzugs der angefochtenen Entscheidung II und auf
Erlass einstweiliger Anordnungen, mit denen der Kommission die Bekanntgabe der Eröffnung des in
Frage stehenden Verfahrens untersagt werden soll, gestellt.
39.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat auf ein im Verfahren der einstweiligen Anordnung an
den Ständigen Vertreter des Vereinigten Königreichs gerichtetes Auskunftsersuchen mit Schreiben
vom 11. Oktober 2001 (im Folgenden: Antwort des Vereinigten Königreichs) geantwortet, dass für die
Einbringung und den Erlass von Vorschriften über die Unternehmensbesteuerung, da es sich hierbei
um „defined domestic matters“ („festgelegte innere Angelegenheiten“) im Sinne von Artikel 55 der
Gibraltar Constitution Order (Verordnung über die Verfassung von Gibraltar) von 1969 handele, die
Klägerin und das House of Assembly von Gibraltar zuständig seien. Nur Angelegenheiten, die nicht in
diese Kategorie fielen, verblieben in der ausschließlichen Zuständigkeit des Gouverneurs von
Gibraltar. Nach dem Ministerialerlass vom 23. Mai 1969 könne der Gouverneur jedoch im Namen des
Vereinigten Königreichs in einer Angelegenheit tätig werden, wenn einsolches Tätigwerden
erforderlich sei, um u. a. die internationalen - einschließlich der gemeinschaftsrechtlichen -
Verpflichtungen der Regierung des Vereinigten Königreichs zu wahren. Was die Befugnis angehe, in
Angelegenheiten der Unternehmensbesteuerung gerichtliche Verfahren einzuleiten, so könne der
Chief Minister hierzu im Namen der Klägerin ermächtigt werden; die Klägerin sei nämlich ungeachtet
der Abgrenzung ihrer inneren Zuständigkeiten gegenüber dem House of Assembly von Gibraltar
insoweit klagebefugt.
40.
Die Zweite erweiterte Kammer des Gerichts, an die die Hauptsacheverfahren verwiesen worden
sind, hat in ihrer Beratung vom 12. November 2001 gemäß Artikel 76a der Verfahrensordnung des
Gerichts in der Fassung vom 6. Dezember 2000 (ABl. L 322, S. 4) nach Anhörung der Klägerin zu dieser
Frage beschlossen, dem Antrag der Kommission vom 18. Oktober 2001 auf Entscheidung im
beschleunigten Verfahren stattzugeben.
41.
Durch Beschluss des Präsidenten der Zweiten erweiterten Kammer des Gerichts vom 14. November
2001 sind die beiden Verfahren in der Hauptsache gemäß Artikel 50 der Verfahrensordnung des
Gerichts zu gemeinsamem schriftlichen und mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung
verbunden worden.
42.
Die Klägerin und die Kommission haben mit Schriftsätzen, die am 29. November 2001 eingegangen
sind, auf Ersuchen des Gerichts schriftlich zu den möglichen Folgen des Urteils des Gerichtshofes vom
9. Oktober 2001 in der Rechtssache C-400/99 (Italien/Kommission, Slg. 2001, I-7303, im Folgenden:
Urteil Tirrenia) für die vorliegenden Rechtsstreitigkeiten Stellung genommen.
43.
Der Präsident des Gerichts hat mit Beschluss vom 19. Dezember 2001 die Anträge der Klägerin auf
einstweilige Anordnungen in den Rechtssachen T-195/01 R und T-207/01 R zurückgewiesen.
44.
Der Präsident der Zweiten erweiterten Kammer des Gerichts hat mit Beschluss vom 21. Januar 2002
das Königreich Spanien als Streithelfer in den vorliegenden Rechtssachen zur Unterstützung der
Anträge der Beklagten zugelassen und hat zunächst dem Antrag der Klägerin auf vertrauliche
Behandlung bestimmter bei den Akten befindlicher Unterlagen gegenüber dem Streithelfer
stattgegeben.
45.
Das Gericht (Zweite erweiterte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die
mündliche Verhandlung zu eröffnen.
46.
Die Verfahrensbeteiligten haben in der Sitzung vom 5. März 2002 mündlich verhandelt und Fragen
des Gerichts beantwortet.
Anträge der Verfahrensbeteiligten
47.
Die Klägerin beantragt,
- die angefochtene Entscheidung I und die angefochtene Entscheidung II für nichtig zu erklären;
- der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
48.
Die Kommission beantragt,
- die Klagen als unzulässig abzuweisen;
- hilfsweise, sie als unbegründet abzuweisen;
- der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
49.
Das Königreich Spanien schließt sich den Anträgen der Kommission an.
Zur Zulässigkeit der Klagen
50.
Die Kommission, unterstützt durch das Königreich Spanien, erhebt zwei Einreden der Unzulässigkeit.
Mit der ersten bestreitet sie die Klagebefugnis der Klägerin. Mit der zweiten macht sie geltend, dass
die angefochtenen Entscheidungen keine Rechtswirkungen entfalteten und daher nicht mit einer
Nichtigkeitsklage angefochten werden könnten.
Vorbringen der Kommission und des Königreichs Spanien
51.
Die Kommission und das Königreich Spanien bezweifeln die Klagebefugnis der Klägerin und die
Befugnis des Chief Minister, die vorliegenden Klagen zu erheben. Nach ihrer Ansicht besteht eine
gewisse Unvereinbarkeit zwischen der Antwort des Vereinigten Königreichs (siehe oben, Randnr. 39)
und dem Standpunkt des Vereinigten Königreichs in der Rechtssache, die zum Urteil des
Gerichtshofes vom 29. Juni 1993 in der Rechtssache C-298/89 (Gibraltar/Rat, Slg. 1993, I-3605) geführt
hat; in dieser Rechtssache habe das Vereinigte Königreich erklärt, dass sich die Zuständigkeit des
Ministerrats - sogar in Bezug auf definierte örtliche Angelegenheiten - nicht auf die Anwendung
internationaler Übereinkünfte auf Gibraltar, die Erfüllung von Verpflichtungen aus internationalen
Verträgen durch Gibraltar oder die Beteiligung Gibraltars an spezialisierten internationalen
Organisationen erstrecke. In diesen Bereichen könne eine Klage im Namen der Regierung von
Gibraltar nur im Auftrag des Gouverneurs von Gibraltar erhoben werden. Die Kommission stellt die
Entscheidung, ob die Prüfung dieser Frage fortzusetzen sei, in das Ermessen des Gerichts.
Würdigung durch das Gericht
52.
In diesem Zusammenhang ist zunächst darauf hinzuweisen, dass nach Artikel 230 Absatz 4 EG „jede
natürliche oder juristische Person“ eine Nichtigkeitsklage erheben kann. Im vorliegenden Fall verfügt
die Klägerin nach britischem Recht unbestreitbar über Rechtspersönlichkeit und ist daher als
juristische Person im Sinne dieser Bestimmung zu betrachten.
53.
In Bezug auf die Befugnis der Klägerin zur Erhebung der vorliegenden Klagen geht aus der Antwort
des Vereinigten Königreichs (siehe oben, Randnr. 39) hervor, dass das britische Recht ihr eine
Zuständigkeit auf dem Gebiet verleiht, das Gegenstand des vorliegenden Falles ist, nämlich im
Bereich der Unternehmensbesteuerung als „definierte örtliche Angelegenheit“. Die Akten enthalten
nichts, was es dem Gericht erlaubte, den Inhalt dieser Antwort in Frage zu stellen.
54.
Daher ist der Verweis der Kommission und des Königreichs Spanien auf die dem Urteil Gibraltar/Rat
zugrunde liegende Rechtssache, in der das Vereinigte Königreich die Klagebefugnis der Regierung von
Gibraltar bestritten haben soll, unerheblich, da diese Rechtssache den innergemeinschaftlichen
Luftverkehr und damit einen grundlegend anderen Gegenstand als das vorliegende Verfahren hatte.
55.
Somit ist die erste Rüge der Unzulässigkeit aufgrund des Akteninhalts zurückzuweisen, ohne dass
diese Zulässigkeitsfrage von Amts wegen weiter zu vertiefen wäre.
Vorbringen der Kommission und des Königreichs Spanien
56.
Nach Ansicht der Kommission entfalten die angefochtenen Entscheidungen keine Rechtswirkungen.
Im Unterschied zu den Entscheidungen, die Gegenstand der Urteile des Gerichtshofes vom 30. Juni
1992 in der Rechtssache C-312/90 (Spanien/Rat, Slg. 1992, I-4117, im Folgenden: Urteil Cenemesa)
und in der Rechtssache C-47/91 (Italien/Kommission, Slg. 1992, I-4145, im Folgenden: Urteil Italgrani)
gewesen seien, enthielten die angefochtenen Entscheidungen keine endgültigen Schlussfolgerungen
zu der Frage, ob die vermeintlichen Beihilfen neue oder bestehende Beihilfen seien, und zu ihrer
Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt. Daher bedeuteten diese Entscheidungen nicht
automatisch die Auslösung der Aussetzungspflicht des Artikels 88 Absatz 3 EG. Sie führten dem
Vereinigten Königreich lediglich die Wirkung dieser Bestimmung für den Fall vor Augen, dass diese
Anwendung finde. Die Frage, ob die streitigen Regelungen, sofern sie Beihilfen darstellten, als neue
oder bestehende Beihilfen einzustufen seien, bleibe daher in der Schwebe.
57.
