Urteil des EuG vom 29.01.1998

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URTEIL DES GERICHTS (Fünfte Kammer)
29. Januar 1998
„Außervertragliche Haftung — Einheitliche Europäische Akte — Zollspediteur“
In der Rechtssache T-113/96
Edouard Dubois et Fils,
Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Pierre Ricard und Alain Crosson du Cormier, Paris,
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Marc Feiler, 67, rue Ermesinde, Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Rat der Europäischen Union,
Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Generaldirektor Alessandro Morbilli, Direktion für
Rechtsfragen der Europäischen Investitionsbank, 100, boulevard Konrad Adenauer, Luxemburg,
und
Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
Fernando Castillo de la Torre, Juristischer Dienst, als
Bevollmächtigte, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner,
Luxemburg-Kirchberg,
Beklagte,
wegen Ersatzes des Schadens gemäß den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 EG-Vertrag durch die
Gemeinschaft, der der Klägerin durch die Schaffung des Binnenmarktes mit Wirkung vom 1. Januar 1993
aufgrund der Einheitlichen Europäischen Akte und den dadurch bedingten Wegfall der von ihr bisher in
Frankreich ausgeübten Tätigkeit des Zollspediteurs entstanden ist,
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten R. García-Valdecasas sowie der Richter J. Azizi und M. Jaeger,
Kanzler: J. Palacio González, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 16. September 1997,
folgendes
Urteil
Sachverhalt und rechtlicher Rahmen
1.
Mit Artikel 13 der Einheitlichen Europäischen Akte (im folgenden: Einheitliche Akte), die am 17.
Februar 1986 in Luxemburg und am 28. Februar 1986 in Den Haag unterzeichnet wurde und am 1. Juli
1987 in Kraft trat, wurde in den EWG-Vertrag ein Artikel 8a — aufgrund von Artikel G Nummer 9 des
Vertrages über die Europäische Union nunmehr Artikel 7a EG-Vertrag — eingefügt; dieser bestimmt:
„Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Maßnahmen, um bis zum 31. Dezember 1992 gemäß dem
vorliegenden Artikel ... den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen.
Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren,
Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrages gewährleistet
ist.“
2.
Die Verwirklichung des Binnenmarktes, die die Schaffung eines „Raumes ohne Binnengrenzen“
zwischen den Mitgliedstaaten der EWG gebot, bedingte die Abschaffung der Steuergrenzen und der
innergemeinschaftlichen Zollkontrollen mit Ablauf des genannten Zeitraums, also am 1. Januar 1993.
3.
Dies führte zu einer erheblichen Einschränkung von wirtschaftlichen Tätigkeiten, die unmittelbar mit
dem Bestehen von Zoll- und Steuerkontrollen an den innergemeinschaftlichen Grenzen verbunden
waren.
4.
Besonders waren die Zollagenten und -spediteure betroffen, die für Dritte gegen Entgelt die für
den Grenzübertritt der Waren erforderlichen Zollförmlichkeiten abwickeln. Die Zollagenten wickeln
diese Förmlichkeiten für fremde Rechnung und in fremdem Namen, die Zollspediteure für fremde
Rechnung, aber im eigenen Namen ab.
5.
Nach einer Mitteilung der Kommission an den Rat, das Europäische Parlament und den Wirtschafts-
und Sozialausschuß betreffend die strukturelle Anpassung des Gewerbes der Zollagenten und -
spediteure (SEK [92] 887 endg.; im folgenden: Mitteilung der Kommission) sind verschiedene
flankierende Maßnahmen getroffen worden, um den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der
Verwirklichung des Binnenmarktes für diesen Berufszweig Rechnung zu tragen.
6.
Zum einen haben die Mitgliedstaaten, wenn auch in sehr unterschiedlichem Ausmaß, eine
Konzertierung mit den betroffenen Parteien vorgenommen und oftmals soziale Maßnahmen (wie die
Gewährung des Vorruhestands, Umschulungsmaßnahmen, Ausgleichsmaßnahmen für
Verdienstausfälle, Beihilfen für die geographische Mobilität und technische Hilfe bei der Suche eines
Arbeitsplatzes) oder wirtschaftliche Maßnahmen (steuerliche Abzugsfähigkeit von
Entlassungsentschädigungen, Staffelung der Zahlung der Mehrwertsteuereinnahmen über einen
längeren Zeitraum oder Unternehmensbeihilfen) vorgeschlagen (Mitteilung der Kommission, S. 11 bis
13, Abschnitt III).
7.
Zum anderen hat die Gemeinschaft, nachdem die Kommission 1991 eine vom Europäischen
Sozialfonds finanzierte Studie hatte erstellen lassen (Mitteilung der Kommission, S. 6 bis 11, Abschnitt
II), drei Arten von Maßnahmen beschlossen.
8.
Erstens hat der Europäische Sozialfonds die Zollagenten und -spediteure Langzeitarbeitslosen
gleichgestellt und ihnen damit Aktionen der Berufsbildung, Beihilfen für die Schaffung von
Arbeitsplätzen und spezifische Aktionen, zu denen Interventionen zur Erleichterung ihrer beruflichen
Umstellung gehörten, zugänglich gemacht und finanziert (Mitteilung der Kommission, S. 14 bis 16,
Abschnitt IV.1).
9.
