Urteil des EuG vom 22.11.2001
EuG: kommission, staatliche beihilfe, nummer, unternehmen, regierung, markt, gericht erster instanz, verlängerung der frist, rechtsschutzinteresse, zulage
URTEIL DES GERICHTS (Fünfte erweiterte Kammer)
22. November 200
„ Staatliche Beihilfen - Verlängerung des Investitionszeitraums für Investitionen, die Anspruch auf eine
Zulage eröffnen - Allgemeine Beihilferegelung - Nichtigkeitsklage - Zulässigkeit - Handlung, die die Klägerin
unmittelbar und individuell betrifft - Rechtsschutzinteresse - Zusätzliche Beihilfe - Investitionsbeihilfe oder
Betriebsbeihilfe - Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“
In der Rechtssache T-9/98
Mitteldeutsche Erdöl-Raffinerie GmbH
zunächst Rechtsanwälte M. Schütte und M. Maier, dann Rechtsanwälte Schütte und J. Lüdicke,
Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift in Luxemburg,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 98/194/EG der Kommission vom 1. Oktober 1997 betreffend die
Verlängerung der 8%igen Investitionszulage für Investitionen in den neuen Bundesländern durch das
Jahressteuergesetz 1996 (ABl. L 73, S. 38)
erlässt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Fünfte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung der Präsidentin P. Lindh sowie der Richter R. García-Valdecasas, J. D. Cooke, M. Vilaras und
N. J. Forwood,
Kanzler: D. Christensen, Verwaltungsrätin
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 25. Januar 2001
folgendes
Urteil
Sachverhalt und Verfahren
1.
Die Klägerin ist eine Tochtergesellschaft der französischen Aktiengesellschaft Elf Aquitaine (im
Folgenden: Elf). Sie wurde zum Zweck der Errichtung einer neuen Raffinerie in Leuna (Sachsen-Anhalt)
(im Folgenden: Raffinerie Leuna 2000 oder Projekt Leuna 2000) aufgrund eines Vertrages vom 23. Juli
1992 über die Privatisierung einer alten Raffinerie in Leuna und der Minol AG, eines Vertriebsnetzes für
Mineralerzeugnisse, gegründet. Die Bauarbeiten, die 1993 begonnen hatten, sollten nach den
ursprünglichen Plänen von Elf im Juli 1996 abgeschlossen sein. Tatsächlich konnten sie jedoch wegen
Umständen, die die Klägerin nicht zu vertreten hat, hauptsächlich, weil auf dem Gelände Bomben und
Minen aus dem Zweiten Weltkrieg gefunden wurden, erst im November 1997 abgeschlossen werden.
2.
Die deutschen Behörden beschlossen, der Klägerin zur Ausführung des Projektes Leuna 2000 ein
Bündel von Beihilfen zu gewähren, zu denen eine Beihilfe in Höhevon 360 Mio. DM als 8%ige
Investitionszulage für Investitionen in den neuen Bundesländern nach dem Investitionszulagengesetz
1993 (InvZulG) gehörte. 1995 wurde der Klägerin ein Teilbetrag von 97,5 Mio. DM für die Investitionen
ausgezahlt, die sie im Vorjahr im Rahmen dieses Vorhabens getätigt hatte.
3.
Nach § 3 Absatz 3 InvZulG konnte die 8%ige Investitionszulage nur dann gewährt werden, wenn der
Antragsteller mit der Durchführung seines Investitionsvorhabens nach dem 31. Dezember 1992 und
vor dem 1. Juli 1994 begonnen und es vor dem 1. Januar 1997 abgeschlossen hatte. Falls das
Vorhaben innerhalb dieses Zeitraums nicht vollständig durchgeführt wurde, war der Antragsteller
verpflichtet, die bereits im Rahmen der Investitionszulage empfangenen Geldbeträge zurückzuzahlen.
Die Kommission unterrichtete die deutsche Regierung mit Schreiben vom 24. November 1992 von ihrer
Entscheidung vom 11. November 1992, keine Einwände gegen diese Beihilferegelung gemäß den
Artikeln 92 und 93 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 87 EG und 88 EG) zu erheben.
4.
Die Kommission erklärte mit Entscheidung vom 30. Juni 1993 das in Randnummer 2 beschriebene
Bündel von Beihilfen für gemäß Artikel 92 Absatz 3 EG-Vertrag mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar
(ABl. C 214, S. 9). Mit Entscheidung vom 25. Oktober 1994 genehmigte sie die Gewährung
ergänzender Beihilfen für das Projekt Leuna 2000 (ABl. C 385, S. 35).
5.
§ 3 Absatz 3 InvZulG wurde geändert durch Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996,
das am 11. Oktober 1995 erlassen wurde und am 1. Januar 1996 in Kraft trat. Nach dieser
Bestimmung konnte der Antragsteller die 8%ige Investitionszulage nunmehr nur dann erhalten, wenn
sein Investitionsvorhaben vor dem 1. Januar 1999 durchgeführt wurde. Die Frist, innerhalb deren die
Durchführung dieses Vorhabens beginnen musste, blieb unverändert.
6.
Am 19. Dezember 1995 meldeten die deutschen Behörden diese Änderung verspätet bei der
Kommission an. Mit Schreiben vom 17. November 1995 hatte der Bundesminister der Finanzen den
Finanzbehörden der Länder jedoch mitgeteilt, dass die Bestimmung nicht angewandt werden dürfe,
bevor die Kommission sie gemäß den Artikeln 92 und 93 EG-Vertrag genehmigt habe.
7.
Die Kommission eröffnete mit Beschluss vom 3. Juli 1996, der der deutschen Regierung am 31. Juli
1996 mitgeteilt wurde, das Verfahren nach Artikel 93 Absatz 2 EG-Vertrag in Bezug auf Artikel 18
Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 (ABl. C 290, S. 8). Sie forderte die deutsche Regierung und
die anderen Mitgliedstaaten sowie die sonstigen Beteiligten auf, sich zu äußern. Die deutsche
Regierung und Elf äußerten sich mit Schreiben vom 9. September und 29. Oktober 1996. Die
französische Regierung äußerte sich am 30. Oktober 1996 unter Bezugnahme auf das Vorbringen von
Elf.
8.
Von Dezember 1996 bis Juli 1997 wurde die Angelegenheit bei mehreren Zusammenkünften
zwischen der Kommission und den deutschen Stellen erörtert.
9.
Am 1. Oktober 1997 schloss die Kommission das Verfahren mit dem Erlass der Entscheidung
98/194/EG betreffend die Verlängerung der 8%igen Investitionszulage für Investitionen in den neuen
Bundesländern durch das Jahressteuergesetz 1996 (ABl. 1998, L 73, S. 38; im Folgenden: streitige
Entscheidung) ab. Deren verfügender Teil lautet wie folgt:
„
Durch § 18 Nr. 1 Jahressteuergesetz 1996, der eine Änderung von § 3 Investitionszulagengesetz 1993
dahin gehend vorsieht, dass die 8%ige Investitionszulage nunmehr für Investitionen gewährt wird, mit
denen nach dem 31. Dezember 1992 und vor dem 1. Juli 1994 begonnen wurde und die vor dem 1.
Januar 1999 (statt vor dem 1. Januar 1997) abgeschlossen werden, wird eine neue, zusätzliche
staatliche Beihilfe zugunsten von Unternehmen eingeführt, die Investitionen in den neuen
Bundesländern getätigt haben. Diese Beihilfe ist rechtswidrig, da sie unter Nichtbeachtung von Artikel
93 Absatz 3 EG-Vertrag in Kraft gesetzt worden ist. Die Beihilfe ist mit dem Gemeinsamen Markt
unvereinbar, da sie nicht zur Erreichung eines der in Artikel 92 Absätze 2 und 3 EG-Vertrag genannten
Ziele beiträgt.
§ 18 Nr. 1 Jahressteuergesetz 1996 ist aufzuheben. Deutschland hat alle Beihilfen, die in Anwendung
dieser Bestimmung gewährt wurden, zurückzufordern. Der Beihilfebetrag ist nach den Verfahren und
Vorschriften des deutschen Rechts einschließlich Zinsen ab dem Tag der Gewährung der Beihilfe auf
der Grundlage des Zinssatzes zurückzuzahlen, der als Bezugszinssatz bei der Beurteilung der
Regionalbeihilferegelungen zugrunde gelegt wird.
Deutschland unterrichtet die Kommission innerhalb von zwei Monaten nach Übermittlung dieser
Entscheidung über die zu deren Durchführung getroffenen Maßnahmen.
Diese Entscheidung ist an die Bundesrepublik Deutschland gerichtet.“
10.
Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 5. Januar 1998 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen
ist, die vorliegende Klage erhoben.
11.
Am 30. Januar 1998 unterrichtete die deutsche Regierung die Kommission von einer
Vergleichsvereinbarung, die am 30. Dezember 1997 zwischen Elf und der Klägerin einerseits sowie der
Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) andererseits ausgehandelt worden
war. Nach dieser Vergleichsvereinbarung hatten u. a. die BvS und das Land Sachsen-Anhalt an die
Klägerin 240 Mio. DM bzw. 120 Mio. DM zu zahlen. Die Durchführung der Vergleichsvereinbarung wurde
von der vorherigen Genehmigung der Kommission nach dem Beihilferecht der Gemeinschaft abhängig
gemacht.
12.
Die deutsche Regierung teilte der Kommission mit Schreiben vom 13. März 1998 mit, die
angefochtene Entscheidung werde mit Artikel 12 des Gesetzes zur weiteren Fortentwicklung des
Finanzplatzes Deutschland durchgeführt. Dieses Gesetz wurde vom Bundestag am 13. Februar 1998
verabschiedet, der Bundesrat stimmte ihm am 6. März 1998 zu, und es wurde am 27. März 1998
veröffentlicht.
13.
Der Präsident der Vierten erweiterten Kammer des Gerichts hat das Verfahren mit Beschluss vom
30. April 1998 bis zum 15. Juni 1998 ausgesetzt. Durch Beschluss vom 10. Juni 1998 hat er diese
Aussetzung bis zum 15. Juli 1998 verlängert.
14.
Die Kommission hat mit gesondertem Schriftsatz, der am 21. September 1998 bei der Kanzlei des
Gerichts eingegangen ist, eine Einrede der Unzulässigkeit gemäß Artikel 114 § 1 der
Verfahrensordnung des Gerichts erhoben.
15.
Die Klägerin hat ihre Stellungnahme zur Einrede der Unzulässigkeit am 9. November 1998
eingereicht.
16.
Das Gericht (Fünfte erweiterte Kammer) hat am 18. März 1999 gemäß Artikel 64 § 3 der
Verfahrensordnung die Parteien aufgefordert, nähere Angaben zu dem Vergleich zu machen und
mitzuteilen, ob der Rechtsstreit ihrer Auffassung nach auch dann noch entschieden werden müsse,
wenn der Vergleich umgesetzt werden sollte. Die Parteien haben auf diese Fragen mit Schriftsätzen
vom 31. März 1999 geantwortet.