Die Kommission fügt hinzu, sie habe keine Entscheidung erlassen, mit der dem Mitgliedstaat
aufgegeben werde, die Beihilfe gemäß Artikel 11 Absatz 2 der Beihilfeverfahrensverordnung einstweilig
zurückzufordern. Sie habe das Vereinigte Königreich und die anderen Beteiligten schlicht aufgefordert,
zu der Frage Stellungzu nehmen, ob die Beihilfeempfänger ein berechtigtes Vertrauen erworben
haben könnten, das der Rückforderung entgegenstünde, „falls diese Beihilfen für rechtswidrig und mit
dem Gemeinsamen Markt unvereinbar befunden würden“.
58.
Die Kommission räumt ein, dass der Gerichtshof seine Rechtsprechung in den Urteilen Cenemesa
und Italgrani im Urteil Tirrenia bestätigt habe, doch werde in diesem Urteil nicht ausgeführt, dass jede
Entscheidung über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens notwendigerweise Rechtswirkungen
entfalte. Wie die Urteile Cenemesa und Italgrani beruhe das Urteil Tirrenia auf dem Gedanken, dass
die Kommission die in Rede stehende Maßnahme als neue Beihilfe eingestuft habe. In diesem
Zusammenhang verweist die Kommission insbesondere auf Randnummer 59 des Urteils Tirrenia, in
dem es um eine Entscheidung über die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 88 Absatz 2 EG über
eine in der Durchführung begriffene „und als neue Beihilfe eingestufte“ Maßnahme gehe. Im
vorliegenden Fall habe die Kommission jedoch keine Entscheidung in diesem Sinne getroffen und die
Beihilfen nicht für rechtswidrig erklärt.
59.
Im Übrigen habe die Kommission in der dem Urteil Tirrenia zugrunde liegenden Rechtssache in
ihrem Aufforderungsschreiben an die italienischen Behörden nur die Frage des Bestehens und der
Vereinbarkeit der von den Beschwerdeführern gerügten Beihilfe mit dem Gemeinschaftsrecht
aufgeworfen. Niemals habe die Kommission Zweifel daran geäußert, dass die gerügte Beihilfe eine
neue Beihilfe gewesen sei. Sie habe vielmehr klar angegeben, dass ihres Erachtens die in Rede
stehende Beihilfe neu sei und aufgehoben werden müsse. Sie habe die italienischen Behörden
aufgefordert, die Aussetzung dieser Beihilfe binnen zehn Tagen zu bestätigen und ihnen die
Notwendigkeit einer solchen Maßnahme ins Gedächtnis gerufen, um jede spätere Verzerrung des
Marktes zu verhindern. Sie habe auch an die Möglichkeit erinnert, den Gerichtshof gemäß Artikel 88
Absatz 2 EG unmittelbar anzurufen, falls die Italienische Republik der Aussetzungsentscheidung nicht
nachkomme. In einem späteren Schreiben habe sie ihre Absicht zum Ausdruck gebracht, eine
Entscheidung zu erlassen, mit der der Italienischen Republik aufgegeben werde, die Zahlung dieser
Beihilfe auszusetzen.
60.
Im vorliegenden Fall habe die Kommission hingegen keine Entscheidung über die Aussetzung der
vermeintlichen Beihilfe erlassen und auch nicht ihre Absicht bekannt gegeben, dies zu tun. Sie habe
auch nicht gedroht, den Gerichtshof unmittelbar zu befassen, wenn die vermeintliche Beihilfe nicht
ausgesetzt werde. Sie habe aus dem einfachen Grund keine dieser Maßnahmen ergriffen, weil sie
noch nicht bestimmt gehabt habe, ob es sich bei der vermeintlichen Beihilfe um eine neue oder eine
bestehende Beihilfe handele. Eine der Fragen, die durch das förmliche Prüfverfahren beantwortet
werden solle, betreffe gerade den Charakter der Maßnahmen als neue Maßnahmen. Erst wenn diese
Frage beantwortet sei, könne eindeutig festgestellt werden, ob Gibraltar die Gewährung der
vermeintlichen Beihilfe auszusetzen habe.
61.
Im Urteil Tirrenia habe der Gerichtshof ausgeführt, dass die Entscheidung über die Einleitung des
förmlichen Verfahrens eigenständige Rechtswirkungen entfalte, da die Entscheidung impliziere, dass
„die Kommission nicht beabsichtigt, die Beihilfe im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung
bestehender Beihilferegelungen ... zu prüfen“ (Randnr. 58). Das bedeute, dass nach Ansicht der
Kommission die Beihilfe „unter Missachtung des Durchführungsverbots, das für neue Beihilfen aus
Artikel 88 Absatz 3 Satz 3 EG folgt, rechtswidrig durchgeführt wurde und wird“ (Randnr. 58). Nach dem
Erlass dieser Entscheidung bestehen nach Ansicht des Gerichtshofes „zumindest erhebliche
Bedenken an der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme, die ... den Mitgliedstaat veranlassen müssen, die
Zahlung auszusetzen“ (Randnr. 59).
62.
Die im vorliegenden Fall angefochtenen Entscheidungen könnten nicht der Entscheidung in der
dem Urteil Tirrenia zugrunde liegenden Rechtssache gleichgestellt werden. Im vorliegenden Fall habe
die Kommission weder geltend gemacht, dass die Beihilfe rechtswidrig durchgeführt worden sei, noch
sei sie zu diesem Ergebnis gelangt; im Übrigen bedeuteten die angefochtenen Entscheidungen nicht,
dass sie nicht beabsichtige, die Beihilfe „im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung der bestehenden
Beihilferegelungen“ zu prüfen. Sie habe noch nicht das Stadium erreicht, in dem sie mit Gewissheit
sagen könne, ob es sich bei den in Rede stehenden Maßnahmen um neue oder bestehende
Maßnahmen handele. Handele es sich um bestehende Maßnahmen, so seien sie im Rahmen der
Regelung für bestehende Beihilfen zu prüfen, während sie, wenn es sich um neue Maßnahmen
handele, ausgesetzt werden müssten. Um jedoch bestimmen zu können, welche Regelung anwendbar
sei, benötige man weitere Auskünfte.
63.
Die Kommission räumt ein, dass die im vorliegenden Fall angefochtenen Entscheidungen Bedenken
im Hinblick auf die Rechtmäßigkeit der in Rede stehenden Maßnahmen hervorrufen könnten (sie
bezieht sich hierfür auf Randnr. 59 des Urteils Tirrenia). Allerdings könnten diese Bedenken
logischerweise in jedem Verfahrensabschnitt entstehen, wenn die Frage aufgeworfen werde, ob es
sich bei der vermeintlichen Beihilfe um eine neue oder eine bestehende Beihilfe handele.
64.
Daher sei es unzutreffend, wenn unter Berufung auf das Urteil Tirrenia die Ansicht vertreten werde,
dass jede Entscheidung über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens notwendigerweise eine
Entscheidung beinhalte, mit der festgestellt werde, dass es sich bei der geprüften Beihilfe um eine
neue Beihilfe handele. Jede Entscheidung sei anhand ihres Inhalts zu würdigen. Die im vorliegenden
Fall angefochtenen Entscheidungen gelangten zu keinem endgültigen Ergebnis in Bezug auf die
Frage, ob die in Rede stehenden Maßnahmen als neue oder als bestehende Beihilfen zu betrachten
seien. In ihnen würden nur die Umstände aufgeführt, die darauf hindeuteten, dass es sich um neue
Beihilfen handele, und die Betroffenen würden aufgefordert, Stellung zu nehmen. Nur so könne die
Kommission vollständige Auskünfte aus so zahlreichen Quellen wie möglich erhalten.
65.
In der mündlichen Verhandlung hat die Kommission erklärt, dass die Einleitung des förmlichen
Prüfverfahrens ohne rechtliche Einstufung der in Rede stehenden Maßnahmen, wie sie in den
angefochtenen Entscheidungen vorgenommen worden sei, eine „neuartige“ Verfahrensweise
darstelle. Gleichwohl stehe diese Lösung im Einklang mit den anwendbaren Bestimmungen.
66.
Jede andere Betrachtungsweise laufe auf die Ansicht hinaus, dass sie das förmliche Prüfverfahren
nicht eröffnen könne, wenn sie nicht zuvor bestimmt habe, ob die in Rede stehende Maßnahme,
sofern es sich um eine Beihilfe handele, eine neue oder eine bestehende Beihilfe darstelle. Jedoch
reiche die Möglichkeit, bei dem betreffenden Mitgliedstaat Informationen zu erhalten, nicht immer aus.
Zumindest in bestimmten Fällen sei es möglich, dass die Kommission des Beitrags Dritter bedürfe, um
diese Frage richtig beurteilen und zu einer abschließenden Entscheidung über die Vereinbarkeit der
Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt gelangen zu können. Namentlich im vorliegenden Fall, in dem
die Bestimmung, ob es sich bei den vermeintlichen Beihilfen um neue Beihilfen handele, von ihren
wirtschaftlichen Auswirkungen oder der Entwicklung des Marktes abhänge, stellten die
Wirtschaftsteilnehmer die besten Informationsquellen dar.
67.
Das Königreich Spanien schließt sich im Kern den Ausführungen der Kommission an.
Würdigung durch das Gericht
68.
Es ist zu ermitteln, welche Kriterien für die Entscheidung über die Einleitung des förmlichen
Prüfverfahrens gelten, und es ist zu prüfen, ob die angefochtenen Handlungen diese Kriterien erfüllen
oder ob sie, wie die Kommission geltend macht, als verfahrensmäßige Neuerungen anderer Art als
eine „klassische“ Einleitungsentscheidung zu betrachten sind.