Zweitens hat die Interreg-Initiative die Umstrukturierung der betreffenden Unternehmen, die
Umschulung und anderweitige Verwendung ihres Personals, die Umstellung und Wiederverwendung
der Warenabfertigungsanlagen an den Grenzen sowie die Schaffung von alternativen Arbeitsplätzen
gefördert (Mitteilung der Kommission, S. 16 f., Abschnitt IV.2).
10.
Drittens — und in Ergänzung der vorgenannten Aktionen, die sich im Rahmen der Strukturfonds
bewegen — sind Maßnahmen außerhalb der Strukturfonds vorgeschlagen und verabschiedet worden.
In diesem Zusammenhang hat der Rat die Verordnung (EWG) Nr. 3904/92 vom 17. Dezember 1992
über Maßnahmen zur strukturellen Anpassung des Gewerbes der Zollagenten und -spediteure an den
Binnenmarkt (ABl. L 394, S. 1) erlassen.
11.
Die Klägerin, eine Aktiengesellschaft französischen Rechts mit einem Kapital von 47 850 000 FF,
beschäftigt 1 400 Angestellte und besitzt vierzig Niederlassungen und Repräsentanten. Ihre
Haupttätigkeit liegt im Bereich der Spedition und verwandter Gebiete; vor der Vollendung des
Binnenmarktes hatte sie in sechzehn Orten in Frankreich Niederlassungen als zugelassener
Zollspediteur.
12.
Um sich auf die Auswirkungen vorzubereiten, die die Vollendung des Binnenmarktes ab dem 1.
Januar 1993 auf diese Tätigkeit haben würde, hat sie ihrer Darstellung zufolge erhebliche
Anstrengungen unternommen, um ihren Betrieb zu entwickeln und auf andere Tätigkeitsbereiche
umzustellen.
13.
Insbesondere sei ihr die Verordnung Nr. 3904/92 zugute gekommen; in diesem Zusammenhang
seien ihr 100 000 ECU gewährt worden, die ihr die Übernahme einer anderen Gesellschaft (Société
Adrien Martin, nunmehr Adrien Martin International) ermöglicht hätten, die sich in Abwicklung
befunden habe. Dieser Erwerb habe zu ihrer Umstellung von Tätigkeiten als Zollspediteur auf andere
Tätigkeiten, hier: auf Dienstleistungen für Waren, die aus Staaten außerhalb der Gemeinschaft
gestammt hätten oder für diese bestimmt gewesen seien, gehört.
14.
Durch die Verwirklichung des Binnenmarktes ab 1. Januar 1993 sei ihre Tätigkeit als Zollspediteur
praktisch vollständig und endgültig weggefallen. Der ihr hierdurch entstandene materielle Schaden
belaufe sich auf 112 339 703 FF.
Verfahren und Anträge der Parteien
15.
Die Klägerin hat am 24. Juli 1996 die vorliegende Schadensersatzklage erhoben.
16.
Das Gericht (Fünfte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche
Verhandlung ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen.
17.
Die Parteien haben in der öffentlichen Sitzung vom 16. September 1997 mündlich verhandelt und
Fragen des Gerichts beantwortet.
18.
Die Klägerin beantragt,
— festzustellen, daß die Beklagten gemäß Artikel 215 Absatz 2 EG-Vertrag für den Schaden haften,
der ihr durch die Anwendung der Einheitlichen Akte, durch die ab 1. Januar 1993 ein freier Raum für
den Waren- und Dienstleistungsverkehr innerhalb der Grenzen der Mitgliedstaaten geschaffen wurde,
auf ihre Tätigkeit als Zollspediteur entstanden ist,
— den Rat und die Kommission als Gesamtschuldner zu verurteilen, Schadensersatz in Höhe von 112
339 702 FF zu zahlen,
— dem Rat und der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
19.
Der Rat beantragt,
— die Klage als offensichtlich unzulässig abzuweisen,
— hilfsweise, die Klage als unbegründet abzuweisen,
— der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
20.
Die Kommission beantragt,
— die Klage als unzulässig oder unbegründet abzuweisen,
— der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Zur Zulässigkeit
21.
Die Beklagten erheben gegen die Klage drei Einreden der Unzulässigkeit, von denen die ersten
beiden von der Kommission und dem Rat, die dritte vom Rat geltend gemacht wird.
22.
Mit ihrer ersten Unzulässigkeitseinrede machen die Beklagten geltend, mit der Klage solle die
Haftung der Gemeinschaft für einen Schaden festgestellt werden, der durch einen zwischen
Mitgliedstaaten geschlossenen Vertrag verursacht worden sei. Nach der Rechtsprechung (Urteile des
Gerichtshofes vom 4. Februar 1975 in der Rechtssache 169/73, Compagnie Continentale France/Rat,
Slg. 1975, 117, Randnr. 16, und vom 28. April 1988 in den verbundenen Rechtssachen 31/86 und
35/86, LAISA und CPC España/Rat, Slg. 1988, 2285, Randnrn. 18 bis 22), seien Schadensersatzklagen,
die auf den Ersatz von Schäden gerichtet seien, die durch ein Abkommen zwischen Mitgliedstaaten
oder durch die Gründungsverträge selbst
verursacht worden seien, unzulässig. Die vorliegende Klage ziele auf den Ersatz eines durch die
Anwendung der Einheitlichen Akte verursachten Schadens ab.
23.