17.
Das Gericht (Fünfte erweiterte Kammer) hat mit Beschluss vom 11. Mai 1999 die Entscheidung über
die Einrede der Unzulässigkeit dem Endurteil vorbehalten.
18.
Am 13. März 2000 erließ die Kommission eine Entscheidung, mit der sie feststellte, dass die
Vergleichsvereinbarung kein Element einer staatlichen Beihilfe im Sinne von Artikel 92 Absatz 1 EG-
Vertrag enthalte, was die Zahlung von 240 Mio. DM durch die BvS angehe. In Bezug auf die Zahlung
von 120 Mio. DM durch das Land Sachsen-Anhalt vertrat sie die Ansicht, diese Maßnahme stelle eine
staatliche Beihilfe dar, erklärte sie jedoch für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar.
19.
Das Gericht (Fünfte erweiterte Kammer) hat beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen.
Es hat im Rahmen prozessleitender Verfügungen dieParteien und die Bundesrepublik Deutschland
gebeten, bestimmte Unterlagen vorzulegen und bestimmte Fragen zu beantworten. Die Parteien und
die Bundesrepublik Deutschland sind dieser Aufforderung innerhalb der gesetzten Frist
nachgekommen.
20.
Die Parteien haben in der Sitzung vom 25. Januar 2001 mündlich verhandelt und die Fragen des
Gerichts beantwortet.
Anträge der Parteien
21.
Die Klägerin beantragt,
- die Einrede der Unzulässigkeit zurückzuweisen;
- die streitige Entscheidung aufzuheben, soweit sie sie benachteiligt;
- der Kommission die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
22.
Die Kommission beantragt,
- die Klage als unzulässig abzuweisen;
- hilfsweise die Klage als unbegründet abzuweisen;
- der Klägerin die Kosten des Verfahrens aufzuerlegen.
Zur Zulässigkeit
23.
Die Kommission macht geltend, die Klage sei unzulässig, da die Klägerin von der streitigen
Entscheidung nicht unmittelbar und individuell betroffen sei und ihr das Rechtsschutzinteresse an
deren Aufhebung fehle.
24.
Im vorliegenden Fall ist zunächst zu prüfen, ob die Klägerin ein Rechtsschutzinteresse hat.
Vorbringen der Parteien
25.
Die Kommission vertritt die Ansicht, die Klägerin habe kein Rechtsschutzinteresse nachgewiesen, da
die in Rede stehende Beihilferegelung im Fall der Aufhebung der streitigen Entscheidung nicht wieder
eingeführt werde. Die Bundesrepublik Deutschland habe die notwendigen gesetzgeberischen
Maßnahmen ergriffen, um dieser Entscheidung nachzukommen, diese Maßnahmen seien am 28. März
1998 in Kraft getreten, und die Finanzbehörden der Länder hätten damit begonnen, vonden
Investoren, die nicht in der Lage gewesen seien, ihr Vorhaben vor dem 1. Januar 1997 abzuschließen,
die Rückzahlung der Beträge zu verlangen, die sie als 8%ige Investitionsbeihilfe erhalten hätten. Die
Bundesregierung habe die streitige Entscheidung auch weder mit einer Klage angefochten noch sei
sie dem vorliegenden Rechtsstreit als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Klägerin
beigetreten.
26.
Mit der Vergleichsvereinbarung, die sie mit Entscheidung vom 13. März 2000 genehmigt habe, sei
der Streit um die Gewährung der 8%igen Investitionsbeihilfe an die Klägerin beigelegt worden. Die
Klägerin habe sich im Übrigen verpflichtet, die vorliegende Klage zurückzunehmen, sobald diese
Vergleichsvereinbarung genehmigt und der Betrag von 360 Mio. DM gezahlt worden sei.
27.
Die Klägerin macht geltend, sie verfüge über ein Rechtsschutzinteresse.
28.
Erstens könne ihr bei Aufhebung der streitigen Entscheidung die Aufhebung des Artikels 18 Absatz
1 des Jahressteuergesetzes 1996 nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes nicht
entgegengehalten werden. Würde diese Entscheidung nicht aufgehoben, so könne sie nach
deutschem Recht ferner keine möglichen Sekundäransprüche geltend machen.
29.
Zweitens sei es unerheblich, dass die Bundesrepublik Deutschland gegen die angefochtene
Entscheidung nicht vorgegangen sei und dem vorliegenden Rechtsstreit auch nicht als Streithelferin
beigetreten sei.
30.
Drittens sei die Frage der Zulässigkeit der Klage nach Maßgabe des Zeitpunkts der Einreichung der
Klageschrift zu beurteilen; zu diesem Zeitpunkt sei die Vergleichsvereinbarung aber noch nicht von der
Kommission genehmigt und Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 noch nicht
aufgehoben gewesen.
31.
Zur Vergleichsvereinbarung hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung erklärt, dass die BvS ihr
auf die Entscheidung vom 13. März 2000 hin den vereinbarten Betrag von 240 Mio. DM gezahlt habe.
Zu den vom Land Sachsen-Anhalt zu tragenden Betrag von 120 Mio. DM hat sie ausgeführt,
ursprünglich sei eine Verrechnung mit dem Betrag von 97,5 Mio. DM vorgesehen gewesen, den sie
1995 als 8%ige Investitionszulage erhalten habe. Da die Kommission Einwände gegen diese
Verrechnung erhoben habe, habe die Klägerin diesen Betrag durch Überweisung auf ein Sperrkonto
zurückgezahlt, um zu verhindern, dass dieser wieder in den allgemeinen Haushalt des Landes
Sachsen-Anhalt eingestellt werde - die Investitionszulagen fielen unter keinen eigenen
Ausgabenposten - und auf diese Weise vom Land nicht für die Zahlung verwendet werden könnte, die
ihm nach der Vergleichsvereinbarung obliege. Wenn das Gericht die angefochtene Entscheidung
aufhebe und die deutschen Behörden dementsprechend den Rückforderungsbescheid über 97,5 Mio.
DM aufzuhebenhätten, werde dieser Betrag für die Erfüllung der Vergleichsvereinbarung verfügbar.
Zur Zahlung des Restbetrags von 22,5 Mio. DM an die Klägerin habe sich die BvS bereit erklärt, da das
Land Sachsen-Anhalt nicht in der Lage sei, eine derartige finanzielle Belastung zu übernehmen.
Würdigung durch das Gericht
32.
Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Zulässigkeit der Klage einer natürlichen oder juristischen
Person voraus, dass diese ein Rechtsschutzinteresse nachweist (Beschluss des Gerichts vom 10.
Februar 2000 in der Rechtssache T-5/99, Andriotis/Kommission und Cedefop, Slg. 2000, II-235, Randnr.
36, und Urteil vom 6. Juli 2000 in der Rechtssache T-139/99, AICS/Parlament, Slg. 2000, II-2849,
Randnr. 28). Ein solches Interesse ist nur dann vorhanden, wenn die Nichtigerklärung der
Entscheidung als solche Rechtswirkungen erzeugen kann (Urteil des Gerichtshofes vom 24. Juni 1986
in der Rechtssache 53/85, Akzo Chemie/Kommission, Slg. 1986, 1965, Randnr. 21, und Urteil des
Gerichts vom 25. März 1999 in der Rechtssache T-102/96, Gencor/Kommission, Slg. 1999, II-753,
Randnr. 40).
33.
Im Übrigen ist bei der Prüfung des Rechtsschutzbedürfnisses für eine Nichtigkeitsklage auf den
Zeitpunkt der Klageerhebung abzustellen (Urteil des Gerichtshofes vom 16. Dezember 1963 in der
Rechtssache 14/63, Forges de Clabecq/Hohe Behörde, Slg. 1963, 769, 799, und Urteil des Gerichts
vom 15. Dezember 1999 in der Rechtssache T-22/97, Kesko/Kommission, Slg. 1999, II-3775, Randnr.
55).
34.
Im vorliegenden Fall steht einem Rechtsschutzinteresse der Klägerin nicht entgegen, dass die
deutsche Regierung die angefochtene Entscheidung in vollem Umfang ausgeführt hat und nicht die
Absicht haben dürfte, die in Rede stehende Beihilferegelung im Fall der Aufhebung der Entscheidung
wieder einzuführen. Denn aus den Akten ergibt sich, dass die Klägerin, wenn Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 beibehalten worden wäre, die 8%ige Investitionszulage für ihr
Investitionsvorhaben erhalten hätte, da sie alle hierfür im Investitionszulagengesetz 1993
aufgestellten Voraussetzungen erfüllte und dieses Vorhaben vor dem 1. Januar 1999 abgeschlossen
hatte. Daher lässt sich nicht ausschließen, dass die Klägerin, wie sie vorträgt, bestimmte Ansprüche
gegen die deutschen Behörden geltend machen könnte, wenn die streitige Entscheidung vom Gericht
für rechtswidrig erklärt würde.
35.
Unerheblich ist auch die völlig legitime Entscheidung der deutschen Regierung, weder die
Aufhebung der streitigen Entscheidung zu betreiben noch dem Rechtsstreit in der vorliegenden
Rechtssache als Streithelferin zur Unterstützung der Anträge der Klägerin beizutreten.
36.
Ferner hat der Abschluss der Vergleichsvereinbarung am 30. Dezember 1997 der Klägerin das
Rechtsschutzinteresse nicht entzogen. Denn zwischen den Parteien istunstreitig, dass die
Durchführung dieser Vergleichsvereinbarung von der Genehmigung der Kommission abhing. Diese
erfolgte jedoch erst am 13. März 2000, mehr als zwei Jahre nach der Erhebung der vorliegenden Klage.
37.
Diese Genehmigung hat das Rechtsschutzinteresse der Klägerin auch nicht nachträglich entfallen
lassen. Die Kommission ist der Behauptung der Klägerin, das Land Sachsen-Anhalt könne über den
gegenwärtig auf ein Sperrkonto überwiesenen Betrag von 97,5 Mio. DM nur dann für die völlige
Durchführung der Vergleichsvereinbarung verfügen, wenn das Gericht die streitige Entscheidung
aufhebe, nicht ernstlich entgegentreten (vgl. Randnr. 31). Die von der Kommission in der mündlichen
Verhandlung geäußerte Ansicht, die Klägerin suche eine doppelte Zahlung des Betrages von 360 Mio.
DM zu erwirken, einmal aufgrund der in Rede stehenden Beihilferegelung und ein zweites Mal aufgrund
der Vergleichsvereinbarung, ist zurückzuweisen. Denn die Vergleichsvereinbarung sieht ausdrücklich
vor, dass die Klägerin der BvS sämtliche Beträge zu erstatten hat, die ihr als 8%ige Investitionszulage
gezahlt und die dazu führen würden, dass sie über einen höheren Betrag als 360 Mio. DM verfügen
könnte.