69.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens durch die
Kommission nach Artikel 88 EG und Artikel 4 Absatz 4 der Beihilfeverfahrensverordnung sowie den
Artikeln 13, 16 und 19 Absatz 2 dieser Verordnung in vier abschließend aufgezählten Fällen
vorgesehen ist, nämlich zur Prüfung einer neuen angemeldeten Beihilfe, zur Prüfung „einer etwaigen
rechtswidrigen Beihilfe“, bei missbräuchlicher Anwendung einer Beihilfe im Sinne von Artikel 1
Buchstabe g dieser Verordnung und in dem Fall, dass ein Mitgliedstaat die von der Kommission
vorgeschlagenen zweckdienlichen Maßnahmen in Bezug auf eine bestehende Beihilferegelung
ablehnt.
70.
In der vorliegenden Rechtssache scheiden die beiden letztgenannten Fälle von vornherein aus. Im
Übrigen sind die in Rede stehenden nationalen Regelungen nicht gemäß Artikel 88 Absatz 3 EG
angemeldet worden, da ihre Übermittlung an die Primarolo-Gruppe - die vom Rat eingerichtet wurde
und insbesondere aus nationalen Sachverständigen besteht - nicht einer förmlichen Anmeldung bei
derKommission im Sinne der Gemeinschaftsregelung für staatliche Beihilfen gleichgesetzt werden
kann. Daher kann die Frage, ob die von der Kommission im vorliegenden Fall gewählte
Verfahrensweise als Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens mit den damit verbundenen
Rechtswirkungen einzustufen ist, nur im Rahmen des Falles „einer etwaigen rechtswidrigen Beihilfe“
untersucht werden.
71.
Nach Artikel 4 Absatz 4 und Artikel 6 Absatz 1 der Beihilfeverfahrensverordnung ist jedes förmliche
Prüfverfahren durch eine Entscheidung zu eröffnen, die eine „vorläufige Würdigung“ des
Beihilfecharakters der Maßnahme durch die Kommission und Ausführungen über ihre Bedenken
hinsichtlich der Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt enthält. Das förmliche Prüfverfahren kann
nach Artikel 7 der Beihilfeverfahrensverordnung durch eine Entscheidung abgeschlossen werden, mit
der festgestellt wird, dass die in Rede stehende Maßnahme keine Beihilfe darstellt (Absatz 2), durch
eine Positiventscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt wird
(Absatz 3), durch eine mit Bedingungen und Auflagen verbundene Positiventscheidung (Absatz 4) oder
durch eine Entscheidung, mit der die Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt wird
(Absatz 5).
72.
Diese Bestimmungen erlauben es der Kommission, unter allen möglichen Gesichtspunkten den
Charakter der in Rede stehenden staatlichen Maßnahme, die möglicherweise eine neue Beihilfe oder
die Änderung einer bestehenden Beihilfe darstellt, zu prüfen, um im förmlichen Prüfverfahren die
Bedenken ausräumen zu können, die sie in Bezug auf die Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem
Gemeinsamen Markt hegt (vgl. in diesem Sinne Urteil Tirrenia, Randnr. 45). Die Kommission ist sogar
gemäß Artikel 4 Absatz 4 der Beihilfeverfahrensverordnung verpflichtet, dieses Verfahren einzuleiten,
wenn sie bei einer ersten Prüfung nicht alle Schwierigkeiten ausräumen konnte, die bei der
Beurteilung dieser Maßnahme entstehen können (vgl. Urteile des Gerichts vom 15. September 1998 in
der Rechtssache T-95/96, Gestevisión Telecinco/Kommission, Slg. 1998, II-3407, Randnr. 52, vom 15.
September 1998 in der Rechtssache T-11/95, BP Chemicals/Kommission, Slg. 1998, II-3235, Randnr.
166, und vom 15. März 2001 in der Rechtssache T-73/98, Prayon-Rupel/Kommission, Slg. 2001, II-867,
Randnr. 42).
73.
Nach Abschluss der Vorprüfungsphase in Bezug auf eine staatliche Maßnahme kann die
Kommission somit zwischen drei Möglichkeiten wählen: Entweder entscheidet sie, dass die gerügte
staatliche Maßnahme keine staatliche Beihilfe darstellt, oder sie entscheidet, dass diese Maßnahme
zwar eine Beihilfe darstellt, jedoch mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar ist, oder sie entscheidet,
dass das förmliche Prüfverfahren eingeleitet wird (Urteil Gestevisión Telecinco/Kommission, Randnr.
55, und Urteil des Gerichts vom 3. Juni 1999 in der Rechtssache T-17/96, TF1/Kommission, Slg. 1999, II-
1757, Randnr. 28).
74.
Daraus ergibt sich, dass das förmliche Prüfverfahren nur durch eine „Entscheidung“ im Sinne von
Artikel 249 Absatz 4 EG eingeleitet werden kann und dass dieseEntscheidung eine „vorläufige
Würdigung“ des Charakters der in Rede stehenden staatlichen Maßnahme enthalten muss. Diese
Würdigung ist ein notwendiges Element der Eröffnungsentscheidung.
75.
Zur Prüfung der Frage, ob die im vorliegenden Fall angefochtenen Maßnahmen diesen Kriterien
genügen, ist zunächst festzustellen, dass beide eine Einleitungsformel enthalten, wonach die
Kommission „beschlossen [hat], das Verfahren des Artikels 88 Absatz 2 EG zu eröffnen“. Ferner
enthalten beide eine „vorläufige Würdigung“ der Regelung über steuerbefreite Gesellschaften bzw.
derjenigen über qualifizierte Gesellschaften.
76.
So führt die Kommission in der angefochtenen Entscheidung I aus, dass die in Rede stehende
Regelung nach den von den Behörden des Vereinigten Königreichs übermittelten Informationen
„mindestens zwei gemäß der Regelung über staatliche Beihilfen anzumeldende Änderungen
aufzuweisen [scheint]“ (Nr. 9). Die Kommission gelangt zu dem Ergebnis, dass wegen dieser
„wesentlichen Änderungen“ die Regelung über die steuerbefreiten Gesellschaften nicht als eine
bestehende, sondern als eine rechtswidrige Beihilfe anzusehen sei (Nr. 16). Sie fügt hinzu, dass das
Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Regierung von Gibraltar nicht genüge,
um ihre Bedenken hinsichtlich deren Ausführungen zur Natur der fraglichen Regelung auszuräumen
(Nrn. 34 und 35), und dass die Beihilfe nicht in den Anwendungsbereich der in Artikel 87 Absatz 3 EG
aufgeführten Ausnahme zu fallen scheine (Nr. 48).
77.
In der angefochtenen Entscheidung II führt die Kommission aus, dass die in Rede stehende
Regelung von der Definition einer bestehenden Beihilfe „nicht erfasst“ zu werden scheine und dass
„sie derzeit als eine nicht angemeldete Beihilfe anzusehen“ sei (Nr. 1). Nach der Feststellung, dass es
sich bei der Regelung um eine Beihilfe im Sinne von Artikel 87 Absatz 1 zu handeln scheine (Nr. 17),
gelangt die Kommission zu dem Ergebnis, dass diese „derzeit“ als eine Betriebsbeihilfe anzusehen
sein könne, die nicht unter eine der Ausnahmen gemäß Artikel 87 Absatz 3 EG zu fallen scheine (Nrn.
23 und 24).
78.
Somit sind die angefochtenen Entscheidungen trotz des Vorbringens der Kommission zu der
angeblichen verfahrensmäßigen Neuerung keineswegs durch ein völliges Fehlen einer vorläufigen
rechtlichen Würdigung gekennzeichnet, sondern sie stellen echte Entscheidungen über die Einleitung
des förmlichen Prüfverfahrens im Sinne der Beihilfeverfahrensverordnung und der einschlägigen
Rechtsprechung dar.
79.
Die Feststellung, dass die Kommission vorläufig der Meinung war, dass die in Rede stehenden
Regelungen rechtswidrige Beihilfen darstellten und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar seien,
wird nicht durch die Aufforderung (in den Nrn. 49 bzw. 25 der angefochtenen Entscheidungen) an die
Beteiligten abgeschwächt, Stellung zu einer möglichen Rückforderung der Beihilfe zu nehmen,„falls
[diese] für rechtswidrig und mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärt werden sollte“. Es
handelt sich dabei um eine rein vorsorgliche Klausel, mit der nur daran erinnert wird, dass eine
endgültige Entscheidung, die nach Abschluss des förmlichen Verfahrens und im Licht der von den
Betroffenen eingereichten Stellungnahmen erlassen wird, eine von der vorläufigen Würdigung in der
Einleitungsentscheidung abweichende rechtliche Einstufung enthalten kann.
80.
Wie der Gerichtshof zu einer Entscheidung, das förmliche Prüfverfahren hinsichtlich einer angeblich
rechtswidrigen Beihilfe zu eröffnen, im Urteil Tirrenia entschieden hat, entfaltet, wenn „es sich um eine
in der Durchführung begriffene Beihilfe handelt, deren Zahlung andauert und die nach Ansicht des
Mitgliedstaats eine bestehende Beihilfe darstellt, ... die gegenteilige Einstufung als neue Beihilfe, die
die Kommission - und sei es vorläufig - in ihrer Entscheidung, das Verfahren nach Artikel 88 Absatz 2
EG für diese Beihilfe einzuleiten, vornimmt, eigenständige Rechtswirkung“ (Randnr. 57). Wie der
Gerichtshof entschieden hat, impliziert eine derartige Entscheidung, dass „die Kommission nicht
beabsichtigt, die Beihilfe im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung bestehender Beihilferegelungen
gemäß den Artikeln 88 Absatz 1 EG und 17 bis 19 der [Beihilfeverfahrensverordnung] zu prüfen“
(Randnr. 58), und „ändert insbesondere im Hinblick auf die Fortführung der fraglichen Maßnahme
notwendigerweise ihre Rechtslage sowie die der beihilfebegünstigten Unternehmen“ (Randnr. 59). Der
Gerichtshof hat weiter ausgeführt:
„Während der Mitgliedstaat, die beihilfebegünstigten Unternehmen und die anderen
Wirtschaftsbeteiligten bis zum Erlass einer solchen Entscheidung davon ausgehen können, dass die
Maßnahme ordnungsgemäß als bestehende Beihilfe durchgeführt wird, bestehen nach dem Erlass
zumindest erhebliche Bedenken an der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme, die ... den Mitgliedstaat
veranlassen müssen, die Zahlung auszusetzen, da die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 88
Absatz 2 EG es ausschließt, dass eine sofortige Entscheidung ergeht, mit der die Vereinbarkeit mit
dem Gemeinsamen Markt festgestellt würde und die es ermöglichen würde, die Durchführung der
Maßnahme ordnungsgemäß fortzusetzen“ (Randnr. 59).