Mit ihrer zweiten Unzulässigkeitseinrede machen die Beklagten zum einen geltend, die Klageschrift
enthalte keine Angaben zum schädigenden Ereignis und erfülle somit nicht das Erfordernis des
Artikels 19 der EG-Satzung des Gerichtshofes und des Artikels 44 Absatz 1 Buchstabe c der
Verfahrensordnung des Gerichts. Der Streitgegenstand sei somit nicht mit ausreichender
Eindeutigkeit festgelegt. Zum anderen enthalte die Klageschrift, soweit sie nicht ausschließlich gegen
die Einheitliche Akte gerichtet sei, keine Angaben über die Rechtsgrundlage.
24.
In einer dritten Unzulässigkeitseinrede macht der Rat geltend, der behauptete Schaden sei den
Mitgliedstaaten zuzurechnen. Soweit die Klage nämlich dahin zu verstehen sei, daß den
Gemeinschaftsorganen der Vorwurf der Untätigkeit gemacht werde, sei sie unzulässig, da der
behauptete Schaden zumindest zu einem nicht unerheblichen Teil den Mitgliedstaaten zuzurechnen
sei und Artikel 215 Absatz 2 EG-Vertrag als Rechtsgrundlage der Klage nur erlaube, die Haftung der
Gemeinschaftsorgane und ihrer Bediensteten geltend zu machen.
25.
Zur ersten Unzulässigkeitseinrede vertritt die Klägerin die Auffassung, die Klage beziehe sich auf die
Einheitliche Akte nicht als Quelle des der Klägerin unmittelbar entstandenen Schadens, sondern als
Rechtsnorm, deren Inkrafttreten für die Gemeinschaftsorgane die Grundlage neuer Verpflichtungen
zum Tätigwerden, insbesondere zum Erlaß der geeigneten Ausgleichs- und Anpassungsmaßnahmen
zugunsten des Berufszweiges der Zollspediteure dargestellt habe. Diese Maßnahmen seien nicht oder
nur in unzureichendem Umfang getroffen worden.
26.
Die zweite Unzulässigkeitseinrede könne nicht ernst gemeint sein. Die Beklagten hätten das
schädigende Ereignis durchaus erkannt und seien auf die von der Klägerin erhobenen Rügen
erschöpfend eingegangen.
27.
Zur dritten Unzulässigkeitseinrede bezieht die Klägerin keine Stellung.
Würdigung durch das Gericht
28.
Es ist angebracht, die zweite Unzulässigkeitseinrede vor der ersten und der dritten zu prüfen.
— Zur zweiten Unzulässigkeitseinrede
29.
Nach Artikel 19 Absatz 1 der EG-Satzung des Gerichtshofes, der gemäß Artikel 46 Absatz 1 dieser
Satzung auf das Gericht anwendbar ist, und nach Artikel 44 § 1Buchstabe c der Verfahrensordnung
des Gerichts muß die Klageschrift den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe
enthalten. Diese Darstellung muß aus sich selbst heraus hinreichend klar und deutlich sein, um dem
Beklagten die Vorbereitung seiner Verteidigung und dem Gericht die Ausübung
der richterlichen Kontrolle zu ermöglichen. Um die Rechtssicherheit und eine ordnungsgemäße
Rechtspflege zu gewährleisten, ist es für die Zulässigkeit einer Klage daher erforderlich, daß sich die
tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf die sich die Klage stützt, zumindest in gedrängter Form,
aber zusammenhängend und verständlich unmittelbar aus der Klageschrift ergeben (Beschluß des
Gerichts vom 28. April 1993 in der Rechtssache T-85/92, De Hoe/Kommission, Slg. 1993, II-523,
Randnr. 20).
30.
Eine Klage auf Ersatz der von einem Gemeinschaftsorgan verursachten Schäden genügt diesen
Erfordernissen nur, wenn sie Angaben enthält, anhand deren sich das dem Organ vom Kläger
vorgeworfene Verhalten bestimmen läßt, die Gründe angibt, aus denen nach Auffassung des Klägers
ein Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten und dem angeblich erlittenen Schaden besteht,
sowie Art und Umfang dieses Schadens bezeichnet (Urteile des Gerichts vom 18. September 1996 in
der Rechtssache T-387/94, Asia Motor France u. a./Kommission, Slg. 1996, II-961, Randnr. 107, vom 6.
Mai 1997 in der Rechtssache T-195/95, Guérin automobiles/Kommission, Slg. 1997, II-679, Randnr. 21,
und vom 10. Juli 1997 in der Rechtssache T-38/96, Guérin automobiles/Kommission, Slg. II-1223,
Randnr. 42).
31.
Die vorliegende Klageschrift genügt diesen Mindestanforderungen. Die Klage ist offenkundig auf
Feststellung der außervertraglichen Haftung der Gemeinschaft für den behaupteten Schaden —
Verlust des Tätigkeitsbereichs „Zollspediteur“ der Klägerin, der als Firmenwert zu qualifizieren wäre —
und die mit diesem Verlust verbundenen außerordentlichen betrieblichen Aufwendungen, gerichtet.
Dieser angeblich durch den Verlust des Tätigkeitsbereichs „innergemeinschaftlicher Zollspediteur“
entstandene Schaden sei der Gemeinschaft zuzurechnen. Diese habe den behaupteten Schaden
verursacht, indem sie zum einen aufgrund der Einheitlichen Akte die Steuer- und Zollgrenzen
abgeschafft und es zum anderen unterlassen habe, geeignete Entschädigungs- und flankierende
Maßnahmen zu treffen, um die Auswirkungen dieser Abschaffung auf den fraglichen Berufszweig zu
mildern.
32.