38.
Nach allem hat die Klägerin ein Rechtsschutzinteresse an der Aufhebung der streitigen
Entscheidung nachgewiesen.
Vorbringen der Parteien
39.
Die Kommission macht geltend, die angefochtene Entscheidung beeinträchtige die Rechte der
Klägerin nicht unmittelbar.
40.
Die Rückzahlungspflicht der Klägerin ergebe sich nicht aus der angefochtenen Entscheidung,
sondern daraus, dass sie nicht die im Investitionszulagengesetz 1993 vorgesehene Voraussetzung
erfüllt habe, die Verwirklichung des Investitionsvorhabens vor dem 1. Januar 1997 abzuschließen.
Artikel 2 der angefochtenen Entscheidung beziehe sich nur auf die gemäß Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 gewährten Beihilfen. Ein Fall der Anwendung dieses Artikels 2 liege jedoch
nicht vor, da gemäß dem Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 17. November 1995
(vgl. Randnr. 6) die Änderung des § 3 Absatz 3 InvZulG nicht durchgeführt worden sei.
41.
Bis zum Zeitpunkt der Einreichung des Schriftsatzes, mit dem die Kommission die Einrede der
Unzulässigkeit erhoben habe, hätten die deutschen Behörden von der Klägerin die Rückzahlung des
Betrages von 97,5 Mio. DM, den diese als 8%ige Investitionszulage für das Jahr 1994 bereits erhalten
habe, noch nicht verlangt. Hätte die angefochtene Entscheidung eine unmittelbare
Rückzahlungspflicht zur Folge, so hätte diese Rückzahlung binnen zwei Monaten nach der Zustellung
dieser Entscheidung erfolgen müssen.
42.
Selbst nach der Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung hätte die Klägerin keinen
Anspruch auf Zahlung der Investitionszulage, da die durch Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes vorgenommene Änderung des Investitionszulagengesetzes 1993 inzwischen
rückgängig gemacht worden sei.
43.
Die Klägerin vertritt die Ansicht, sie sei von der angefochtenen Entscheidung unmittelbar betroffen.
44.
Zunächst sei ihr die Investitionszulage unmittelbar nach deutschem Recht gewährt worden, nach
dem jedes Unternehmen, das die im Investitionszulagengesetz 1993 vorgesehenen Voraussetzungen
erfülle, Anspruch auf diese Zulage habe, ohne dass es einer Ermessensentscheidung der Verwaltung
bedürfe. Ferner habe sie die in diesem Gesetz in der durch Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 geänderten Fassung aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, da die
Errichtung der Raffinerie Leuna 2000 im November 1997 abgeschlossen worden sei. Daher hätte die
Klägerin, wenn die Kommission diese Bestimmung gebilligt hätte, einen unmittelbaren Anspruch auf
360 Mio. DM als 8%ige Investitionszulage. Nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes könne die
Klägerin die Aufrechterhaltung dieses Anspruchs trotz der Durchführung der angefochtenen
Entscheidung durch die Bundesrepublik Deutschland geltend machen.
45.
Zweitens begründe die angefochtene Entscheidung unmittelbar die Verpflichtung zur Rückzahlung
des Betrages von 97,5 Mio. DM, den sie 1995 als 8%ige Investitionszulage erhalten habe. Nach
ständiger Rechtsprechung verfügten die nationalen Behörden bei der Wiedereinziehung gewährter
Beihilfen über kein Ermessen (Urteile des Gerichtshofes vom 21. März 1990 in der Rechtssache C-
142/87, Belgien/Kommission, Slg. 1990, I-959, Randnr. 61, vom 20. September 1990 in der
Rechtssache C-5/89, Kommission/Deutschland, Slg. 1990, I-3437, Randnr. 12, und vom 20. März 1997
in der Rechtssache C-24/95, Alcan Deutschland, Slg. 1997, I-1591, Randnr. 24). Die Ansicht der
Kommission, die Rückzahlungsverpflichtung folge aus dem Investitionszulagengesetz 1993, sei
rechtsirrig. Dass die Kommission die Genehmigung der Vergleichsvereinbarung von der Rückzahlung
des erwähnten Betrages abhängig gemacht habe, belege, dass diese der Ansicht sei, der Betrag sei
auf der Grundlage von Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 zu Unrecht ausgezahlt
worden. Im Übrigen werde der Rückforderungsbescheid der deutschen Behörden auf diese
Bestimmung gestützt.
Würdigung durch das Gericht
46.
Nach Artikel 173 Absatz 4 EG-Vertrag (nach Änderung jetzt Artikel 230 Absatz 4 EG) kann eine
natürliche oder juristische Person eine Klage gegen eine an eine andere Person gerichtete
Entscheidung nur dann erheben, wenn diese Entscheidung sie unmittelbar und individuell betrifft. Da
die angefochtene Entscheidung an die Bundesrepublik Deutschland gerichtet ist, ist als erstes zu
prüfen, ob sie die Klägerin unmittelbar betrifft.
47.
Nach ständiger Rechtsprechung ist ein privater Kläger nur dann im Sinne von Artikel 173 Absatz 4
EG-Vertrag unmittelbar betroffen, wenn sich die angefochtene Handlung der Gemeinschaft auf seine
Rechtsstellung unmittelbar auswirkt und ihre Durchführung rein automatisch erfolgt und sich allein
aus der Gemeinschaftsregelung ergibt, ohne dass dabei weitere Vorschriften angewandt werden (in
diesem Sinne Urteil des Gerichtshofes vom 5. Mai 1998 in der Rechtssache C-386/96 P,
Dreyfus/Kommission, Slg. 1998, I-2309, Randnr. 43, und Urteil des Gerichts vom 13. Dezember 2000 in
der Rechtssache T-69/99, DSTV/Kommission, Slg. 2000, II-4039, Randnr. 24).
48.
Das Gleiche gilt, wenn für die Adressaten nur die rein theoretische Möglichkeit besteht, dem
Gemeinschaftsakt nicht nachzukommen, weil ihr Wille, diesem Akt nachzukommen, keinem Zweifel
unterliegt (Urteile des Gerichtshofes vom 17. Januar 1985 in der Rechtssache 11/82, Piraiki-Patraiki u.
a./Kommission, Slg. 1985, 207, Randnrn. 8 bis 10, und Dreyfus/Kommission, Randnr. 44).
49.
Im vorliegenden Fall war die Bundesrepublik Deutschland nach Artikel 2 Satz 1 der angefochtenen
Entscheidung verpflichtet, Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 aufzuheben. Aufgrund
dieser Aufhebung wurde die Frist für die Durchführung der Investitionen, die Anspruch auf die 8%ige
Investitionszulage eröffneten, automatisch vom 31. Dezember 1998 auf den 31. Dezember 1996
zurückverlegt.
50.
Daher waren die deutschen Behörden gezwungen, bei den Investoren, die zu dem letztgenannten
Zeitpunkt ihr Vorhaben noch nicht vollständig durchgeführt hatten, die Beträge zurückzufordern, die
diese bereits als 8%ige Investitionszulage erhalten hatten. In Bezug auf die Klägerin ergibt sich aus
den Akten, dass sie den ihr 1995 gezahlten Betrag von 97,5 Mio. DM zurückzahlen musste.
Unerheblich ist, dass diese Rückzahlung nicht binnen zwei Monaten nach der Übermittlung der
angefochtenen Entscheidung an die Bundesrepublik Deutschland erfolgte (vgl. Randnr. 41), da
feststeht, dass dieser Staat verpflichtet war, diese Entscheidung durchzuführen. Unerheblich ist
ferner, dass formal die Rückzahlungsverpflichtung gemäß Artikel 2 Satz 2 der angefochtenen
Entscheidung nur die gemäß Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 gewährten Beihilfen
betrifft, da, wie bereits festgestellt, die Verpflichtung zur Aufhebung in Artikel 2 Satz 1 notwendig zur
Folge hatte, dass die deutschen Behörden bei der Klägerin 97,5 Mio. DM wiedereinziehen mussten.
51.
Ferner geht aus den Akten hervor, dass die Klägerin alle Voraussetzungen des
Investitionszulagengesetzes 1993 erfüllte und dass ihr, da ihr Investitionsvorhaben vollständig vor dem
1. Januar 1999 ausgeführt worden war, die 8%ige Investitionszulage gewährt worden wäre, wenn die
Änderung dieses Gesetzes durch Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 beibehalten
worden wäre. Der Wille der deutschen Behörden, der Klägerin diese Beihilfe zu gewähren, unterlag
keinem Zweifel. Das Argument der Kommission betreffend die Aufhebung derletztgenannten
Bestimmung (vgl. Randnr. 42) ist für die Prüfung der Frage unerheblich, ob die Klägerin von der
angefochtenen Entscheidung unmittelbar betroffen ist.
52.
Nach allem ist die Rechtsstellung der Klägerin von der angefochtenen Entscheidung unmittelbar
betroffen.
Vorbringen der Parteien
53.
Die Kommission macht geltend, nach ständiger Rechtsprechung seien andere Personen als die
Adressaten einer Entscheidung nur dann individuell im Sinne von Artikel 173 Absatz 4 EG-Vertrag
betroffen, wenn diese Entscheidung sie wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder
besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berühre und sie
dadurch in ähnlicher Weise individualisiere wie einen Adressaten (vgl. Urteil Plaumann/Kommission,
Urteile des Gerichtshofes vom 14. Juli 1983 in der Rechtssache 231/82, Spijker/Kommission, Slg. 1983,
2559, Randnr. 8, und vom 18. Mai 1994 in der Rechtssache C-309/89, Codorniu/Rat, Slg. 1994, I-1853,
Randnr. 20, sowie Urteile des Gerichts vom 19. Mai 1994 in der Rechtssache T-2/93, Air
France/Kommission, Slg. 1994, II-323, Randnr. 42, vom 27. April 1995 in der Rechtssache T-435/93,
ASPEC u. a./Kommission, Slg. 1995, II-1281, Randnr. 62, vom 13. Dezember 1995 in den Rechtssachen
T-481/93 und T-484/93, Vereniging van Exporteurs in Levende Varkens u. a./Kommission, Slg. 1995, II-
2941, Randnr. 51, und vom 5. Juni 1996 in der Rechtssache T-398/94, Kahn Scheepvaart/Kommission,
Slg. 1996, II-477, Randnr. 37).
54.
Anspruch auf die 8%ige Investitionszulage hätten nach § 1 InvZulG Steuerpflichtige im Sinne des
Einkommensteuergesetzes und des Körperschaftsteuergesetzes, die im Fördergebiet begünstigte
Investitionen im Sinne der §§ 2 und 3 InvZulG vornähmen, Fördergebiet seien die neuen Bundesländer,
und begünstigte Investitionen seien im Wesentlichen die Anschaffung und die Herstellung von neuen
abnutzbaren beweglichen Wirtschaftsgütern.
55.