81.
Hervorzuheben ist, dass der Gerichtshof diese Erwägungen in Anbetracht einer
Einleitungsentscheidung der Kommission entwickelt hat, mit der dem betroffenen Mitgliedstaat weder
die Aussetzung der beanstandeten Maßnahmen gemäß Artikel 11 Absatz 1 der
Beihilfeverfahrensverordnung (Randnr. 55) noch die vorläufige Wiedereinziehung der bereits gezahlten
Beihilfe (Artikel 11 Absatz 2 der Beihilfeverfahrensverordnung) aufgegeben wurde. Entgegen der
Ansicht der Kommission ist der Umstand, dass sie von den Möglichkeiten des Artikels 11 keinen
Gebrauch gemacht hat, daher für die Einstufung der Rechtsnatur einer Entscheidung, das förmliche
Prüfverfahren einzuleiten, unerheblich.
82.
Auch wenn die Einstufung als Beihilfe einer objektiven Situation entspricht, die unabhängig von der
Beurteilung ist, die im Stadium der Einleitung desPrüfverfahrens vorgenommen wird, und die bloße
Einleitung dieses Verfahrens nicht ebenso unmittelbar verbindlich ist wie eine an den betreffenden
Mitgliedstaat gerichtete Aussetzungsanordnung (Urteil Tirrenia, Randnrn. 58 und 60), entfaltet folglich
die Wahl des förmlichen Prüfverfahrens durch die Kommission in Verbindung mit der vorläufigen
Einstufung der in Rede stehenden Regelungen als neue Beihilfen anstelle der Wahl des Verfahrens für
bestehende Beihilfen Rechtswirkungen, wie sie der Gerichtshof im Urteil Tirrenia beschrieben hat.
83.
Ferner weist jede Entscheidung über die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens, wie die im
vorliegenden Fall angefochtenen Entscheidungen, trotz des vorläufigen Charakters der in ihr
enthaltenen rechtlichen Würdigungen insoweit einen endgültigen Aspekt auf, als die von der
Kommission getroffene Wahl der Eröffnung dieses Verfahrens zumindest bis zu seiner Einstellung
Wirkungen entfaltet.
84.
Denn zum einen hätte sogar eine endgültige Entscheidung der Kommission, mit der die in Rede
stehenden staatlichen Maßnahmen als neue Beihilfen eingestuft und sodann für mit dem
Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt würden, nicht die Heilung der unter Verstoß gegen das Verbot
des Artikels 88 Absatz 3 Satz 3 EG ergangenen Durchführungsmaßnahmen zur Folge (Urteil
Cenemesa, Randnr. 23).
85.
Zum anderen kann die Einleitungsentscheidung auf alle Fälle vor einem nationalen Gericht geltend
gemacht werden (Urteil Tirrenia, Randnr. 59) und auf diese Weise die von der Maßnahme
Begünstigten und Gebietskörperschaften wie die Klägerin der Gefahr aussetzen, dass das nationale
Gericht die Aussetzung der Maßnahme und/oder die Wiedereinziehung der erfolgten Zahlungen zur
Durchsetzung des Artikels 88 Absatz 3 Satz 3 EG anordnet, da sich die unmittelbare Wirkung des
Verbotes der Durchführung der beabsichtigten Maßnahmen nach diesem Artikel auf jede Beihilfe
erstreckt, die durchgeführt wird, ohne angemeldet worden zu sein (Urteile des Gerichtshofes vom 11.
Dezember 1973 in der Rechtssache 120/73, Lorenz, Slg. 1973, 1471, Randnr. 8, und vom 11. Juli 1996
in der Rechtssache C-39/94, SFEI u. a., Slg. 1996, I-3547, Randnr. 39). Diese Begünstigten und
Gebietskörperschaften gehen somit ein höheres wirtschaftliches und finanzielles Risiko ein, als wenn
das förmliche Prüfverfahren nicht eingeleitet worden wäre. Insbesondere aus diesem Grund ist die
Entscheidung, dieses Verfahren einzuleiten, geeignet, ihre Rechtsstellung zu beeinträchtigen (vgl.
entsprechend Urteil des Gerichts vom 9. November 1994 in der Rechtssache T-46/92, Scottish
Football/Kommission, Slg. 1994, II-1039, Randnr. 13).
86.
Daher muss die Verfahrenswahl der Kommission auch in einem Fall wie dem vorliegenden einer
Nachprüfung ihrer Rechtmäßigkeit unterzogen werden können. Denn die Einleitung des förmlichen
Prüfverfahrens erzeugt die erwähnten Rechtswirkungen, während sich im Rahmen der Prüfung einer
bestehenden Beihilfe die Rechtslage bis zu einer etwaigen Zustimmung des betreffenden
Mitgliedstaats zu einem Vorschlag zweckdienlicher Maßnahmen oder bis zum Erlass
einerabschließenden Entscheidung durch die Kommission nicht ändert (Urteil Tirrenia, Randnr. 61).
87.
Daher kann die zweite Rüge der Unzulässigkeit ebenfalls keinen Erfolg haben.
88.
Somit sind die Klagen für zulässig zu erklären.
Zur Begründetheit
89.
Zur Stützung ihrer Nichtigkeitsklagen führt die Klägerin Klagegründe an, die sich in den beiden
Rechtssachen weitgehend decken. Als erstes wird eine Verletzung der Begründungspflicht gerügt. Als
zweites wird eine Verletzung der Verteidigungsrechte der Klägerin und des Vereinigten Königreichs
gerügt. Drittens rügt die Klägerin die Unvereinbarkeit der angefochtenen Entscheidungen mit Artikel
88 EG und Artikel 1 der Beihilfeverfahrensverordnung. Viertens wird ein Verstoß gegen den
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gerügt. Fünftens rügt die Klägerin einen Verstoß gegen die Grundsätze
der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes.
90.
Unter den Umständen des vorliegenden Falles ist es angebracht, diese Klagegründe
umzugruppieren und mit der gemeinsamen Prüfung der Klagegründe eines Verstoßes gegen Artikel 88
EG und Artikel 1 der Beihilfeverfahrensverordnung sowie eines Verstoßes gegen die Grundsätze der
Verhältnismäßigkeit, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zu beginnen.
Vorbringen der Parteien
91.
In Bezug auf die Regelung über steuerbefreite Gesellschaften macht die Klägerin geltend, der
Kommission sei ein offenkundiger Beurteilungsfehler mit ihrer Feststellung unterlaufen, dass die
Änderungen in den Jahren 1978 und 1983 „wesentliche Änderungen“ einer nicht angemeldeten
Beihilferegelung darstellten. Mit dieser Bewertung der Änderungen und damit der gesamten Regelung
über steuerbefreite Gesellschaften als „neue Beihilferegelung“ ohne Berücksichtigung des
gemeinschaftlichen Kontextes, in dem diese Regelung seinerzeit erlassen worden sei, und ohne
wirtschaftliche Analysen habe die Kommission dem Begriff der neuen Beihilfe eine ganz unübliche und
willkürliche Bedeutung beigelegt.
92.
Die Änderung im Jahr 1978 habe nur im Wege einer Verordnung eine bereits bestehende und weit
verbreitete Praxis bestätigt und sei somit ohne konkrete Auswirkung geblieben. In Bezug auf die
Änderung von 1983 habe die Kommission eine wirtschaftliche Analyse der Auswirkung dieser
Änderungen auf den Wettbewerb und den Handelsverkehr im Binnenmarkt unterlassen.
93.
Die Kommission habe jedenfalls dadurch gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen,
dass sie die steuerliche Regelung über steuerbefreite Gesellschaften insgesamt als neue Beihilfe
eingestuft habe, obwohl die Änderungen von 1978 und 1983 von der Regelung von 1967 zu trennen
gewesen seien.
94.
Was die Regelung über qualifizierte Gesellschaften anbelange, so habe die Kommission sie rechtlich
fehlerhaft nicht als eine bestehende Beihilferegelung eingestuft. Diese Regelung stamme von 1983,
aus einer Zeit also, in der weder für die Kommission noch für die Mitgliedstaaten, noch erst recht für
die Wirtschaftsteilnehmer klar gewesen sei, ob überhaupt und gegebenenfalls wie weit die
Vorschriften über staatliche Beihilfen systematisch auf nationale Bestimmungen über die
Körperschaftsteuer anzuwenden seien. Die Regelung sei somit zehn Jahre vor der Liberalisierung des
Kapitalverkehrs und fünfzehn Jahre vor der Klärung des Begriffes der staatlichen Beihilfe seitens der
Kommission in ihrer Mitteilung vom 10. Dezember 1998 über die Anwendung der Vorschriften über
staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmensbesteuerung (ABl. C 384, S.
3) ergangen.
95.
Die Regierung des Vereinigten Königreichs habe die Regelung über qualifizierte Gesellschaften
sogar der Primarolo-Gruppe vor Veröffentlichung der erwähnten Mitteilung von 1998 notifiziert. Diese
Mitteilung habe erstmals eine allgemeine, aber nicht erschöpfende Definition der „staatlichen
Beihilfen steuerlicher Art“ enthalten und sei mehr eine politische Erklärung über das künftige
Tätigwerden der Kommission in diesem Bereich als eine „klärende Erläuterung“ der geltenden
Vorschriften gewesen.