Die Gemeinschaft habe damit die Gleichheit vor den öffentlichen Lasten verletzt, einen
entschädigungspflichtigen enteignungsgleichen Eingriff begangen und schließlich höherrangige, dem
Schutz des einzelnen dienende Rechtsnormen, nämlich den Grundsatz des Schutzes wohlerworbener
Rechte und den Grundsatz des Vertrauensschutzes, in hinreichend qualifizierter Weise verletzt.
33.
Entgegen dem Vorbringen der Beklagten enthält die Klageschrift somit in formaler Hinsicht
ausreichende Angaben zum schädigenden Ereignis und zur Rechtsgrundlage der Klage, so daß diese
Unzulässigkeitseinrede nicht begründet ist.
— Zur ersten und zur dritten Unzulässigkeitseinrede
34.
Diese beiden Unzulässigkeitseinreden werfen im wesentlichen die Frage auf, ob der behauptete
Schaden den Mitgliedstaaten oder aber den Gemeinschaftsorganen zuzurechnen ist. Sie beziehen
sich somit auf die Voraussetzungen der Haftung der Gemeinschaft, d. h. den haftungsbegründenden
Tatbestand und den Kausalzusammenhang zwischen diesem Tatbestand und dem behaupteten
Schaden. Ihre Prüfung ist daher mit der Prüfung der Begründetheit der Klage verbunden.
Zur Begründetheit
35.
Die Klägerin stützt ihre Klage in erster Linie auf die verschuldensunabhängige Haftung der
Gemeinschaft, hilfsweise auf die Verschuldenshaftung der Gemeinschaft.
Vorbringen der Parteien
36.
Zur Stützung ihres Hauptvorbringens zur verschuldensunabhängigen Haftung der Gemeinschaft
bringt die Klägerin zwei Klagegründe vor.
37.
Der erste Klagegrund ist auf das Rechtsinstitut des Verstoßes gegen die Gleichheit vor den
öffentlichen Lasten (rupture de l'égalité devant les charges publiques) gestützt, das im französischen
Verwaltungsrecht anerkannt sei. Danach könne demjenigen, der den Nachweis erbringe, daß er einen
anomalen, spezifischen und unmittelbaren Schaden erlitten habe, ohne daß ein rechtswidriges
Verhalten vorliege, Entschädigung gewährt werden. Die Anwendung der Einheitlichen Akte habe zum
Nachteil der Klägerin gegen den Grundsatz der Gleichheit vor den öffentlichen Lasten verstoßen und
ihr einen anomalen, spezifischen und unmittelbaren Schaden zugefügt. Die Anwendung der
Einheitlichen Akte habe nämlich zum Wegfall der spezifischen Tätigkeit des Zollspediteurs im
innergemeinschaftlichen Handelsverkehr und damit zu einem unwiderruflichen Verlust des Firmenwerts
der Klägerin sowie zu außerordentlichen betrieblichen Aufwendungen im sozialen, technischen und
administrativen Bereich geführt. Ein unmittelbarer Kausalzusammenhang sei nach der Mitteilung der
Kommission (S. 1 Absatz 3) und der Verordnung Nr. 3904/92 schwerlich zu bestreiten, in deren fünfter
Begründungserwägung es heiße: „Mit der Beseitigung der Zollförmlichkeiten an den
innergemeinschaftlichen Grenzen wird der innergemeinschaftlichen Tätigkeit dieses Gewerbes ein
jähes Ende bereitet.“
38.
Der zweite Klagegrund geht auf den Begriff des enteignungsgleichen Eingriffs nach deutschem
Recht zurück. Die Anwendung der Einheitlichen Akte stelle der Klägerin gegenüber einen
enteignungsgleichen Eingriff dar. Generalanwalt Sir Gordon Slynn habe in seinen Schlußanträgen in
der Rechtssache 59/83 (Urteil des Gerichtshofes vom 6. Dezember 1984, Biovilac/EWG, Slg. 1984,
4057, 4091)
festgestellt: „Sofern die Gemeinschaft überhaupt rechtmäßig Enteignungen vornehmen könnte,
[bestünde] ein Anspruch des Eigentümers auf Entschädigung; eine solche Entschädigung könnte
dann aufgrund einer Klage gemäß Artikel 215 Absatz 2 zugesprochen werden.“ Dieser Grundsatz sei
auf die Klägerin anwendbar.
39.
Die Beklagten halten den Hauptantrag für unbegründet.
Würdigung durch das Gericht
40.
Nach Artikel 215 Absatz 2 EG-Vertrag ersetzt die Gemeinschaft im Bereich der außervertraglichen
Haftung den durch ihre Organe oder Bediensteten in Ausübung ihrer Amtstätigkeit verursachten
Schaden.
41.
Das Primärrecht der Gemeinschaft besteht aus den Verträgen zur Gründung der Europäischen
Gemeinschaft für Kohle und Stahl, der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen
Atomgemeinschaft sowie den Abkommen, die diese Gründungsverträge ergänzt oder geändert haben,
wie das Abkommen über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaften, die Verträge
über den Beitritt neuer Mitgliedstaaten, die Einheitliche Akte und der Vertrag über die Europäische
Union. Diese Verträge wurden von den Mitgliedstaaten geschlossen, um die Europäischen
Gemeinschaften zu errichten oder zu ändern. Die Einheitliche Akte ist somit weder eine Handlung der
Organe noch eine Handlung ihrer Bediensteten. Demzufolge kann sie auch keine außervertragliche
Haftung der Gemeinschaft auslösen (Urteile Compagnie Continentale France/Rat, zitiert in Randnr. 22,
Randnr. 16, und LAISA und CPC España/Rat, zitiert in Randnr. 22, Randnrn. 18 bis 22). Auch die Artikel
178 und 215 Absatz 2 EG-Vertrag, die die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft regeln,
gehören zum Primärrecht. Die Normenhierarchie bedingt jedoch, daß diese Bestimmungen nicht auf
gleichrangige Rechtsakte angewandt werden können, sofern dies nicht ausdrücklich vorgesehen ist.