Die mit Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 bewirkte Änderung begünstige zwei
Gruppen von Betroffenen, nämlich erstens diejenigen, die eine 8%ige Investitionszulage für die Jahre
1994 bis 1996 beantragt und erhalten hätten, jedoch nicht ihr gesamtes Vorhaben vor dem 1. Januar
1997 hätten abschließen können und die daher diese Zulage hätten zurückzahlen müssen (im
Folgenden: erste Gruppe), und zweitens diejenigen, die mit den Investitionen vor dem 1. Juli 1994
begonnen hätten, jedoch die Investitionszulage für die Jahre 1994 bis 1996 nicht in Anspruch
genommen hätten, weil für sie bereits absehbar gewesen sei, dass sie ihr Vorhaben nicht vor dem 1.
Januar 1997 würden abschließen können (im Folgenden: zweite Gruppe).
56.
Dies belege, dass sich der Geltungsbereich der in Rede stehenden Regelung nicht auf den Fall der
Klägerin beschränke und dass sich die Zahl der möglichen Begünstigten sowie deren Identität nicht
genau bestimmen lasse.
57.
Die streitige Entscheidung untersage die Anwendung einer allgemeinen Regelung und stelle sich
daher als Maßnahme von allgemeiner Wirkung dar, die für objektiv bestimmte Situationen gelte und
nur mittelbar Rechtswirkung gegenüber einer abstrakt-generell umschriebenen Personengruppe
erzeugen könne. Diese Entscheidung betreffe daher die Klägerin nur in ihrer objektiven Eigenschaft
als Investorin im Fördergebiet in gleicher Weise wie jeden anderen Investor, der sich tatsächlich oder
potenziell in gleicher Lage befinde (Urteile Piraiki-Patraiki u. a./Kommission, Randnr. 14,
Spijker/Kommission, Randnr. 9, und Kahn Scheepvaart/Kommission, Randnr. 41).
58.
Im Übrigen bestreitet die Kommission die Stichhaltigkeit der Umstände, mit der die Klägerin ihre
Ansicht zu belegen sucht, sie sei von der angefochtenen Entscheidung individuell betroffen.
59.
Erstens sei die Argumentation der Klägerin, sie betreibe die Aufhebung dieser Entscheidung nur,
soweit es diese in ihrem besonderen Fall unterlasse, die Anwendung von Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 zu genehmigen, nicht haltbar.
60.
Denn zum einen sei nicht dargetan, dass diese Entscheidung eigens zur Regelung der Situation der
Klägerin erlassen worden sei. Der in einer Mitteilung der deutschen Regierung an die Kommission vom
23. Juni 1998 erwähnte Umstand, dass die 8%ige Investitionszulage in mehr als 100 Fällen
zurückzuzahlen gewesen sei, beweise vielmehr das Gegenteil. Ferner gehörten eine unbestimmbare
Anzahl möglicher Begünstigter zur zweiten Gruppe. Zudem seien die Gründe für den Erlass einer
allgemeinen Beihilferegelung für die Prüfung des Rechtsschutzinteresses eines Klägers unerheblich.
61.
Zum anderen führt die Kommission aus, die angefochtene Entscheidung lasse sich nicht so
auslegen, dass sie einen gesonderten Teil enthalte, der die Lage der Klägerin betreffe. Eine derartige
Sonderung habe sie nicht vornehmen können, da mit der Mitteilung vom 19. Dezember 1995 nur eine
abstrakt-generelle Beihilferegelung notifiziert worden sei, die für jede Person gegolten habe, die
bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllt habe, und da diese Regelung zu diesem Zeitpunkt
bereits in Kraft getreten gewesen sei. Die Ausführungen der deutschen Regierung vom 9. September
1996 könnten daher nicht als Anmeldung einer besonderen Beihilfe für die Klägerin verstanden
werden. Vielmehr bestätigten sie nur, dass die Verlängerung des Zeitraums für die Durchführung der
Investitionen, die einen Anspruch auf die 8%ige Investitionszulage eröffnet hätten, nicht nur der
Klägerin habe zugute kommen sollen, und erwähnten das Projekt Leuna 2000 nur beispielhaft. Selbst
wenn jedoch die deutsche Regierungbeabsichtigt hätte, diese Verlängerung als Beihilfe ausschließlich
zugunsten der Klägerin darzustellen, wäre dieser Umstand unerheblich. Denn die Einstufung einer
Maßnahme als Förderung im Einzelfall oder als allgemeiner Beihilferegelung erfolge nach Maßgabe
objektiver Kriterien und nicht nach der subjektiven Einschätzung der notifizierenden Stelle. Schließlich
wäre die deutsche Regierung berechtigt gewesen, ihre ursprüngliche Notifizierung zurückzunehmen
und ihr eine besondere Beihilfe zugunsten der Klägerin zu notifizieren.
62.
Zum Dritten bestreitet die Kommission, keine grundsätzlichen Einwände nach der
gemeinschaftlichen Regelung für staatliche Beihilfen gegen die Anwendung von Artikel 18 Nummer 1
des Jahressteuergesetzes 1996 auf den besonderen Fall der Klägerin gehabt zu haben.
63.
Zweitens wiederholt sie, dass die Zahl der von der Verlängerung des Zeitraums für die
Fertigstellung der Investitionen, die einen Anspruch auf die 8%ige Investitionszulage eröffneten,
betroffenen Fälle nicht bekannt sei. Zudem verliere nach ständiger Rechtsprechung „eine Maßnahme
ihren Verordnungscharakter nicht dadurch, dass sich diejenigen Personen, auf die sie in einem
gegebenen Zeitpunkt anzuwenden ist, der Zahl nach oder sogar namentlich bestimmen lassen,
sofern nur feststeht, dass sie nach ihrer Zweckbestimmung aufgrund eines objektiven Tatbestandes
rechtlicher oder tatsächlicher Art anwendbar ist, den sie bestimmt“ (Urteil Spijker/Kommission,
Randnr. 10).
64.
Drittens führt die Kommission aus, dass die Klägerin am Verwaltungsverfahren mitgewirkt habe und
in der angefochtenen Entscheidung namentlich Erwähnung finde, erlaube es nicht, ihr das
Rechtschutzinteresse zuzubilligen. Zunächst sei die von der Klägerin in ihrer Klageschrift angeführte
Rechtsprechung nicht einschlägig. Vier der fünf angegebenen Urteile beträfen Antidumpingverfahren
und -verordnungen, also einen völlig anderen als den vorliegenden Sachverhalt. Die im fünften
angeführten Urteil, dem Urteil des Gerichtshofes vom 28. Januar 1986 in der Rechtssache 169/84
(Cofaz u. a./Kommission, Slg. 1986, 391), aufgestellten Grundsätze seien auf den vorliegenden Fall
nicht anwendbar, da die Klägerin keine Beschwerde eingereicht und dadurch das
Verwaltungsverfahren in Gang gesetzt habe und ihre Erklärungen den Verfahrensablauf nicht
bestimmt hätten. Der bloße Umstand, dass die Klägerin im Verwaltungsverfahren Erklärungen
abgegeben habe oder dass sie möglicherweise als Betroffene im Sinne von Artikel 93 Absatz 2 EG-
Vertrag betrachtet werden könne, genüge nicht, um sie in ähnlicher Weise wie den Adressaten der
Entscheidung zu individualisieren (Urteil Kahn Scheepvaart/Kommission, Randnr. 42, und Beschluss
des Gerichts vom 18. Februar 1998 in der Rechtssache T-189/97, Comité d'entreprise de la société
française de production u. a./Kommission, Slg. 1998, II-335, Randnr. 42 und 44). Schließlich sei die
Klägerin in den Punkten II und III der angefochtenen Entscheidung nur erwähnt, um die Argumente der
Bundesregierung wiederzugeben, die sich für die Rechtfertigung der Beihilferegelung auf die
Schwierigkeiten dieses Unternehmens berufen habe.
65.
Die Klägerin macht geltend, sie werde von der angefochtenen Entscheidung wegen bestimmter
persönlicher oder besonderer, sie aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände
berührt.
66.
Sie führt hierzu aus, sie fechte die Entscheidung nur an, soweit diese dem Antrag der
Bundesregierung nicht stattgebe, in ihrem besonderen Fall die Anwendung der Änderung des
Investitionszulagengesetzes 1993 zu genehmigen. Daher sei unerheblich, dass dieses Gesetz eine
allgemeine Beihilferegelung darstelle und dass Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996
eine derartige Regelung ändere.
67.
Die Notifizierung der deutschen Regierung habe nämlich zwei Gegenstände, zum einen die
allgemeine Beihilferegelung und zum anderen eine bestimmte Beihilfe zugunsten der Klägerin. Die
Bundesregierung habe den zweiten Teil der Notifizierung mit ihrem Schreiben vom 9. September 1996
eingeführt, als sich erwiesen habe, dass die Kommission bestimmte Einwände gegen Artikel 18
Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 gehegt habe. Diese Mitteilung habe damit die
ursprüngliche Notifizierung vom 19. Dezember 1995 geändert.
68.
Die letztgenannte Bestimmung sei von den deutschen Behörden eigens zu ihren Gunsten erlassen
worden. Denn das Land Sachsen-Anhalt habe die Initiative ergriffen, eine Änderung des
Investitionszulagengesetzes 1993 zu beantragen, als sich erwiesen habe, dass das Projekt Leuna
2000 aus von der Klägerin nicht zu vertretenden Gründen nicht vor Ende 1996 abgeschlossen werden
könne. Im September 1996 habe das Bundesministerium für Wirtschaft ihr im Übrigen mitgeteilt, nach
seiner Kenntnis sei sie das einzige Unternehmen, das in den Genuss der durch Artikel 18 Nummer 1
des Jahressteuergesetzes 1996 geregelten Verlängerung komme, und es habe sich erst später
gezeigt, dass noch weitere Unternehmen in deren Genuss kommen könnten.
69.
Im Übrigen habe die Kommission gegen die Vereinbarkeit der Anwendung von Artikel 18 Nummer 1
des Jahressteuergesetzes 1996 auf ihren besonderen Fall mit dem Gemeinsamen Markt keine
grundsätzlichen Bedenken gehabt. Die Kommission habe im Übrigen mit ihrer Entscheidung vom 30.
Juni 1993 bereits die Gewährung von 360 Mio. DM für ihr Investitionsvorhaben genehmigt.
70.
Schließlich sei die Ansicht der Kommission irrig, es sei nach dem deutschen Verfassungsrecht nicht
zulässig, die Anwendung eines Bundesgesetzes auf einen Einzelfall zu beschränken. Denn wenn eine
Beihilfe durch ein Gesetz eingeführt worden sei, hindere die Kommission nichts daran, sich bei der
Entscheidung anhand der Gemeinschaftsregelung für staatliche Beihilfen auf die Genehmigung eines
bestimmten Falles der Anwendung dieses Gesetzes zu beschränken und alle anderen
Anwendungsfälle zu verbieten.