96.
Dass die gemeinschaftsrechtlichen Vorschriften über staatliche Beihilfen durch die Entscheidungen
der Kommission und der Gemeinschaftsgerichte weiter entwickelt werden könnten, sei auch
anerkannt durch Artikel 1 Buchstabe b Ziffer v der Beihilfeverfahrensverordnung (siehe oben, Randnr.
4). Die Regelung über qualifizierte Gesellschaften sei nach dieser Vorschrift eine Maßnahme, die erst
nachträglich zu einer Beihilfe geworden sei. Indem sie diese Regelung nicht als bestehende Beihilfen
einstufe, wende die Kommission relativ komplexe Kriterien für die Definition staatlicher Beihilfen im Jahr
2001 auf die unterschiedliche rechtliche und wirtschaftliche Lage im Jahr 1983 an. Insoweit sei zu
verweisen auf die irische Regelung der Körperschaftsteuer, die zunächst nicht als eine Beihilfe
angesehen worden sei, während die Kommission später einen anderen Standpunkt eingenommen und
der schrittweisen Entwicklung der Gemeinschaftsvorschriften zu einer strengeren Behandlung
steuerlicher Förderungsregelungen Rechnung getragen habe (Vorschläge der Kommission für
zweckdienliche Maßnahmen betreffend das Internationale Finanzdienstleistungszentrum und die
zollfreie Zone am Flughafen Shannon [ABl. 1998, C 395, S. 14] und betreffend die irische
Körperschaftsteuer [ABl. 1998, C 395, S. 19]).
97.
Die Klägerin vertritt die Ansicht, die Kommission habe auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
verletzt, indem sie die Steuerregelung für qualifizierte Gesellschaften der für neue Beihilfen
vorgesehenen Regelung unterworfen habe. Eine solche Behandlung habe dramatische wirtschaftliche
Folgen. Dieser erhebliche Schaden stehe außer Verhältnis zu dem mit der Einleitung eines Verfahrens
verfolgten Interesse, wenn man insbesondere die sehr geringe Größe der Wirtschaft von Gibraltar und
die zu vernachlässigende Auswirkung der in Rede stehenden Regelung auf den Wettbewerb und den
internationalen Handelsverkehr berücksichtige. Ein ausgewogeneres Vorgehen seitens der
Kommission hätte darin bestehen können, die in Rede stehende Regelung unter dem Blickwinkel des
Verhaltenskodexes im Bereich der Unternehmensbesteuerung, der Artikel 96 und 97 EG oder nach
dem Verfahren für bestehende Beihilfen zu betrachten.
98.
Schließlich habe die Kommission gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit und des
Vertrauensschutzes verstoßen, indem sie 18 bzw. 23 Jahre gewartet habe, bis sie die in Rede
stehenden Regelungen, die 1967 und 1983 erlassen worden seien, gerügt habe, und indem sie ihre
Ermittlungen in Bezug auf diese Regelungen nicht innerhalb einer angemessenen Frist durchgeführt
habe. Die Vereinbarkeit dieser Regelungen mit dem Gemeinschaftsrecht habe die Kommission vor
Februar 1999 niemals in Zweifel gezogen. Diese lange Untätigkeit der Kommission habe auf Seiten von
Gibraltar berechtigte Erwartungen geschaffen. Auch seien auf die Ermittlungen der Kommission die
Regeln über der Verjährung anzuwenden. So gelte nach Artikel 15 der Beihilfeverfahrensverordnung
jede Einzelbeihilfe, die nach einer Beihilferegelung mehr als zehn Jahre vor dem Zeitpunkt des
Tätigwerdens der Kommission gezahlt worden sei, als bestehende Beihilfe. Nach dieser Bestimmung
hätte die Kommission die in Rede stehenden Regelungen als bestehende Beihilferegelungen
betrachten müssen. Die Kommission habe auf alle Fälle dadurch gegen den Grundsatz des
Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit verstoßen, dass sie nach der Einleitung ihrer Prüfung
der Regelungen eine zu lange Frist habe verstreichen lassen. Die Voruntersuchung habe am 12.
Februar 1999 begonnen; das förmliche Prüfverfahren sei jedoch erst zweieinhalb Jahre später, am 11.
Juli 2001, eingeleitet worden. Im Laufe der Voruntersuchung habe die Kommission 10 bzw. 12 Monate
lang geschwiegen.
99.
Die Kommission führt zur Regelung über steuerbefreite Gesellschaften aus, dass die wirklich zu
entscheidende Frage dahin gehe, ob die Änderungen aus den Jahren 1978 und 1983 wesentlich
gewesen seien, weil sie die Substanz und nicht nur den Umfang der Beihilfe betroffen hätte
(Schlussanträge von Generalanwalt Fennelly in den Rechtssachen C-15/98 und C-105/99, Italien und
Sardegna Lines/Kommission, Slg. 2000, I-8859, Nrn. 62 und 63). Die Kommission brauche deshalb
nicht die wirtschaftlichen Auswirkungen der Änderungen zu analysieren, sondern nur die in Frage
stehenden Rechtsvorschriften zu prüfen. Diese Prüfung sei vorzunehmen im Rahmen eines förmlichen
Prüfverfahrens, wenn nicht schon bei erster Prüfung ausgeschlossen werden könne, dass die
Änderungen die Substanz der Regelung berührt hätten.
100.
In dieser Phase bestünden Gründe dafür, bei erster Prüfung anzunehmen, dass die beiden in der
angefochtenen Entscheidung I erwähnten Änderungen die Regelung in der Sache geändert hätten.
Die Änderung von 1978 habe die von der Regelung erfassten Unternehmen von der Pflicht zur
Entrichtung einer Steuer befreit; selbst wenn diese Steuer weitgehend umgangen worden sei, sei
doch eine neue Steuerbefreiung eingeführt worden. Die Änderung von 1983 habe die Regelung auf
eine neue, potenziell sehr umfangreiche Kategorie von Unternehmen erstreckt. Der Umstand, dass
nur wenige Unternehmen von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hätten, nehme der Änderung
nicht ihren wesentlichen Charakter. Die Angaben, über die die Kommission verfügt habe, hätten daher
ausgereicht, um sie zumindest zu ermächtigen, das förmliche Prüfverfahren zum Zweck einer
eingehenden Prüfung einzuleiten. Die Klägerin habe die Möglichkeit gehabt, im förmlichen Verfahren
die Argumente vorzutragen, die sie vor dem Gericht geltend gemacht habe.
101.
Die Kommission räumt ein, dass das Vorbringen der Klägerin in Bezug auf die Geringfügigkeit der an
der vorherigen Regelung vorgenommenen Änderungen und die Möglichkeit, dass sich die Einstufung
als neue Beihilfe auf die geänderten Gesichtspunkte der Regelung beschränke, berechtigt und
zutreffend sei. Dieses Vorbringen sei nicht nur aus Gründen der Verhältnismäßigkeit zu
berücksichtigen, sondern auch, weil es sich auf den wesentlichen Charakter der Änderung und ihrer
Folgen beziehe. Deswegen sei die Kommission jedoch nicht an der eigentlichen Einschätzung der
Regelung gehindert. Im Übrigen beträfen verschiedene der von der Klägerin angeführten Erwägungen
möglicherweise die Frage, ob die Wiedereinziehung der gezahlten Beihilfe anzuordnen sei, andere
dagegen die Prüfung der Vereinbarkeit dieser Maßnahme mit dem Gemeinsamen Markt.
102.
Zur Regelung über qualifizierte Gesellschaften macht die Kommission geltend, sie beabsichtige
nicht, abschließend festzustellen, ob es sich bei der gerügten Beihilfe um eine neue oder eine
bestehende Beihilfe handele. Diese Frage sei im förmlichen Prüfverfahren zu vertiefen. Es gebe jedoch
derzeit Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Maßnahme von Anfang an eine Beihilfe im Sinne von
Artikel 87 EG dargestellt habe. Die Beweismittel, über die die Kommission verfüge, erlaubten es ihr
daher zumindest, das Verfahren einzuleiten, um zu einer vertieften Prüfung zu gelangen.
103.
Im förmlichen Prüfverfahren könne die Klägerin ihre Argumente geltend machen. Es müsse
insbesondere erörtert werden, inwieweit die Tätigkeiten der von der Regelung über qualifizierte
Gesellschaften begünstigten Unternehmen dem internationalen Wettbewerb offen stünden, da diese
Unternehmen in einem weiten Spektrum von Bereichen tätig seien, u. a. im Bereich der
Finanzdienstleistungen, der Schiffsreparatur, der Kraftfahrzeuge, der Telekommunikation und des
Glückspiels. Daher seien die verschiedenen von diesen Unternehmen ausgeübten Tätigkeiten und die
Marktbedingungen 1983 und in der Folgezeit zu untersuchen. Nichtsdestoweniger lege derzeit bereits
der Umstand, dass die qualifiziertenGesellschaften Tätigkeiten außerhalb Gibraltars ausüben
müssten, die Annahme nahe, dass sie internationalen Handel betrieben.
104.
Das Königreich Spanien schließt sich im Kern dem Vorbringen der Kommission zur Sache an.
Würdigung durch das Gericht
- Zur angefochtenen Entscheidung I betreffend die Steuerregelung für steuerbefreite Gesellschaften
105.