42.
Es kann somit dahinstehen, ob die außervertragliche Haftung der Gemeinschaft nach
Gemeinschaftsrecht ohne Verschulden ausgelöst werden kann. Soweit die Klage nämlich auf diese
Grundlage gestützt ist, geht sie ungeachtet des Vorbringens der Klägerin, der von ihr geltend
gemachte Schaden habe seine Grundlage nicht in der Einheitlichen Akte, sondern in der Untätigkeit
der Gemeinschaftsorgane im Zusammenhang mit dem Erlaß angemessener Ausgleichs- und
Anpassungsmaßnahmen, der Sache nach dahin, die Haftung der Gemeinschaft aus der Einheitlichen
Akte selbst abzuleiten.
43.
Nur die Verwirklichung des Binnenmarktes mit der daraus folgenden Abschaffung der Zoll- und
Steuergrenzen, die zum faktischen Wegfall des fraglichen Berufszweiges führt, konnte der Klägerin
nämlich gegebenenfalls einen anomalen, spezifischen und unmittelbaren Schaden zufügen; nur die
Einführung des Binnenmarktes konnte einen Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichheit vor den
öffentlichen Lasten oder einen enteignungsgleichen Eingriff darstellen und faktisch zum völligen,
endgültigen Wegfall dieses Tätigkeitsbereichs sowie zu den mit diesem Wegfall verbundenen
außerordentlichen betrieblichen Aufwendungen führen.
44.
Dafür spricht entscheidend, daß das Hauptvorbringen als Ursache für den geltend gemachten
Schaden die Abschaffung der Zoll- und Steuergrenzen aufgrund der Einheitlichen Akte ansieht.
45.
Die Klagegründe zur Stützung des — auf die verschuldensunabhängige Haftung der Gemeinschaft
gestützten — Hauptvorbringens beruhen somit auf dem Wegfall der Zoll- und Steuergrenzen, der zum
Wegfall des innergemeinschaftlichen Tätigkeitsbereichs der Zollspediteure geführt hat. Dieser
Kausalzusammenhang ist umstritten. Er wird sowohl von der Klägerin in ihrer Klageschrift ausdrücklich
geltend gemacht als auch von der Kommission anerkannt und vom Rat in der fünften
Begründungserwägung der Verordnung Nr. 3904/92 festgestellt, der zufolge die Beseitigung der
Zollförmlichkeiten an den innergemeinschaftlichen Grenzen der innergemeinschaftlichen Tätigkeit
dieses Gewerbes ein jähes Ende bereitet.
46.
Die Abschaffung der Zoll- und Steuergrenzen folgt unmittelbar aus Artikel 13 der Einheitlichen Akte,
nunmehr Artikel 7a EG-Vertrag, in dem es heißt: „Der Binnenmarkt umfaßt einen Raum ohne
Binnengrenzen.“ Sie ist daher eine unmittelbare und notwendige Folge dieser Bestimmung. Der durch
die Abschaffung der Zoll- und Steuergrenzen bewirkte Schaden hat daher seine unmittelbare und
entscheidende Ursache in Artikel 13 der Einheitlichen Akte. Die gemeinschaftlichen oder staatlichen
Maßnahmen zur Durchführung der einheitlichen Akte, durch die die Zoll- und Steuergrenzen
abgeschafft wurden, stellen hingegen keine selbständige Ursache des behaupteten Schadens dar.
47.
Das auf eine verschuldensunabhängige Haftung der Gemeinschaft gestützte Vorbringen ist folglich
darauf gerichtet, deren Haftung für einen Schaden geltend zu machen, der auf die Einheitliche Akte,
einen Rechtsakt des primären Gemeinschaftsrechts, zurückgeht. Diese Akte ist somit weder eine
Handlung der Gemeinschaftsorgane noch eine Handlung der Bediensteten der Gemeinschaft in
Ausübung ihrer Amtstätigkeit, so daß sie keine außervertragliche, verschuldensunabhängige Haftung
der Gemeinschaft begründen kann.
48.
Das auf die verschuldensunabhängige Haftung der Gemeinschaft gestützte Hauptvorbringen ist
daher unzulässig.
Vorbringen der Parteien
49.
Das auf die Verschuldenshaftung gestützte Hilfsvorbringen der Klägerin geht dahin, die Beklagten
hätten bei der Anwendung der Einheitlichen Akte sowie bei der
Prüfung der Maßnahmen, die wegen der Auswirkungen dieser Akte oder zur Kontrolle einiger ihrer
Folgen getroffen wurden, höherrangige, den einzelnen schützende Rechtsnormen in hinreichend
qualifizierter Weise verletzt. Die Ausgleichsmaßnahmen der Gemeinschaft nach der Verordnung Nr.
3904/92 seien unzureichend.
50.
Bei den von den Beklagten mißachteten höherrangigen, den einzelnen schützenden Rechtsnormen
handele es sich um die Grundsätze des Schutzes wohlerworbener Rechte und des
Vertrauensschutzes.