71.
Zweitens führt die Klägerin aus, die Zahl der von der Verlängerung durch Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 begünstigten Unternehmen sei objektiv beschränkt und bestimmt. Von
dieser Maßnahme seien nur die Unternehmen betroffen, die mit der Durchführung eines
Investitionsvorhabens nach dem 1. Januar 1993 und vor dem 30. Juni 1994 begonnen und einen
ersten Antrag auf die 8%ige Investitionszulage vor dem 30. September 1995 gestellt hätten (vgl.
Randnr. 89). Zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung sei sie die einzige
bekannte Begünstigte dieser Verlängerung gewesen. Unerheblich sei, dass nach der Mitteilung der
deutschen Regierung vom 23. Juli 1998 mehr als 100 Unternehmen in den Genuss dieser
Verlängerung gelangt seien, da dieses Schreiben nach der angefochtenen Entscheidung verfasst
worden sei. Im Übrigen sei die 8%ige Investitionszulage in Wirklichkeit nur in 62 Fällen zurückgefordert
worden, und es bestünden Zweifel, ob es sich in all diesen Fällen um gemäß § 3 Absatz 3 InvZulG
gewährte Investitionszulagen gehandelt habe.
72.
Drittens macht die Klägerin geltend, sie sei an mehreren Stellen der angefochtenen Entscheidung
namentlich erwähnt, ihre besondere Situation habe den Ablauf des Verwaltungsverfahrens bestimmt
und Elf habe an diesem Verfahren mitgewirkt und zahlreiche Stellungnahmen abgegeben. Die Klägerin
beruft sich für ihr Vorbringen auf mehrere Urteile des Gerichtshofes in Antidumpingverfahren (Urteile
vom 21. Februar 1984 in der Rechtssache 239/82, Allied Corporation u. a./Kommission, Slg. 1984,
1005, vom 20. März 1985 in der Rechtssache 264/82, Timex/Rat und Kommission, Slg. 1985, 849, vom
14. März 1990 in den Rechtssachen C-133/87 und C-150/87, Nashua Corporation u. a./Kommission und
Rat, Slg. 1990, I-719, und vom 16. Mai 1991 in der Rechtssache C-358/89, Extramet Industrie/Rat, Slg.
1991, I-2501) sowie auf das Urteil Cofaz u. a./Kommission, in dem der Gerichtshof erklärt habe, dass
bei der Beurteilung, ob ein Kläger ein Rechtsschutzinteresse an einer Nichtigkeitsklage auf dem
Gebiet staatlicher Beihilfen habe, die Rechtsprechung zum Antidumpingverfahren zu berücksichtigen
sein. Das Urteil Cofaz lasse sich nicht dahin auslegen, dass Unternehmen, die sich nicht in einer mit
der dort untersuchten identischen Situation befänden, niemals als individuell betroffen im Sinne von
Artikel 173 EG-Vertrag betrachtet werden könnten (Urteile des Gerichts vom 27. April 1995 in der
Rechtssache T-435/93, ASPEC u. a./Kommission, Slg. 1995, II-1281, Randnr. 64, und vom 5. November
1997 in der Rechtssache T-149/95, Ducros/Kommission, Slg. 1997, II-2031, Randnr. 34). Daher sei der
Umstand, dass sie das Verwaltungsverfahren nicht mit einer Beschwerde eingeleitet habe, im
vorliegenden Fall nicht maßgeblich.
Würdigung durch das Gericht
73.
Da die streitige Entscheidung an die Bundesrepublik Deutschland gerichtet war, ist zweitens zu
prüfen, ob die Klägerin von ihr unmittelbar betroffen ist (vgl. Randnr. 46).
74.
Zurückzuweisen ist das Vorbringen der Klägerin, die Notifizierung von Artikel 18 Absatz 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 durch die Bundesregierung an dieKommission habe neben einer
allgemeinen Beihilferegelung eine Einzelbeihilfe zu ihren Gunsten betroffen (vgl. Randnrn. 66 und 67).
Denn, wie die Klägerin einräumt, hatte die Bundesregierung durch ihre Mitteilung vom 19. Dezember
1995 (vgl. Randnr. 6) eine Bestimmung zur Änderung von § 3 InvZulG notifiziert, der eine allgemeine
Beihilferegelung darstellte. Diese Notifizierung wurde von der Bundesregierung später nicht geändert.
Insbesondere können deren Ausführungen vom 9. September 1996 nicht so ausgelegt werden, dass
mit ihnen die Einführung einer ergänzenden Notifizierung einer Einzelbeihilfe zugunsten der Klägerin
bezweckt oder bewirkt worden wäre. In diesen Ausführungen beantragte die Bundesregierung nämlich
weiterhin eindeutig die Genehmigung der Beihilferegelung in der im Dezember 1995 notifizierten Form,
suchte dabei jedoch darzulegen, dass sich diese in der Praxis nur zugunsten der Klägerin auswirken
werde.
75.
Sodann kann nach ständiger Rechtsprechung derjenige, der nicht Adressat einer Entscheidung ist,
nur dann geltend machen, von ihr individuell betroffen zu sein, wenn die Entscheidung ihn wegen
bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen
heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise wie den Adressaten
individualisiert (Urteile Plaumann/Kommission, und Cofaz u. a./Kommission, Randnr. 22, sowie Urteile
des Gerichts vom 22. Oktober 1996 in der Rechtssache Skibsvaerftsforeningen u. a./Kommission, Slg.
1996, II-1399, in der Rechtssache T-69/96 vom 15. Dezember 1999 in den Rechtssachen T-132/96 und
T-143/96, Freistaat Sachsen u. a./Kommission, Slg. 1999, II-3663, Randnr. 83, und vom 21. März 2001
in der Rechtssache T-69/96, Hamburger Hafen- und Lagerhaus u. a./Kommission, Slg. 2001, II-1037,
Randnr. 35).
76.
Im vorliegenden Fall geht aus den Akten hervor - und ist zwischen den Partien unstreitig -, dass
Artikel 18 Absatz 1 des Jahressteuergesetzes 1996 eine generelle steuerrechtliche Bestimmung
darstellt.
77.
Da die angefochtene Entscheidung die Anwendung dieser Bestimmung untersagt, ist sie, obwohl
an einen Mitgliedstaat gerichtet, für durch diese Vorschriften potenziell Begünstigte eine generelle
Maßnahme, die für objektiv bestimmte Situationen gilt und Rechtswirkungen gegenüber einem
allgemein und abstrakt umschriebenen Personenkreis erzeugt (Urteil des Gerichts vom 11. Februar
1999 in der Rechtssache T-86/96, Arbeitsgemeinschaft Deutscher Luftfahrt-Unternehmen und Hapag-
Lloyd/Kommission, Slg. 1999, II-179, Randnr. 45). Die Klägerin räumt selbst ein, dass die Verlängerung
des Zeitraums für die Verwirklichung der Investitionen, die Anspruch auf die 8%ige Investitionszulage
eröffneten, möglicherweise auch anderen Investoren zugute kam (vgl. Randnr. 68) und dass aufgrund
der angefochtenen Entscheidung die Erstattung dieser Zulage in einer Reihe von Fällen verlangt
worden sei (Randnr. 71).
78.
Unbeschadet dieser Feststellungen betrifft die angefochtene Entscheidung die Klägerin nicht nur
wegen ihrer bloßen objektiven Eigenschaft als mögliche Empfängerin der Investitionszulage in gleicher
Weise wie jeden anderen Marktteilnehmer, der sich tatsächlich oder potenziell in gleicher Lage
befindet (Urteile des Gerichtshofes Piraiki-Patraiki u. a./Kommission, Randnr. 14, und vom 2. Februar
1988 in den Rechtssachen 67/85, 68/85 und 70/85, Van der Kooy u. a./Kommission, Slg. 1988, 219,
Randnr. 15). Eine Reihe von tatsächlichen Umständen hebt die Klägerin nämlich aus dem Kreis aller
anderen Marktteilnehmer hervor.
79.
So kam das Investitionsvorhaben der Klägerin zweifellos für die 8%ige Investitionszulage in Betracht
und die Kommission hat mit ihrer Entscheidung vom 30. Juni 1993 ausdrücklich die Gewährung eines
Bündels von Beihilfen zur Unterstützung dieses Vorhabens - u. a. eine Beihilfe von 360 Mio. DM in Form
der erwähnten Investitionsbeihilfe - für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt. Zwischen den
Parteien ist unstreitig, dass dieses Vorhaben wegen unvorhergesehener, vom Willen der Klägerin
unabhängiger Umstände nicht, wie von § 3 Absatz 3 InvZulG verlangt, vollständig vor dem 1. Januar
1997 durchgeführt werden konnte. Fest steht auch, dass das Investitionsvorhaben der Klägerin in der
zusätzlichen Frist von zwei Jahren, die durch Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996
eingeführt wurde, weder in seinem Charakter noch in seinem Umfang geändert wurde und dass es die
Verlängerung der Klägerin ermöglicht hätte, in den Genuss der 8%igen Investitionszulage zu gelangen,
ohne dass dies die geringste Änderung der Intensität der verschiedenen vorgesehenen Beihilfen zu
Folge gehabt hätte.
80.
Weiter geht aus den Akten, insbesondere der angefochtenen Entscheidung (Nr. III der
Begründungserwägungen), eindeutig hervor, dass der Erlass von Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 namentlich mit den erwähnten Besonderheiten der Lage der Klägerin
begründet wurde.
81.
Im Übrigen war diese besondere Lage im Verwaltungsverfahren Gegenstand nicht nur schriftlicher
Ausführungen der Bundesregierung und der Muttergesellschaft der Klägerin, sondern auch
eingehender Erörterungen zwischen der Bundesregierung und der Kommission.
82.
Ferner schlug die Bundesregierung der Kommission vor, dass sie Artikel 18 Absatz 1 des
Jahressteuergesetzes von 1996 nur auf die Klägerin anwenden und alle möglichen anderen Fälle der
Anwendung dieser Bestimmung einzeln notifizieren werde. Die Kommission prüfte diesen Vorschlag in
der angefochtenen Entscheidung ausdrücklich und gab die Gründe an, aus denen sie ihn nicht
annehmen könne.
83.
Offenkundig wurde daher entgegen den Ausführungen der Kommission in ihren Schriftsätzen der
Fall der Klägerin nicht nur beispielhaft als großes, von der fraglichen Beihilferegelung gedecktes
Investitionsvorhaben erwähnt.
84.
Schließlich wird aus der angefochtenen Entscheidung deutlich, dass die Kommission, die bereits die
Regelung der 8%igen Investitionszulage genehmigt hatte (vgl. Randnr. 3) und die Gewährung eines
Bündels von Beihilfen zugunsten des Projektes Leuna 2000 - u. a. die Beihilfe von 360 Mio. DM im
Rahmen der Investitionszulage - für mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt hatte (vgl. Randnr.