In Bezug auf die Prüfung, ob die Kommission berechtigt war, das förmliche Prüfverfahren einzuleiten,
oder ob sie die in Rede stehende staatliche Maßnahme im Rahmen der fortlaufenden Überprüfung der
bestehenden Beihilferegelungen nach Artikel 88 Absatz 1 EG und den Artikeln 17 bis 19 der
Beihilfeverfahrensverordnung hätte prüfen müssen, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das
Verfahren im vorliegenden Fall eingeleitet wurde, weil die Kommission ernsthafte Bedenken in Bezug
auf die Einstufung dieser Regelung als „etwaige rechtswidrige Beihilfe“ und in Bezug auf ihre mögliche
Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt hatte. Die rechtswidrige Beihilfe wird in Artikel 1 Buchstabe
f der Beihilfeverfahrensverordnung als „neue Beihilfe, die unter Verstoß gegen Artikel [88] Absatz 3
des Vertrages eingeführt“ wird, definiert.
106.
Es steht jedoch fest, dass die ursprüngliche Steuerregelung von 1967 - unterstellt, sie kann als
„Beihilferegelung“ eingestuft werden - jedenfalls eine „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Artikel 1
Buchstabe b Ziffer i der Beihilfeverfahrensverordnung darstellte, als das Vereinigte Königreich der
Gemeinschaft am 1. Januar 1973 beitrat.
107.
In der angefochtenen Entscheidung I heißt es ausdrücklich, dass diese ursprüngliche Regelung
zweimal, 1978 und 1983, geändert worden sei. Diese Änderungen werden als wesentlich eingestuft,
so dass „die Regelung über die steuerbefreiten Gesellschaft nicht als eine bestehende Beihilfe,
sondern als eine rechtswidrige Beihilfe anzusehen“ sei (Nr. 16 der Entscheidung). Im Übrigen führt die
Entscheidung sämtliche steuerbefreite Gesellschaften an, die in Gibraltar bestehen, und nicht nur die
durch die Änderungen von 1978 und 1983 betroffenen Gesellschaften (Nr. 38).
108.
Die Kommission ist damit vorläufig zu der Ansicht gelangt, dass die beiden nach dem Beitritt des
Vereinigten Königreichs zur Gemeinschaft vorgenommenen Änderungen die ursprüngliche
Steuerregelung insgesamt in eine neue Beihilferegelung umgewandelt hätten.
109.
Nach Artikel 1 Buchstabe c der Beihilfeverfahrensverordnung gelten als neue Beihilfen alle
„Änderungen bestehender Beihilfen“. Nach diesem eindeutigen Wortlaut ist nicht „jede geänderte
bestehende Beihilfe“ als neue Beihilfeanzusehen, sondern nur die Änderung als solche kann als neue
Beihilfe eingestuft werden.
110.
Dieses Ergebnis wird durch das Urteil des Gerichtshofes vom 9. August 1994 in der Rechtssache C-
44/93 (Namur-Les assurances du crédit, Slg. 1994, I-3829, Randnrn. 13 und 16) bestätigt, in dem der
Gerichtshof bestätigt hat, dass als neue Beihilfen die Maßnahmen anzusehen sind, die „auf die
Einführung ... von Beihilfen gerichtet sind“, und dass „Vorhaben zur ... Umgestaltung von Beihilfen“
nicht durchgeführt werden dürfen, bevor die Kommission eine abschließende Entscheidung erlassen
hat.
111.
Daher wird die ursprüngliche Regelung durch die Änderung nur dann in eine neue Beihilferegelung
ungewandelt, wenn die Änderung sie in ihrem Kern betrifft. Um eine derartige wesentliche Änderung
kann es sich jedoch nicht handeln, wenn sich das neue Element eindeutig von der ursprünglichen
Regelung trennen lässt.
112.
Im vorliegenden Fall hat die Kommission in Randnummer 12 der angefochtenen Entscheidung I
selbst erklärt, dass durch die Änderung von 1978 eine Befreiung von der Stempelabgabe für den
Abschluss von Lebensversicherungsverträgen durch die steuerbefreiten Gesellschaften, auf die nach
solchen Verträgen gezahlten Renten und für bestimmte Transaktionen im Zusammenhang mit solchen
Verträgen und Renten eingeführt worden sei und dass die den steuerbefreiten Gesellschaften damit
gewährte Vergünstigung in der ursprünglichen Regelung nicht vorgesehen gewesen sei. In den
Nummern 13 und 14 der Entscheidung hat die Kommission ausgeführt, dass die Änderung von 1983
die fragliche Steuerregelung auf eine neue Gruppe von Unternehmen erstreckt habe, die zuvor nicht
die Voraussetzungen erfüllt habe, um in den Genuss der ursprünglichen Regelung von 1967 zu
gelangen.
113.
Es erweist sich somit, dass die beiden in Rede stehenden Änderungen in den Erwägungen der
Kommission selbst bloße Zusätze zur ursprünglichen Regelung von 1967 darstellen, die zum einen die
steuerbefreiten Geschäfte auf eine einzige zusätzliche Art von Geschäften, nämlich
Lebensversicherungen, erstreckte, und zum anderen den durch die Steuerbefreiung Begünstigten
eine einzige Gruppe von Unternehmen hinzufügte, nämlich die Niederlassungen bestimmter
Gesellschaften. Dagegen enthalten die Akten nichts, was die Feststellung erlaubte, dass diese
Zusätze das eigentliche Funktionieren der ursprünglichen Steuerregelung in Bezug auf die übrigen
Geschäfte und Gruppen von Unternehmen beeinträchtigt hätten. Die Änderungen von 1978 und 1983
sind daher als abtrennbare Elemente der ursprünglichen Steuerregelung von 1967 zu betrachten, so
dass - vorausgesetzt, sie können als Beihilfen eingestuft werden - sie deren Charakter einer
bestehenden Beihilfe nicht ändern können.
114.
Diesem Ergebnis steht das Urteil Namur-Les assurances du crédit (Randnr. 28) nicht entgegen, in
dem der Gerichtshof für Recht erkannt hat, dass Maßstab für dieEinstufung einer Beihilfe als neue
oder umgestaltete Beihilfe die Bestimmungen sind, in denen sie vorgesehen ist. Denn im vorliegenden
Fall wurden zwar die Änderungen von 1978 und 1983 in den Wortlaut der ursprünglichen Regelung von
1967 eingefügt, doch handelt es sich bei diesen Änderungen um Elemente, die von der
ursprünglichen Regelung abgetrennt werden können. In der Rechtssache Namur-Les assurances du
crédit ist jedoch nicht die Frage aufgeworfen worden, ob die Änderung abtrennbar war, und der
Gerichtshof hat sich hierzu nicht geäußert.
115.
Nach allem hat die Kommission gegen Artikel 88 EG und Artikel 1 der Beihilfeverfahrensverordnung
verstoßen, indem sie das förmliche Prüfverfahren in Bezug auf die Steuerregelung für steuerbefreite
Gesellschaften insgesamt eingeleitet und diese Regelung vorläufig insgesamt als neue Beihilfe
eingestuft hat. Daher ist die angefochtene Entscheidung I insgesamt für nichtig zu erklären, ohne
dass das weitere zu ihrer Anfechtung geltend gemachte Vorbringen geprüft zu werden braucht.
116.
Eine auf die Einfügung der in Rede stehenden Änderungen in die ursprüngliche Regelung
beschränkte Teilnichtigerklärung dieser Entscheidung ist ausgeschlossen, da sich das Gericht nicht
an die Stelle der Kommission setzen kann, indem es entsheidet, dass es gerechtfertigt ist, das
förmliche Prüfverfahren in Bezug allein auf die Änderung von 1978 und 1983 weiter zu betreiben.
- Zur angefochtenen Entscheidung II betreffend die Steuerregelung für qualifizierte Gesellschaften
117.
Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass die Steuerregelung für qualifizierte Gesellschaften von 1983
stammt. Sie wurde daher nach dem Beitritt des Vereinigten Königreichs zur Gemeinschaft erlassen.
Somit kann sie nicht als „bestehende Beihilfe“ im Sinne von Artikel 1 Buchstabe b Ziffer i der
Beihilfeverfahrensverordnung betrachtet werden.
118.
Sodann kann das Gericht die Entscheidung der Kommission für das förmliche Prüfverfahren statt für
das Verfahren für bestehende Beihilfen gegebenenfalls nur auf der Grundlage der Klagegründe und
des Vorbringens der Klägerin beanstanden. Das Vorbringen der Klägerin im vorliegenden Rechtstreit
enthält jedoch nichts, was sich wirklich gegen die Darstellung der Sach- und Rechtslage oder gegen
die von der Kommission in der angefochtenen Entscheidung II vorgenommene Vorprüfung der
Rechtsnatur richtete, auf deren Grundlage die Kommission zu der vorläufigen Ansicht gelangte, dass
die in Rede stehende Regelung eine neue mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe
darstelle.
119.
Die Klägerin beschränkt sich nämlich auf eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung, der
unsicheren Rechtslage, die 1983 bestanden habe, der nachfolgenden Liberalisierung des
Kapitalverkehrs und der Erläuterungen des Begriffes der staatlichen Beihilfe steuerlicher Art, die erst
gegen Ende 1990 vorgenommen worden seien. Sie macht lediglich allgemein geltend, dass
dieRegelung über staatliche Beihilfen ein „lebendiges Recht“ darstelle und dass der Beihilfebegriff mit
der Zeit eine gewisse Entwicklung mitgemacht habe, was durch Artikel 1 Buchstabe b Ziffer v der
Beihilfeverfahrensverordnung anerkannt werde. Schließlich entspreche die Annahme, dass im Jahre
2001 die Regelung über qualifizierte Gesellschaften eine „bestehende“ Beihilfe darstelle, dem
gesunden Menschenverstand und sei recht und billig, während die Einstufung als „neu“ jeder Logik
und dem üblichen Sinn des anwendbaren Gemeinschaftsrechts zuwiderlaufe.