51.
Der Berufszweig der Zollspediteure sei gemeinschaftsrechtlich in der Verordnung (EWG) Nr.
3632/85 des Rates vom 12. Dezember 1985 zur Festlegung der Voraussetzungen, unter denen eine
Person eine Zollanmeldung abgeben kann (ABl. L 350, S. 1), als solcher anerkannt worden. Diese
wohlerworbenen Rechte seien nicht unmittelbar durch das Primärrecht der Gemeinschaft, sondern
durch Vorschriften des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts zur Änderung u. a. der Förmlichkeiten für
die Mehrwertsteueranmeldung beeinträchtigt worden, die zur Folge gehabt hätten, daß die berufliche
Tätigkeit des Zollspediteurs im innergemeinschaftlichen Handelsverkehr faktisch weggefallen sei.
52.
Im vorliegenden Fall gebe es drei Verstöße gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes. Erstens
sei das Grundrecht der Klägerin auf Ausübung ihres Berufes verletzt worden. Zweitens sei der
Grundsatz durch das Fehlen von Übergangsmaßnahmen verletzt worden, die es dem Berufszweig der
Zollspediteure erlaubt hätten, sich auf die Errichtung des Binnenmarktes ab 1. Januar 1993
vorzubereiten und umzustellen. Diese Unterlassung wiege besonders schwer, weil der Berufszweig
gesetzlich verpflichtet gewesen sei, seine Tätigkeit bis zu diesem Zeitpunkt uneingeschränkt
fortzusetzen. Drittens hätten die Gemeinschaftsorgane es unter Mißachtung der berechtigten
Erwartungen der Betroffenen unterlassen,geeignete Maßnahmen zum Ersatz des dem Berufszweig
entstandenen besonderen Schadens zu treffen. Es habe nämlich keine Anhaltspunkte dafür gegeben,
daß die Gemeinschaftsorgane beim Erlaß der für die Vollendung des Binnenmarktes erforderlichen
Maßnahmen keine spezifischen Entschädigungs- und flankierenden Maßnahmen treffen würden.
53.
Die Beklagten halten den zweiten Klagegrund für unbegründet.
Würdigung durch das Gericht
54.
Nach ständiger Rechtsprechung setzt die Haftung der Gemeinschaft die Rechtswidrigkeit des dem
Organ vorgeworfenen Verhaltens, das Vorliegen eines Schadens und das Bestehen eines
ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem Verhalten und dem geltend gemachten Schaden voraus
(Urteile des Gerichtshofes vom 29. September 1982 in der Rechtssache 26/81, Oleifici
Mediterranei/EWG, Slg. 1982, 3057, Randnr. 16, und des Gerichts vom 13. Dezember 1995 in den
verbundenen Rechtssachen T-481/93 und T-484/93, Exporteurs in Levende Varkens u. a./Kommission,
Slg. 1995, II-2941, Randnr. 80, vom 11. Juli 1996 in der Rechtssache T-175/94, International
Procurement Services/Kommission, Slg. 1996, II-729, Randnr. 44, vom 16. Oktober 1996 in der
Rechtssache T-336/94, Efisol/Kommission, Slg. 1996, II-1343, Randnr. 30, sowie vom 11. Juli 1997 in
der Rechtssache T-267/94, Oleifici Italiani/Kommission, Slg. 1997, II-1239, Randnr. 20).
55.
Im vorliegenden Fall fehlt es unter zwei Gesichtspunkten am rechtswidrigen Verhalten.
56.
Zum einen können Unterlassungen der Gemeinschaftsorgane die Haftung der Gemeinschaft nur
dann begründen, wenn die Organe gegen eine Rechtspflicht zum Handeln verstoßen haben, die sich
aus einer Gemeinschaftsvorschrift ergibt (Urteil des Gerichtshofes vom 15. September 1994 in der
Rechtssache C-146/91, KYDEP/Rat und Kommission, Slg. 1994, I-4199, Randnr. 58, und Urteil Oleifici
Italiani/Kommission, zitiert in Randnr. 54, Randnr. 21).
57.
Somit stellt sich die Frage, auf welcher Rechtsgrundlage und inwieweit die Gemeinschaft zum
Handeln, d. h. zur Entschädigung der Klägerin verpflichtet sein sollte. Eine solche Verpflichtung ergibt
sich weder aus der Einheitlichen Akte selbst noch aus irgendeiner anderen ausdrücklichen
Bestimmung des geschriebenen Gemeinschaftsrechts. Dahinstehen kann im vorliegenden Fall auch,
ob es einen allgemeinen, im Wege der Klage nach Artikel 215 Absatz 2 EG-Vertrag zu erzwingenden
Rechtsgrundsatz gibt, daß die Gemeinschaft denjenigen zu entschädigen hat, gegen den eine
enteignende Maßnahme oder eine Maßnahme ergangen ist, durch die seine Freiheit, von seinem
Eigentum Gebrauch zu machen, eingeschränkt wird. Eine solche Entschädigungspflicht ist nämlich nur
im Hinblick auf enteignende Maßnahmen der Gemeinschaftsorgane selbst vorstellbar; die
Gemeinschaft kann keine Pflicht zur Entschädigung für Handlungen treffen, die ihr nicht zuzurechnen
sind. Wie bereits ausgeführt, ist der Wegfall des Berufszweigs des innergemeinschaftlichen
Zollspediteurs ein Ergebnis der Einheitlichen Akte, eines von den Mitgliedstaaten ausgehandelten
und gebilligten völkerrechtlichen Vertrages. Die Voraussetzungen einer Haftung der Gemeinschaft
sind daher nicht erfüllt. Allerdings mag sich eine Entschädigungspflicht gegebenenfalls aus dem
innerstaatlichen Recht des Mitgliedstaats ergeben, in dessen Hoheitsgebiet der
innergemeinschaftliche Zollagent oder -spediteur seine Tätigkeit ausgeübt hat.