4), bereit war, eine Lösung für den Fall der Klägerin zu finden. Aus dieser Entscheidung und den
Erklärungen der Kommission in der mündlichen Verhandlung geht hervor, dass einer derartigen
Lösung die angebliche Unfähigkeit der Bundesregierung entgegenstand, zu gewährleisten, dass die
Verlängerung des Zeitraums für die Durchführung der Investitionen nur der Klägerin zugute komme.
Mit anderen Worten, die angebliche Unfähigkeit, den Fall der Klägerin auf inländischer Ebene im
Hinblick auf die Anwendung von Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 gesondert zu
behandeln, war ein wichtiger Bestandteil der streitigen Entscheidung.
85.
Daher ist die Klägerin von der streitigen Entscheidung individuell betroffen. Somit ist die Klage
zulässig.
Zur Begründetheit
86.
Die Klägerin stützt ihre Klage auf mehrere Klagegründe: 1) Verletzung von Artikel 92 Absatz 2
Buchstabe c EG-Vertrag und mangelnde Begründung, 2) Verletzung von Artikel 92 Absatz 3 EG-
Vertrag, 3) Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, 4) Verletzung von Artikel 93 Absatz 1 EG-
Vertrag und schließlich 5) mangelnde Begründung. Trotz der Bezeichnung des Klagegrundes 2, die
sich ausschließlich auf Artikel 92 Absatz 3 EG-Vertrag bezieht, sucht die Klägerin mit ihrem Vorbringen
tatsächlich ganz allgemein eine Verletzung von Artikel 92 EG-Vertrag darzutun. Daher ist dieser
Klagegrund dahin neu einzustufen, dass es um eine Verletzung von Artikel 92 EG-Vertrag geht.
87.
Im vorliegenden Fall sind zunächst die Klagegründe 2 und 3 gemeinsam zu untersuchen.
Vorbringen der Parteien
88.
In Bezug auf die Verletzung von Artikel 92 EG-Vertrag rügt die Klägerin erstens, dass die Kommission
die Verlängerung des Zeitraums für die Durchführung der Investitionen, die Anspruch auf die 8%ige
Investitionszulage eröffnen, als zusätzliche staatliche Beihilfe eingeordnet habe. Diese Verlängerung
habe lediglich der Aufrechterhaltung von Ansprüchen gedient, die wegen der Verzögerung bei der
Fertigstellung besonders umfangreicher Investitionsvorhaben zu entfallen gedroht hätten.
89.
Der Kreis der möglicherweise durch Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996
begünstigten Unternehmen habe bereits festgestanden, als diese Bestimmung erlassen worden sei,
so dass von der Änderung nur Unternehmen profitiert hätten, die nur nach dem
Investitionszulagengesetz 1993 Anspruch auf die 8%ige Investitionszulage gehabt hätten. Nach § 6
Absatz 1 InvZulG habe der Antrag auf die Investitionszulage vor dem 30. September des
Kalenderjahres gestellt werden müssen, das auf das Wirtschaftsjahr gefolgt sei, in dem die
Investitionen abgeschlossen, Anzahlungen geleistet worden oder Teilherstellungskosten entstanden
seien. Denn die Betroffenen hätten, da sie mit der Durchführung ihres Investitionsvorhabens vor dem
1. Juli 1994 hätten begonnen haben müssen, notwendigerweise zu diesem Zeitpunkt bereits
bestimmte Leistungen bestellt oder erbracht, und daher im Laufe des Jahres 1994 Anzahlungen
geleistet oder bestimmte Herstellungskosten getragen. Daher hätten die Betroffenen ihren Antrag
auf Investitionszulage vor dem 30. September 1995 gestellt haben müssen. In der mündlichen
Verhandlung hat die Klägerin ausgeführt, wenn ein Investor vor dem 30. September des Folgejahres
keinen Antrag auf Investitionszulage für ein bestimmtes Jahr gestellt habe, habe er dies später nicht
mehr tun können. Sie hat hingegen eingeräumt, dass ein Investor, der mit der Durchführung seines
Vorhabens in der vorgeschriebenen Frist begonnen und vor dem 30. September 1995 keine
Investitionszulage für 1994 getätigte Investitionen beantragt habe, theoretisch gemäß dem
Investitionszulagengesetz 1993 in der geänderten Fassung eine Investitionszulage für beispielsweise
1997 durchgeführte Arbeiten hätte erhalten können, wenn er einen entsprechenden Antrag vor dem
30. September 1998 gestellt hätte.
90.
Schließlich macht die Klägerin geltend, jedenfalls habe die Änderung des
Investitionszulagengesetzes 1993 keine zusätzliche staatliche Beihilfe für ihren Einzelfall eingeführt.
91.
Zweitens rügt sie, die Kommission habe Artikel 92 EG-Vertrag verletzt, indem sie die Ansicht
vertreten habe, dass die Verlängerung des Zeitraums für die Durchführung der Investitionen, die
Anspruch auf die 8%ige Investitionszulage eröffneten, eine Betriebsbeihilfe darstelle.
92.
Die Investitionszulage erfülle offenkundig sämtliche Merkmale einer Investitionsbeihilfe, wie sie in
der Gemeinschaftsrechtsprechung und in den Mitteilungen der Kommission über die Methode zur
Anwendung von Artikel 92 Absatz 3 Buchstaben a und c EG-Vertrag auf regionale Beihilfen (ABl. 1988,
C 212, S. 2) und über regionale Beihilferegelungen (ABl. 1979, C 31, S. 9) festgelegt seien. Eine
derartige Investitionsbeihilfe könne nicht - zumindest nicht in ihrem Einzelfall - nur durch die
Verlängerung des Investitionszeitraums zu einer Betriebsbeihilfe werden. Diese Verlängerung habe in
ihrem Fall zu keiner zusätzlichen Geldleistung geführt, und die 8%ige Investitionszulage habe ihr
gemäß den Entscheidungen vom 30. Juni 1993 und vom 25. Oktober 1994 unabhängig vom Zeitpunkt
der Fertigstellung ihres Vorhabens zufließen sollen. Schließlich ändere diese Verlängerung in Bezug
auf dieses Vorhaben nicht die mit der 8%igenInvestitionszulage möglicherweise verbundene
Wettbewerbsbeeinträchtigung, die von der Kommission in den erwähnten Entscheidungen für mit dem
Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt worden sei.
93.
Die Kommission habe die Auffassung der Bundesregierung falsch dargestellt, als sie in der
streitigen Entscheidung angegeben habe, diese habe in ihrer Mitteilung vom 19. Dezember 1995
ausgeführt, die Verlängerung des Investitionszeitraums diene „als Betriebsbeihilfe der Stärkung des
Eigenkapitals des betreffenden Unternehmens“.
94.
Drittens rügt die Klägerin, die Kommission habe Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe a EG-Vertrag dadurch
verletzt, dass sie die Anwendbarkeit dieser Bestimmung mit der Begründung ausgeschlossen habe,
die Beihilfe begünstige nicht allein die ostdeutsche Wirtschaft. Nach § 1 Absatz 2 InvZulG seien die
Investitionen in den neuen Bundesländern durchzuführen, die Investitionszulage müsse für das
Eigenkapital der dortigen Betriebsstätte verwendet werden, und die Verlängerung des
Investitionszeitraums ändere hieran nichts. Sie hält im Übrigen das Argument der Kommission, die
Beihilfe könne für die Finanzierung von Tätigkeiten außerhalb der neuen Bundesländer verwendet
werden, für unzutreffend, denn es sei unerheblich, ob ein Unternehmen nach der Durchführung eines
Investitionsvorhabens und nach dem Empfang der zu dessen Förderung bestimmten Beihilfen diese
Beihilfen in einer anderen Betriebsstätte verwende.
95.
Die Kommission vertritt erstens die Ansicht, Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996
führe eine zusätzliche staatliche Beihilfe ein.
96.
Zunächst ermögliche diese Bestimmung den Unternehmen, die mit der Durchführung eines
Investitionsvorhabens innerhalb der vorgeschriebenen Frist begonnen, jedoch damals die 8%ige
Investitionszulage nicht beantragt hätten, weil für sie absehbar gewesen sei, dass sie das Vorhaben
nicht vor dem 1. Januar 1997 würden abschließen können, in den Genuss dieser Zulage zu gelangen.
97.
Die Auslegung des § 6 Absatz 1 InvZulG durch die Klägerin sei unzutreffend. Der Antrag auf die
8%ige Investitionszulage müsse nicht unbedingt vor dem 30. September 1995 eingereicht worden
sein, denn der Betroffene habe mit dem Antrag auf diese Zulage bis zum 30. September des Jahres
warten können, das auf das Haushaltsjahr folge, in dessen Lauf das Investitionsvorhaben vollständig
verwirklicht worden sei. So hätte wegen des Erlasses von Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 ein Investor, der sein Vorhaben im Laufe des Jahres 1998 abgeschlossen
habe, erstmals zu diesem Zeitpunkt einen Antrag auf die Investitionszulage für die Jahre 1994 bis
1998 einreichen können.
98.
Ferner habe die Änderung des Investitionszulagengesetzes 1993 zu einer weicheren Fassung der
Voraussetzungen für die Gewährung der 8%igen Investitionszulage geführt. Sie habe insbesondere
bewirkt, dass für einen Investor, der unterEinplanung dieser Investitionszulage habe investieren
wollen, das Risiko beseitigt worden sei, nicht das gesamte Investitionsvorhaben in der ursprünglich
vorgesehenen Frist durchführen zu können.
99.
In ihrer Klagebeantwortung führt sie ferner aus, da § 4 InvZulG die Bemessungsgrundlage für die
8%ige Investitionszulage als „die Summe der Anschaffungs- und Herstellungskosten der im
Wirtschaftsjahr abgeschlossenen begünstigten Investitionen“ definiere, habe ein Unternehmen in den
Genuss der Investitionszulage für zusätzliche Investitionen gelangen können, die es im
Verlängerungszeitraum von zwei Jahren vorgenommen habe.
100.
Schließlich führt die Kommission aus, die durch Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996
bewirkte Änderung des Investitionszulagengesetzes 1993 stelle selbst eine „Umgestaltung von
Beihilfen“ im Sinne von Artikel 93 Absatz 3 EG-Vertrag dar, so dass ihr habe notifiziert werden müssen
und sie habe eine Entscheidung treffen müssen.
101.
Zweitens verweist die Kommission auf Abschnitt IV der Begründungserwägungen der
angefochtenen Entscheidung, um darzutun, dass die Verlängerung der Frist für die Durchführung der
Investitionen eine Betriebsbeihilfe darstelle.
102.
Drittens habe diese Verlängerung außerhalb des Fördergebiets gelegenen Unternehmen zugute
kommen können, da sie keine zusätzlichen Investitionen fördere.
103.