120.
Diese allgemeine Argumentation kann nicht zu der Feststellung führen, dass die Steuerregelung
von 1983 wegen ihrer Merkmale als bestehende Beihilferegelung zu betrachten wäre.
121.
Zudem hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 17. Juni 1999 in der Rechtssache C-295/97
(Piaggio, Slg. 1999, I-3735, Randnrn. 45 bis 48) entschieden, dass die Antwort auf die Frage, ob eine
neue Beihilfe vorliegt, nicht von der subjektiven Einschätzung der Kommission abhängen kann. So hat
der Gerichtshof 1999 das Verhalten der Kommission in Bezug auf ein nationales Gesetz von 1979
beanstandet, das von der Kommission „aus Zweckmäßigkeitsgründen“ als bestehende staatliche
Beihilfe eingestuft worden war, zu denen die Zweifel zählten, die die Kommission 14 Jahre lang in Bezug
auf die Einstufung dieses Gesetzes als staatliche Beihilfe gehabt hatte. Das Gericht schließt daraus,
dass der Charakter einer bestimmten staatlichen Maßnahme als bestehende oder neue Beihilfe
unabhängig von der Zeit zu bestimmen ist, die seit der Einführung dieser Maßnahme verstrichen ist,
und unabhängig von jeder vorherigen Verwaltungspraxis.
122.
Soweit die Klägerin geltend macht, dass die in Rede stehende Steuerregelung als bestehende
Beihilfe einzustufen sei, da sie der Primarolo-Gruppe übermittelt worden sei, ist bereits ausgeführt
worden (Randnr. 70), dass diese Mitteilung nicht einer förmlichen Anmeldung bei der Kommission im
Sinne der Gemeinschaftsregelung für staatliche Beihilfen gleichgestellt werden kann.
123.
Zum Verweis auf die beiden Vorschläge der Kommission betreffend die irische Regelung über die
Körperschaftsteuer ist festzustellen, dass sich die diesen Vorschlägen zugrunde liegende Sach- und
Rechtslage deutlich von derjenigen des vorliegenden Falles unterscheidet. Für eine mögliche
Einstufung der Steuerregelung, die Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist, als bestehende
Beihilfe lässt sich diesen Vorschlägen kein Anhaltspunkt entnehmen.
124.
Die Klägerin hebt noch die geringe Größe Gibraltars hervor und macht geltend, dass die
Auswirkungen der in Rede stehenden Regelung auf den Wettbewerb im Gemeinsamen Markt und auf
den Handelsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten stets marginal gewesen seien, da nach 18 Jahren
der Anwendung der Regelung in Gibraltar nur 150 qualifizierte Gesellschaften registriert seien. Im
Übrigen habe die Kommission keine wirtschaftliche Analyse dieser Auswirkungen vorgenommen.
125.
Dieses Vorbringen enthält keine bezifferten Angaben zum Umfang der in Rede stehenden
steuerlichen Maßnahmen und zur Größe der begünstigten Gesellschaften nach Umsatz und Gewinn.
Daher genügt die Feststellung, dass nach ständiger Rechtsprechung weder der verhältnismäßig
geringe Umfang einer Beihilfe noch die verhältnismäßig geringe Größe des begünstigten
Unternehmens von vornherein die Möglichkeit einer Beeinträchtigung des Handels zwischen
Mitgliedstaaten ausschließt (Urteil des Gerichts vom 28. Januar 1999 in der Rechtssache T-14/96,
BAI/Kommission, Slg. 1999, II-139, Randnr. 77, m. w. N). Im Übrigen reicht es für die Annahme der
Einstufung als staatliche Beihilfe aus, wenn die in Rede stehenden staatlichen Maßnahmen den
Wettbewerb zu verfälschen „drohen“ und den Handelsverkehr zwischen Mitgliedstaaten beeinflussen
„können“.
126.
Da die Klägerin hierzu nichts Näheres vorgetragen hat, ist die Feststellung in der angefochtenen
Entscheidung II (Nr. 14), dass die von der in Rede stehenden Regelung begünstigten qualifizierten
Gesellschaften tatsächlich oder potenziell Handel mit den in anderen Mitgliedstaaten
niedergelassenen Gesellschaften treiben können, umso mehr, als sie üblicherweise nicht berechtigt
sind, Handel in Gibraltar zu treiben, nicht substanziiert bestritten worden.
127.
Ferner bildet, wie die Kommission zu Recht geltend macht, das förmliche Prüfverfahren den
geeigneten Verfahrensrahmen für die Durchführung der von der Klägerin begehrten wirtschaftlichen
Analyse, da es die Einbeziehung der betroffenen Wirtschaftsteilnehmer in das Verfahren zum Erlass
der endgültigen Entscheidung erlaubt.
128.
Zum Argument, dass die Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens die Stellung Gibraltars als
internationaler Finanzplatz in nicht wieder gutzumachender Weise beeinträchtige, da die Gefahr der
Aufhebung der in Rede stehenden Steuerregelung eine ernsthafte Bedrohung der Rentabilität der
Wirtschaft Gibraltars darstelle, genügt der Hinweis (siehe oben, Randnrn. 72 und 121), dass die
Kommission verpflichtet ist, das förmliche Prüfverfahren einzuleiten, wenn sie nach der vorläufigen
Einstufung der in Rede stehenden Maßnahme als neue Beihilfe ernsthaften Schwierigkeiten bei der
Beurteilung ihrer Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt begegnet. Die durch die Entscheidung
über die Einleitung dieses Verfahrens hervorgerufenen wirtschaftlichen Risiken, wie sie die Klägerin
darstellt, können daher nicht für sich allein die Rechtmäßigkeit einer derartigen Entscheidung
beeinträchtigen. Somit ist dieses Vorbringen zurückzuweisen.
129.
Soweit sich die Klägerin schließlich auf die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, des
Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit beruft, ergibt sich aus den vorstehenden
Ausführungen, dass der bloße Umstand, dass die Kommission während einer verhältnismäßig langen
Zeit keine Prüfung in Bezug auf eine bestimmte staatliche Maßnahme eingeleitet hat, dieser
Maßnahme allein nicht den objektiven Charakter einer bestehenden Beihilfe nehmen kann, wenn es
sich um eine Beihilfe handelt (Urteil Piaggio, Randnr. 45 bis 47). Wie die Kommission zuRecht
ausgeführt hat, können die möglicherweise in dieser Hinsicht bestehenden Ungewissheiten allenfalls
höchstens dazu führen, dass bei den Begünstigten ein berechtigtes Vertrauen besteht, das die
Wiedereinziehung der gezahlten Beihilfe für die Vergangenheit hindert (Urteile des Gerichtshofes vom
24. November 1987 in der Rechtssache 223/85, RSV/Kommission, Slg. 1987, 4617, Randnrn. 16 und
17, und vom 20. September 1990 in der Rechtssache C-5/89, Kommission/Deutschland, Slg. 1990, I-
3437, Randnrn. 16 und 17).
130.
Das Gleiche gilt für die Verjährungsfrist des Artikels 15 der Beihilfeverfahrensverordnung, die nicht
den Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes darstellt, wonach eine neue Beihilfe in eine bestehende
Beihilfe umgewandelt würde, sondern nur die Wiedereinziehung von Beihilfen ausschließt, die mehr als
zehn Jahre vor dem ersten Tätigwerden der Kommission eingeführt wurden.
131.
Nach allem sind die Klagegründe eines Verstoßes gegen die Artikel 88 EG und 1 der
Beihilfeverfahrensverordnung sowie gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit, der
Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes zurückzuweisen, soweit es die gegen die angefochtene
Entscheidung II erhobene Klage angeht.
132.
Daher sind die übrigen Klagegründe zu prüfen, auf die diese Klage gestützt wird.
Vorbringen der Klägerin
133.
Die Klägerin macht geltend, Artikel 253 EG stelle den Grundsatz auf, dass die Rechtsakte der
Gemeinschaftsorgane auf einer hinreichend genauen Begründung zu beruhen hätten, die die
Überlegungen des betreffenden Organs klar und eindeutig zum Ausdruck brächten. Im Gegensatz zu
den Verordnungen, die allgemeiner Natur seien, erforderten die Entscheidungen, die sich an
bestimmte Personen richteten, eine eingehende Begründung.
134.
Die Entscheidungen der Kommission im Bereich der staatlichen Beihilfen hätten besonders
erhebliche Auswirkungen für die Mitgliedstaaten, die Regionen und die örtlichen
Gebietskörperschaften sowie für private Unternehmen. Sie seien wirtschaftlicher Natur und verlangten
somit eine wirtschaftliche Begründung betreffend den Einfluss der Maßnahme auf den Wettbewerb
und den Handelsverkehr sowohl in qualitativer als auch in quantitativer Hinsicht.
135.
Nach Ansicht der Klägerin hat die Kommission in Nummer 1 der angefochtenen Entscheidung II eine
zögernde Formulierung gewählt, die keineswegs klar sei und nicht erläutere, weshalb die Regelung
über qualifizierte Gesellschaften keine bestehende Beihilferegelung darstelle. Eine eingehende
Begründung sei jedochgeboten gewesen, da die in Rede stehende Regelung 18 Jahre lang Teil der
Rechtsordnung Gibraltars gewesen sei, ohne dass die Kommission sie gerügt hätte, und da die Frage,
ob die Regelung für staatliche Beihilfen systematisch auf die Steuerregelung für Gesellschaften
anzuwenden sei, 1983 keineswegs geklärt gewesen sei.
Würdigung durch das Gericht
136.