58.
Selbst wenn zum anderen im vorliegenden Fall gegen eine gesetzliche Pflicht zum Handeln
verstoßen worden wäre, wäre dieser Verstoß unter den gegebenen Umständen gewiß nicht geeignet,
die Haftung der Gemeinschaft auszulösen.
59.
Betrifft der vorgeworfene Rechtsverstoß eine generelle Rechtsnorm, so haftet die Gemeinschaft nur
bei Verletzung einer höherrangigen, den einzelnen schützenden Rechtsnorm. Wenn das Organ die
Handlung in Ausübung eines weiten Ermessens erlassen hat, setzt die Haftung der Gemeinschaft
weiter voraus, daß eine qualifizierte, nämlich eine offenkundige und schwerwiegende Verletzung
vorliegt
(vgl. z. B. Urteile des Gerichtshofes vom 2. Dezember 1971 in der Rechtssache 5/71,
Schöppenstedt/Rat, Slg. 1971, 975, Randnr. 11, vom 25. Mai 1978 in den verbundenen Rechtssachen
83/76 und 94/76, 4/77, 15/77 und 40/77, HNL u. a./Rat und Kommission, Slg. 1978, 1209, Randnr. 6,
vom 19. Mai 1992 in den verbundenen Rechtssachen C-104/89 und C-37/90, Mulder u. a./Rat und
Kommission, Slg. 1992, I-3061, Randnr. 12, und Urteile des Gerichts vom 6. Juli 1995 in der
Rechtssache T-572/93, Odigitria/Rat und Kommission, Slg. 1995, II-2025, Randnr. 34, Exporteurs in
Levende Varkens u. a./Kommission, zitiert in Randnr. 54, Randnr. 81, und Oleifici Italiani/Kommission,
zitiert in Randnr. 54, Randnr. 22).
60.
Diese Kriterien gelten auch im Fall einer rechtswidrigen Unterlassung (Urteile des Gerichtshofes
vom 8. Dezember 1987 in der Rechtssache 50/86, Grands Moulins de Paris/EWG, Slg. 1987, 4833,
Randnrn. 9 und 16, und des Gerichts vom 14. September 1995 in der Rechtssache T-571/93, Lefebvre
u. a./Kommission, Slg. 1995, II-2379, Randnr. 39).
61.
Die vorliegende Klage ist auf Ersatz eines Schadens gerichtet, der mit angeblich unzureichenden
Maßnahmen der Gemeinschaft zugunsten des Berufszweigs der Zollspediteure anläßlich der Schaffung
des Binnenmarktes in Zusammenhang steht. Sie betrifft also offensichtlich generelle Rechtsnormen,
die auf wirtschaftspolitischen Entscheidungen beruhen und bei denen den Gemeinschaftsorganen ein
weites Ermessen zukommt.
62.
Daher ist zunächst zu prüfen, ob die Beklagten eine höherrangige, den einzelnen schützende
Rechtsnorm verletzt haben, und sodann gegebenenfalls, ob diese Verletzung hinreichend qualifiziert
war.
63.
Was den Grundsatz des Schutzes wohlerworbener Rechte angeht, so harmonisiert die von der
Klägerin angeführte Verordnung Nr. 3632/85 lediglich die Voraussetzungen, unter denen eine Person
eine Zollerklärung abgeben kann. In der Verordnung heißt es zum einen, die Voraussetzungen, unter
denen eine Person diese Zollanmeldung abgeben könne, seien von einem Mitgliedstaat zum anderen
sehr verschieden, vor allem hinsichtlich der Möglichkeit, eine Zollanmeldung für fremde Rechnung
abzugeben (zweite Begründungserwägung), zum anderen, daß in bestimmten Mitgliedstaaten eine
Regelung bestehe, die die Ausübung des Berufes, Zollanmeldungen entweder in fremdem Namen
oder im eigenen Namen, aber für fremde Rechnung abzugeben, nur Personen gestatte, die bestimmte
Voraussetzungen erfüllten (sechste Begründungserwägung); die Verordnung stehe dieser Regelung
nicht entgegen, soweit diese den Zugang zu einem bestimmtem Beruf und seine Ausübung betreffe
(sechste Begründungserwägung).
64.
Die Verordnung Nr. 3632/85 regelt somit keineswegs die Tätigkeit der Zollagenten und -spediteure
gemeinschaftsrechtlich, sondern läßt nur die einschlägigen Regelungen in den einzelnen
Mitgliedstaaten bestehen. Ein etwaiges wohlerworbenes Recht beruht also nicht auf der Verordnung
Nr. 3632/85, sondern
allenfalls auf den einschlägigen Regelungen einiger Mitgliedstaaten, die es durch die Unterzeichnung
und gegebenenfalls durch die Ratifikation der Einheitlichen Akte beeinträchtigt haben. So hat die
Klägerin darauf hingewiesen, daß ihr aufgrund des französischen Zollgesetzbuchs in Frankreich die
ministerielle Erlaubnis erteilt worden sei, das — zuletzt durch französischen Erlaß vom 24. Dezember
1986 geregelte — Gewerbe des zugelassenen Zollspediteurs auszuüben.