Im Rahmen der Rüge der Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes rügt die Klägerin, dass
die Kommission ihren besonderen Fall nicht von der Erklärung der Unvereinbarkeit mit dem
Gemeinsamen Markt ausgeschlossen und sie nicht von der Verpflichtung zur Rückzahlung der gemäß
Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 gewährten Beihilfen befreit habe.
104.
Zunächst habe die Kommission in ihrer Entscheidung vom 30. Juni 1993 bereits ein Bündel von
Beihilfen zugunsten des Projektes Leuna 2000 genehmigt, u. a. die Beihilfe von 360 Mio. DM als 8%ige
Investitionszulage. Für die Rechtmäßigkeit dieses Bündels von Beihilfen sei es nicht entscheidend
darauf angekommen, dass die Arbeiten vor dem 31. Dezember 1996 abgeschlossen gewesen seien.
Die Klägerin wiederholt, dass die Kommission gegen die Anwendung von Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 auf ihren Einzelfall keine grundsätzlichen, auf das Beihilferecht der
Gemeinschaft gestützten Einwände gehabt habe.
105.
Die angefochtene Entscheidung erwähne mehrfach ihre besondere Situation, die Bundesregierung
habe erklärt, dass Artikel 18 Absatz 1 des Jahressteuergesetzes 1996 wegen des Projektes Leuna
2000 erlassen worden sei, und die deutsche sowie die französische Regierung und Elf hätten im
Verwaltungsverfahren eindeutig erklärt, dass das Vorhaben eine Reihe von Besonderheiten aufweise,
die sie von anderen möglicherweise von der erwähnten Bestimmung begünstigtenUnternehmen
unterschieden. Die Klägerin verweist auf den Vorschlag, den die Bundesregierung der Kommission im
Verwaltungsverfahren unterbreitet hatte (vgl. Randnr. 81), und führt aus, sie habe der Kommission mit
Schreiben vom 25. September 1997 einen alternativen Formulierungsvorschlag für die Tenorierung
der angefochtenen Entscheidung vorgelegt, der es ermöglicht hätte, ihre Sondersituation im Rahmen
einer allgemeinen Feststellung zu berücksichtigen.
106.
Daher hätte die Kommission nicht nur eine abstrakt-generelle Prüfung von Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 vornehmen dürfen, vielmehr hätte sie eigens über den besonderen Fall
der Klägerin entscheiden müssen. Durch die Ablehnung des Vorschlags der Bundesregierung und die
Entscheidung für eine allgemeine Unvereinbarkeitserklärung habe die Kommission eine Maßnahme
erlassen, die außer Verhältnis zum verfolgten Zweck stehe und der Klägerin grundlos eine erhebliche
finanzielle Belastung auferlegt habe.
107.
Die Klägerin macht geltend, die Kommission sei nicht aus verfahrensrechtlichen Gründen daran
gehindert, ihren besonderen Fall eigens zu behandeln. Die von der Bundesregierung vorgeschlagene
Lösung sei rechtlich möglich gewesen und hätte auf der Verwaltungsebene keine Schwierigkeiten
bereitet. Die Kommission könne insbesondere nicht einwenden, es sei nach deutschem Recht nicht
möglich, ein Bundesgesetz allein für den Fall der Klägerin zu erlassen. Der Erlass eines
Einzelfallgesetzes sei nicht schlechthin, sondern nach Artikel 19 Absatz 1 des deutschen
Grundgesetzes nur in dem Fall unzulässig, dass es ein Grundrecht einschränke, nicht aber, wenn es,
wie im vorliegenden Fall, einen Anspruch gewähre.
108.
Die Kommission bestreitet, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verletzt zu haben.
109.
Zunächst habe ihr die Bundesregierung nur ein Beihilfeprogramm notifiziert, so dass es ihr aus
verfahrensrechtlichen Gründen nicht möglich gewesen sei, den Fall der Klägerin eigens zu behandeln.
Hätte die Bundesregierung gewünscht, dass sie gleichzeitig über eine besondere Beihilfe zugunsten
der Klägerin entscheide, so hätte es ihr freigestanden, eine solche Beihilfe getrennt zu notifizieren
oder ihre ursprüngliche Notifizierung in eine Notifizierung eines individuellen Beihilfevorhabens zu
ändern.
110.
Die Kommission bestreitet sodann, dass Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 den
Charakter einer Einzelfallregelung gehabt habe. Die deutsche Regierung habe im Übrigen selbst
erklärt, aus rechtlichen Gründen sei es nicht möglich gewesen, ein Bundesgesetz allein für den Fall
der Klägerin zu erlassen. Eine Prüfung der Nichtigkeit dieser Erklärung stehe ihr nicht zu.
111.
Im Übrigen verweist sie zur Begründung dafür, dass die von der Bundesregierung vorgeschlagene
Lösung nicht habe angenommen werden können, auf die dreiletzten Absätze des Abschnitts IV der
Begründungserwägungen der streitigen Entscheidung. Im Wesentlichen sei Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 bereits in Kraft getreten gewesen und stelle eine generelle Regelung dar,
auf die sich ein Investor, der die objektiven Voraussetzungen erfülle, direkt berufen könne.
112.
Jedenfalls rechtfertige die besondere Lage der Klägerin keine Ausnahme von der streitigen
Entscheidung. Denn in Bezug auf ihr Investitionsvorhaben vermöge die Klägerin weder nachzuweisen,
dass die Verlängerung des Zeitraums für die Durchführung der den Anspruch auf die
Investitionszulage eröffnenden Investitionen für sie einen Anreiz zu zusätzlichen Investitionen in den
Fördergebieten geboten habe, noch, dass diese Verlängerung keine Betriebsbeihilfe darstelle.
Würdigung durch das Gericht
113.
Artikel 92 EG-Vertrag soll gewährleisten, dass der Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes nicht
verfälscht wird (vgl. Artikel 3 Buchstabe g EG-Vertrag [nach Änderung jetzt Artikel 3 Buchstabe g EG]).
Artikel 92 Absatz 1 EG-Vertrag erklärt staatliche Beihilfen für mit dem Gemeinsamen Markt
unvereinbar, die den Wettbewerb verfälschen oder zu verfälschen drohen, soweit sie den Handel
zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigen.
114.
Da die Kommission bei der Anwendung des Artikels 92 EG-Vertrag weitgehende
Entscheidungsfreiheit besitzt, darf weiter der Gemeinschaftsrichter bei der Kontrolle der
Rechtmäßigkeit der Ausübung dieser Freiheit ihre Beurteilung nicht durch seine eigene ersetzen,
sondern muss sich darauf beschränken, zu prüfen, ob die Beurteilung offensichtlich irrig oder
ermessensmissbräuchlich ist (Urteile des Gerichtshofes vom 14. Januar 1997 in der Rechtssache C-
169/95, Spanien/Kommission, Slg. 1997, I-135, Randnr. 34, und vom 5. Oktober 2000 in der
Rechtssache C-288/96, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-8237, Randnr. 26).
115.
Im Übrigen verlangt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, dass die Rechtsakte der
Gemeinschaftsorgane nicht die Grenzen dessen überschreiten, was für die Erreichung des verfolgten
Zieles angemessen und erforderlich ist; dabei ist, wenn mehrere geeignete Maßnahmen zur Auswahl
stehen, die am wenigsten belastende zu wählen (Urteile des Gerichtshofes vom 17. Mai 1984 in der
Rechtssache 15/83, Denkavit Nederland, Slg. 1984, 2171, Randnr. 25, und des Gerichts vom 29.
September 2000 in der Rechtssache T-55/99, CETM/Kommission, Slg. 2000, II-3207, Randnr. 163).
116.
Ist die Kommission schließlich förmlich mit der Notifizierung einer Beihilferegelung befasst worden,
so hindert sie das nicht daran, neben einer abstrakt-generellen Prüfung dieser Regelung deren
Anwendung in einem einzelnen Fall zu prüfen. Auch kann die Kommission in der Entscheidung, die sie
nach ihrer Prüfung erlässt, zu dem Ergebnis gelangen, dass bestimmte Fälle der angemeldeten
Beihilferegelungeine Beihilfe darstellen und andere nicht, oder nur bestimmte Fälle für mit dem
Gemeinsamen Markt unvereinbar erklären. Im Rahmen ihres weiten Entscheidungsspielraums kann sie
insbesondere zwischen den von der Beihilferegelung Begünstigten nach bestimmten Merkmalen, die
diese aufweisen, oder Voraussetzungen unterscheiden, die sie erfüllen (vgl. z. B. Entscheidung
2000/394/EG der Kommission vom 25. November 1999 über die Beihilfemaßnahmen zugunsten der
Unternehmen im Stadtgebiet von Venedig und Chioggia nach den Gesetzen Nr. 30/1997 und Nr.
206/1995 zur Einführung von Kürzungen von Sozialleistungen [ABl. L 150, S. 50]).
117.
Im vorliegenden Fall durfte sich die Kommission nicht mit einer abstrakt-generellen Untersuchung
von Artikel 18 Absatz 1 des Jahressteuergesetzes 1996 begnügen, sondern musste auch den
besonderen Fall der Klägerin prüfen. Diese Prüfung war nicht nur wegen der Besonderheiten des
Investitionsvorhabens der Klägerin (vgl. Randnr. 79) - von denen die Kommission vollständig
unterrichtet war - erforderlich, sondern auch, weil die Bundesregierung im Verwaltungsverfahren
ausdrücklich einen entsprechenden Antrag gestellt hatte.
118.
Die Kommission kann hiergegen nicht einwenden, dass Artikel 18 Nummer 1 des
Jahressteuergesetzes 1996 bereits in Kraft getreten gewesen sei und eine generelle Regelung
darstelle, auf die sich jeder Investor, der den objektiven Tatbestand erfülle, direkt berufen könne.
Gegebenenfalls hätte es nämlich der Bundesrepublik Deutschland oblegen, alle Rechts- und
Verwaltungsvorschriften zu erlassen, um die Entscheidung der Kommission durchzuführen. Dieser
Staat hätte die Schwierigkeiten auf sich nehmen müssen, die sich aus seiner verspäteten
Notifizierung der betreffenden Beihilferegelung möglicherweise ergeben hätten.
119.
Im Licht dieser Grundsätze und Feststellungen ist das Vorbringen der Parteien zu prüfen.
120.
Die Kommission vertrat in der angefochtenen Entscheidung zunächst die Ansicht, die durch Artikel
18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 eingeführte Verlängerung des Zeitraums für die
Durchführung von Investitionen, die Anspruch auf die 8%ige Investitionszulage eröffneten, stelle eine
zusätzliche staatliche Beihilfe für Unternehmen dar, die Investitionen in den neuen Bundesländern
getätigt hätten. Sodann führte sie aus, dass diese Beihilfe keine zusätzlichen Investitionen fördere
und daher als Betriebsbeihilfe zu betrachten sei, die der Erhöhung des Eigenkapitals der betroffenen
Unternehmen diene. Schließlich lehnte sie die Anwendung der in Artikel 92 Absatz 3 Buchstabe a EG-
Vertrag vorgesehenen Ausnahme namentlich mit der Begründung ab, dass diese Betriebsbeihilfe
nicht nur der Wirtschaft der neuen Bundesländer zugute komme. Denn, so die Kommission,
„Unternehmen, die die Voraussetzungen erfüllen, können auch anderswo Betriebsstätten unterhalten
und könnten die Beihilfe damit auch zur Finanzierung von Aktivitäten außerhalb Ostdeutschlands
verwenden“.