Wie die Kommission zu Recht ausführt, muss die nach Artikel 253 EG vorgeschriebene Begründung
der Natur des betreffenden Rechtsakts angepasst sein, und ihr müssen sich die Gründe für den
Rechtsakt entnehmen lassen. Dabei ist nicht nur der Wortlaut des Aktes zu berücksichtigen, sondern
auch sein Kontext sowie sämtliche Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (Urteil des
Gerichtshofes vom 2. April 1998 in der Rechtssache C-367/95 P, Kommission/Sytraval und Brink's
France, Slg. 1998, I-1719, Randnr. 63).
137.
Zur Beurteilung des Umfangs der Verpflichtung, eine Entscheidung zur Einleitung des förmlichen
Prüfverfahrens zu begründen, ist darauf hinzuweisen, dass gemäß Artikel 6 der
Beihilfeverfahrensverordnung die Entscheidung über die Einleitung nur eine Zusammenfassung der
wesentlichen Sach- und Rechtsfragen, eine „vorläufige Würdigung“ des Beihilfecharakters der in Rede
stehenden staatlichen Maßnahme und Ausführungen über ihre Bedenken hinsichtlich der
Vereinbarkeit mit dem Gemeinsamen Markt zu enthalten braucht.
138.
Ebenfalls nach Artikel 6 muss die Einleitungsentscheidung die Betroffenen in die Lage versetzen,
sich in wirksamer Weise am förmlichen Prüfverfahren zu beteiligen, in dem sie ihre Argumente geltend
machen können. Hierfür genügt es, dass die Beteiligten erfahren, welche Überlegungen die
Kommission zu der vorläufigen Ansicht veranlasst haben, dass die in Rede stehende Maßnahme eine
neue, mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Maßnahme darstelle.
139.
Daher können die von der Klägerin gerügten Unzulänglichkeiten der Begründung nicht als Verstoß
gegen Artikel 253 EG betrachtet werden. Die angeblich zögerliche Formulierung der angefochtenen
Entscheidung II spiegelt gerade die Bedenken der Kommission wider, die sie dazu veranlasst haben,
das förmliche Prüfverfahren zu eröffnen. Im Übrigen werden in dieser Entscheidung die Merkmale der
Steuerregelung dargestellt, die Gegenstand des förmlichen Prüfverfahrens ist, und es wird
ausgeführt, dass die Kommission anhand der Angaben, über die sie in dieser Phase verfügt, vorläufig
der Ansicht sei, dass es sich um eine mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbare Beihilfe handele.
140.
Daher ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
Vorbringen der Klägerin
141.
Die Klägerin macht geltend, jeder Person, der gegenüber eine beschwerende Entscheidung
ergehen könne, sei Gelegenheit zu geben, zu den Gesichtspunkten Stellung zu nehmen, auf die die
Kommission bei der Begründung der streitigen Entscheidung zu ihrem Nachteil abstelle (Urteil des
Gerichts vom 6. Dezember 1994 in der Rechtssache T-450/93, Lisrestal u. a./Kommission, Slg. 1994, II-
1177, Randnr. 42). Dieser Grundsatz komme auch jeder unmittelbar und individuell von einer
derartigen Entscheidung betroffenen Person zugute (Urteil des Gerichtshofes vom 29. Juni 1994 in der
Rechtssache C-135/92, Fiskano/Kommission, Slg. 1994, I-2885, Randnr. 26 und 41). Die Kommission
habe die Verteidigungsrechte der Klägerin verletzt, denn sie habe die angefochtene Entscheidung II
ohne Erörterung mit ihr erlassen und ohne ihr zu gestatten, ihren Standpunkt zum Ausdruck zu
bringen.
142.
Nach dem Antwortschreiben des Vereinigten Königreichs an die Kommission vom 3. Juli 2000 habe
die Kommission ihre Analyse in Bezug auf die Regelung über qualifizierte Gesellschaften unterbrochen,
dabei jedoch ihre parallelen Analysen zur Regelung über steuerbefreite Gesellschaften fortgesetzt.
Damit habe die Kommission einseitig jede Möglichkeit der Erörterung der Natur der Regelung über
qualifizierte Gesellschaften beseitigt. Auch habe sich die Kommission nicht bemüht, die Klägerin in das
Verwaltungsverfahren einzubinden, und habe es abgelehnt, unmittelbar mit ihr zu verhandeln.
143.
Die Klägerin macht geltend, ihr Vorbringen in Bezug auf die Verletzung ihrer Verteidigungsrechte
gelte entsprechend für die Verteidigungsrechte des Vereinigten Königreichs.
Würdigung durch das Gericht
144.
Hierzu genügt der Hinweis, dass der Gerichtshof in seinem Urteil Kommission/Sytraval und Brink's
France (Randnrn. 58 und 59) für Recht erkannt hat, dass es für eine Verpflichtung der Kommission,
einen Beschwerdeführer im Stadium der Vorprüfung der staatlichen Beihilfen anzuhören, keine
Rechtsgrundlage gibt. Dies gilt in gleicher Weise für alle Beteiligten und alle Mitgliedstaaten, denen
die geltenden Bestimmungen keinen Anspruch auf kontradiktorische Beteiligung an der Phase der
Vorprüfung, die vor der Entscheidung zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens liegt, verleihen.
Denn allein die Kommission ist befugt, anzuordnen, dass der betroffene Mitgliedstaat ihr „Auskünfte
erteilt“ (Artikel 2 Absatz 2, Artikel 5 Absätze 1 und 2 sowie Artikel 10 Absatz 2 der
Beihilfeverfahrensverordnung). Somit können die Mitgliedstaaten und die Beteiligten die Kommission
nicht zwingen, sie anzuhören, damit sie die „vorläufige Würdigung“ beeinflussen können, die die
Kommission gegebenenfalls zur Einleitung des förmlichen Prüfverfahrens veranlasst.
145.
Daher oblag es der Kommission nicht, der Klägerin oder dem Vereinigten Königreich in der Phase
der Vorprüfung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben.
146.
Jedenfalls geht aus den Akten hervor, dass die Klägerin und das Vereinigte Königreich im Laufe des
Vorverfahrens tatsächlich Stellung nehmen konnten: Das Vereinigte Königreich übersandte der
Kommission mehrere Schreiben in Bezug auf die Regelungen über steuerbefreite Gesellschaften und
qualifizierte Gesellschaften und übermittelte ihr sodann am 12. September 2000 ein von der
Regierung von Gibraltar stammendes Dokument, in dem die Gründe dargelegt wurden, aus denen
diese der Ansicht war, dass die Regelung über steuerbefreite Gesellschaften nicht von der
Gemeinschaftsregelung über staatliche Beihilfen erfasst werde; die Klägerin konnte auch an einer von
der Kommission am 19. Oktober 2000 veranstalteten Sitzung teilnehmen, in der das erwähnte
Dokument erörtert wurde. Zwar bezogen sich diese Schritte offenbar nur auf die Regelung über
steuerbefreite Gesellschaften, doch erlaubt nichts die Annahme, dass das Vereinigte Königreich und
die Klägerin daran gehindert gewesen wären, auch zur Regelung über qualifizierte Gesellschaften
Stellung zu nehmen, wenn sie dies als angebracht erachtet hätten.
147.
Daher ist dieser Klagegrund ebenfalls zurückzuweisen.
148.
Da keiner der gegen die angefochtene Entscheidung II gerichteten Klagegründe durchgreift, ist die
Klage in der Rechtssache T-207/01 abzuweisen.
Kosten
149.
Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterlegene Partei auf Antrag zur
Tragung der Kosten zu verurteilen. In der Rechtssache T-195/01 sind der Kommission die Kosten
aufzuerlegen, da diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist und die Klägerin einen entsprechenden
Antrag gestellt hat. In der Rechtssache T-207/01 sind der Klägerin die Kosten aufzuerlegen, da diese
mit ihrem Vorbringen unterlegen ist und die Kommission ebenfalls einen entsprechenden Antrag
gestellt hat.
150.
In den verbundenen Rechtssachen T-195/01 R und T-207/01 R sind der Klägerin die Kosten
aufzuerlegen, da diese mit ihrem Vorbringen unterlegen ist und die Kommission einen
entsprechenden Antrag gestellt hat.
151.
Entgegen dem Antrag, den die Klägerin in der mündlichen Verhandlung gestellt hat, ist Artikel 87 §
3 der Verfahrensordnung nicht anzuwenden, da der vorliegende Fall nicht als außergewöhnlich
betrachtet werden kann und da die Kommission der Klägerin die ihr entstandenen Kosten nicht ohne
angemessenen Grund oder böswillig verursacht hat.
152.
Nach Artikel 87 § 4 der Verfahrensordnung des Gerichts trägt das Königreich Spanien in beiden
Rechtssachen seine eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Zweite erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. In der Rechtssache T-195/01:
a) Die Entscheidung SG (2001) D/289755 der Kommisison vom 11. Juli 2001 über die
Eröffnung des Verfahrens gemäß Artikel 88 Absatz 2 EG betreffend die Regelung Gibraltars
über steuerbefreite Gesellschaften wird für nichtig erklärt;
b) die Kommission trägt die Kosten der Regierung von Gibraltar und ihre eigenen
Kosten mit Ausnahme der Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung in der
Rechtssache T-195/01 R, die die Regierung von Gibraltar insgesamt trägt;
c) das Königreich Spanien trägt seine eigenen Kosten.
2. In der Rechtssache T-207/01:
a) Die Klage wird abgewiesen;
b) die Regierung von Gibraltar trägt die Kosten der Kommission und ihre eigenen
Kosten, einschließlich der Kosten des Verfahrens der einstweiligen Anordnung in der
Rechtssache T-207/01 R;
c) das Königreich Spanien trägt seine eigenen Kosten.
Moura Ramos
Tiili
Pirrung
Mengozzi Meij
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 30. April 2002.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
R. M. Moura Ramos
Verfahrenssprache: Englisch.