121.
Nach dem Akteninhalt und den Erklärungen der Kommission in der mündlichen Verhandlung hat
diese zwischen zwei Gruppen möglicher Empfänger der fraglichen Beihilfemaßnahme unterschieden
und ist auf diese Weise zu ihrem Ergebnis gelangt.
122.
Die erste Gruppe besteht aus den Unternehmen, die in den neuen Bundesländern ein
Investitionsvorhaben unter Zugrundelegung der 8%igen Investitionszulage durchführen wollten, die
mit der Ausführung ihres Vorhabens nach dem 1. Januar 1993 und vor dem 30. Juni 1994 begonnen
und rechtzeitig Anträge auf Teilzahlung dieser Zulage gestellt hatten, jedoch entgegen ihrer
ursprünglichen Absicht ihr Vorhaben letztendlich nicht vor dem 1. Januar 1997 abschließen konnten. In
der angefochtenen Entscheidung führte die Kommission hierzu aus: „Unternehmen, die
Investitionsentscheidungen im Hinblick auf die 8%ige Investitionszulage ohne einen gewissen
zeitlichen Spielraum für investitionsbezogene Risiken getroffen haben, haben eine Investitionsbeihilfe
akzeptiert, die potenziell niedriger ausfällt, als wenn sie die Voraussetzungen des
Investitionszulagengesetzes 1993 erfüllten, und haben ihre Investition trotz dieser Risiken als rentabel
angesehen.“ Sie fügt hinzu: „Die Fristverlängerung bewirkt keine zusätzlichen Investitionen und dürfte
auf die Beendigung von begonnenen Investitionen kaum Einfluss haben.“ Vom Gericht in der
mündlichen Verhandlung um Erläuterung gebeten, hat die Kommission erklärt, in Bezug auf die
Unternehmen, die der ersten Gruppe angehörten, führe Artikel 18 Absatz 1 des Jahressteuergesetzes
1996 eine zusätzliche staatliche Beihilfe dadurch ein, dass sie für diese Unternehmen „das Risiko
beseitigt“, ihr Investitionsvorhaben nicht innerhalb der verlangten Frist durchzuführen.
123.
Die zweite Gruppe umfasst die Unternehmen, die ebenfalls nach dem 1. Januar 1993 und vor dem
30. Juli 1994 ein Investitionsvorhaben in den neuen Bundesländern begonnen hatten, jedoch vor dem
Erlass von Artikel 18 Absatz 1 des Jahressteuergesetzes 1996 keinen Antrag auf die 8%ige
Investitionszulage gestellt hatten, da sie wussten, dass sie nicht in der Lage sein würden, ihr
Vorhaben vor dem 1. Januar 1997 abzuschließen. Die Kommission macht geltend, wegen der durch
diese Bestimmung vorgenommenen Verlängerung um zwei Jahre hätten diese Unternehmen nunmehr
die Gewährung der Investitionszulage beanspruchen können. Dies stelle keinen Anreiz für zusätzliche
Investitionen, sondern „einen Zufallsgewinn für Unternehmen dar, die ihre Investition ursprünglich so
kalkuliert hatten, dass sie auch ohne diese Beihilfe rentabel gewesen wäre“. Die Klägerin hat in der
mündlichen Verhandlung eingeräumt, dass theoretisch ein Unternehmen, das mit der Durchführung
eines Investitionsvorhabens innerhalb der vorgeschriebenen Frist begonnen, jedoch die Gewährung
der 8%igen Investitionszulage nicht vor dem Erlass von Artikel 18 Absatz 1 des Jahressteuergesetzes
1996 beantragt habe, nach der Einführung dieser Bestimmung diese Zulage für 1997 durchgeführte
Arbeiten unter erstmaliger Stellung eines entsprechenden Antrags vor dem 30. September 1998
hätte erhalten können (vgl. Randnr. 89). Somit erkennt sie an, dass diese Bestimmung einen
„Zufallsgewinn“ für bestimmte Unternehmen herbeiführen konnte.
124.
Die Kommission zählt die Klägerin jedoch zu den Unternehmen der ersten Gruppe. Daher braucht im
vorliegenden Fall weder über die Berechtigung der Bestimmung der zweiten Gruppe noch über die
unterschiedliche Auslegung von § 6 Absatz 1 InvZulG durch die Parteien (vgl. Randnrn. 89 und 97)
entschieden zu werden.
125.
In Bezug auf die Klägerin hat Artikel 18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 offenkundig keine
zusätzliche Beihilfe und daher keine Betriebsbeihilfe eingeführt.
126.
Denn nach dem Akteninhalt hat die Klägerin bei der Inangriffnahme des Projektes Leuna 2000 nicht
das Risiko auf sich genommen, es nicht vor dem 1. Januar 1997, dem in § 3 Absatz 3 InvZulG 1993
angeführten Termin, abschließen zu können. Sie hatte für die Verwirklichung dieses Vorhabens nicht
nur einen gewissen zeitlichen Spielraum vorgesehen - es sollte ursprünglich im Juli 1996
abgeschlossen werden -, sondern die eingetretene Verzögerung beruhte auch auf Umständen, die
von ihrem Willen völlig unabhängig waren und die sie nicht hatte bedenken müssen, als sie ihre
Investitionsentscheidung traf. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin ihr
Investitionsvorhaben auch dann als „rentabel“ betrachtet hätte, wenn die 8%ige Investitionszulage
nicht gewährt worden wäre.
127.
Die Kommission konnte auch nicht auf das Vorliegen einer anderen zusätzlichen staatlichen Beihilfe
zugunsten der Klägerin schließen. Insbesondere musste die Kommission, der die genaue Art und der
genaue Umfang des Investitionsvorhabens der Klägerin sowie Höhe und Intensität der ihr gewährten
Beihilfen von Anfang an bekannt waren (vgl. insbesondere die Entscheidung vom 30. Juni 1993),
feststellen, dass diese Kriterien aufgrund der Verlängerung des Zeitraums für die Durchführung der
Investitionen, die Anspruch auf die 8%ige Investitionszulage eröffneten, nicht geändert wurden.
128.
Schließlich sucht die Kommission ihre Ansicht, diese Verlängerung habe es den Unternehmen
ermöglicht, in den Genuss der Zulage für Investitionen zu gelangen, die in dem neuen Zeitraum von
zwei Jahren durchgeführt wurden, auf die Festlegung der Berechnungsgrundlage für diese Zulage zu
stützen (Randnr. 99). Jedoch steht dieses Argument in vollständigem Gegensatz zu ihrer Behauptung,
dass die Verlängerung keine zusätzlichen Investitionen gefördert habe. Ferner musste nach § 3 Absatz
3 InvZulG (in der ursprünglichen wie in der geänderten Fassung) die Durchführung des
Investitionsvorhabens nach dem 31. Dezember 1992 und vor dem 1. Juli 1994 begonnen haben, und
sein Umfang musste daher in diesem Zeitraum bereits festgelegt sein. Was des Näheren die Klägerin
angeht, so ergibt sich aus dem Akteninhalt und den Erläuterungen, die sie in der mündlichen
Verhandlung gegeben hat, dass ihr Vorhaben vor seiner Durchführung genau festgelegt worden und
Gegenstand eingehender Erörterungen sowohl mit den deutschen Behörden als auch mit der
Kommission war (vgl. insbesondere die Entscheidung vom 30. Juni 1993).
129.
Jedenfalls wäre es, selbst wenn Artikel 18 Absatz 1 des Jahressteuergesetzes 1996 auch zugunsten
der Klägerin eine zusätzliche staatliche Beihilfe eingeführt hätte, in ihrem Fall nicht gerechtfertigt
gewesen, diese Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar zu erklären. Zum einen hat die
Kommission nicht nur keine Einwände gegen die Regelung der 8%igen Investitionszulage erhoben,
sondern auch noch ausdrücklich die Gewährung eines Bündels von Beihilfen für das Projekt Leuna
2000 - u. a. 360 Mio. DM als Investitionszulage - gemäß Artikel 92 Absatz 3 EG-Vertrag für mit dem
Gemeinsamen Markt vereinbar erklärt, und zum anderen war die bloße Verlängerung des
Investitionszeitraums nicht geeignet, Art und Umfang dieses Vorhabens oder den Betrag und die
Intensität dieses Bündels von Beihilfen zu ändern. Daher hatte die Kommission keinen Grund zu der
Annahme, die Verlängerung könne den Wettbewerb über das hinaus verfälschen oder zu verfälschen
drohen, was das Projekt Leuna 2000 in der ursprünglich angemeldeten Form bereits bewirkte, und sei
daher mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar.
130.
Nach allem hätte die Kommission im Fall der Klägerin zu der Ansicht gelangen müssen, dass Artikel
18 Nummer 1 des Jahressteuergesetzes 1996 keine zusätzliche staatliche Beihilfe einführe oder dass
diese zumindest mit dem Gemeinsamen Markt vereinbar sei.
131.
Indem die Kommission nicht so verfuhr, stattdessen in allen Fällen zu dem Ergebnis gelangte, dass
mit der erwähnten Bestimmung eine zusätzliche staatliche Beihilfe eingeführt worden sei, diese
Beihilfe für mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar erklärte und die Aufhebung dieser Bestimmung
verlangte, hat die Kommission Artikel 92 EG-Vertrag und den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit
verletzt.
132.
Daher sind die Klagegründe zu 2 und 3 begründet. Die angefochtene Entscheidung ist somit für
nichtig zu erklären, soweit sie die Lage der Klägerin betrifft, ohne dass über deren übriges Vorbringen
zur Begründung dieser Rügen oder über ihre anderen Rügen zu befinden ist.
Kosten
133.
Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der
Kosten zu verurteilen. Da die Kommission unterlegen ist, hat sie antragsgemäß neben ihren eigenen
Kosten auch die Kosten der Klägerin zu tragen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Fünfte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Entscheidung 98/194/EG der Kommission vom 1. Oktober 1997 betreffend die
Verlängerung der 8%igen Investitionszulage für Investitionen in den neuen
Bundesländern durch das Jahressteuergesetz 1996 wird für nichtig erklärt, soweit sie die
Lage der Klägerin betrifft.
2. Die Kommission trägt ihre eigenen Kosten und die Kosten der Klägerin.
Lindh
García-Valdecasas
Cooke
Vilaras Forwood
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 22. November 2001.
Der Kanzler
Die Präsidentin
H. Jung
P. Lindh
Verfahrenssprache: Deutsch.