65.
Die Verordnung Nr. 3632/85 hat demgemäß der Klägerin keinen Vorteil verschafft, der als
wohlerworbenes Recht einzustufen wäre.
66.
Zum anderen können die Wirtschaftsteilnehmer in Fällen, in denen die Gemeinschaftsbehörden
über einen weiten Ermessensspielraum verfügen, kein wohlerworbenes Recht auf Beibehaltung eines
Vorteils geltend machen, der ihnen aus der fraglichen Gemeinschaftsregelung zu einem bestimmten
Zeitpunkt erwächst (vgl. z. B. Urteile des Gerichtshofes vom 27. September 1979 in der Rechtssache
230/78, Eridania, Slg. 1979, 2749, Randnr. 22, Biovilac/EWG, zitiert in Randnr. 38, Randnr. 23, vom 21.
Mai 1987 in den verbundenen Rechtssachen 133/85, 134/85, 135/85 und 136/85, Rau, Slg. 1987,
2289, Randnr. 18, und vom 7. Mai 1991 in der Rechtssache C-69/89, Nakajima All Precision/Rat, Slg.
1991, I-2069, Randnr. 119).
67.
Folglich kann die Klägerin — unterstellt, die Verordnung Nr. 3632/85 habe tatsächlich dem
Berufszweig der Zollagenten und -spediteure einen besonderen Vorteil gewährt — gleichwohl nicht mit
Erfolg ein wohlerworbenes Recht auf Beibehaltung dieses Vorteils geltend machen, da die
Gemeinschaftsorgane berechtigt sind, die Regelungen erforderlichenfalls den Entwicklungen
anzupassen. Diese Anpassungsbefugnis der Organe liegt im vorliegenden Fall besonders klar zu Tage,
weil die Vollendung des Binnenmarktes — wie sich aus der ersten Begründungserwägung der
Verordnung Nr. 3904/92 ergibt — ein grundlegendes Ziel im Hinblick auf die Entwicklung der
Gemeinschaft darstellt.
68.
Auf den Grundsatz des Vertrauensschutzes kann sich jeder berufen, bei dem die
Gemeinschaftsverwaltung begründete Hoffnungen geweckt hat (vgl. z. B. Urteil Exporteurs in Levende
Varkens u. a./Kommission, zitiert in Randnr. 54, Randnr. 148). Dagegen kann eine Verletzung des
Grundsatzes des Vertrauensschutzes nicht geltend machen, wem die Verwaltung keine bestimmten
Zusicherungen gegeben hat (vgl. z. B. Urteil Lefebvre u. a./Kommission, zitiert in Randnr. 60, Randnr.
72).
69.
Im vorliegenden Fall hat die Klägerin keinen Anhaltspunkt vorgetragen, der belegen würde oder
auch nur dafür spräche, daß die Gemeinschaftsorgane bei ihr begründete Hoffnungen auf geeignete
Ausgleichs- und Anpassungsmaßnahmen geweckt hätten.
70.
Die Klägerin verweist lediglich in der Klageschrift auf die berechtigte Erwartung des gesamten
Berufszweigs und in der Erwiderung darauf, daß es keine
Anhaltspunkte dafür gegeben habe, daß die Gemeinschaftsorgane beim Erlaß der für die Vollendung
des Binnenmarktes erforderlichen Maßnahmen nicht die besonderen Entschädigungs- und
flankierenden Maßnahmen treffen würden. Sie kann also offensichtlich nicht nachweisen, daß die
Beklagten bei ihr begründete Hoffnungen darauf geweckt hätten, daß sie die zur Verwirklichung des
Binnenmarktes erforderlichen Maßnahmen nicht ergreifen oder Ausgleichs- oder flankierende
Maßnahmen erlassen würden.
71.
Das auf einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes gestützte Vorbringen ist
daher unbegründet.
72.
Unbegründet ist auch das Vorbringen der Klägerin, das Grundrecht auf freie Berufsausübung sei
verletzt worden, was einen Verstoß gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes begründe.
73.
Die Grundrechte gehören zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die die Gemeinschaftsgerichte zu
wahren haben. Bei der Gewährleistung dieser Rechte haben sie von den gemeinsamen
Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten auszugehen, so daß in der Gemeinschaft keine
Maßnahmen als rechtens anerkannt werden können, die mit den von den Verfassungen dieser
Staaten geschützten Grundrechten unvereinbar sind. Auch die völkerrechtlichen Verträge über den
Schutz der Menschenrechte, die die Mitgliedstaaten gschlossen haben oder denen sie beigetreten
sind, können Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind (Urteil
des Gerichtshofes vom 13. Dezember 1979 in der Rechtssache 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727, Randnr.
15, und Gutachten 2/94 des Gerichtshofes vom 28. März 1996, Slg. 1996, I-1759, Randnr. 33).
74.
Das Recht der freien Berufsausübung gehört zu den allgemeinen Grundsätzen des
Gemeinschaftsrechts. Dieser Grundsatz kann jedoch keine uneingeschränkte Geltung beanspruchen,
sondern muß im Hinblick auf seine gesellschaftliche Funktion gesehen werden. Folglich kann die freie
Berufsausübung Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem
Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den
verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der das so gewährleistete
Recht in seinem Wesensgehalt antastet (Urteile des Gerichtshofes vom 11. Juli 1989 in der
Rechtssache 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237, Randnr. 15, vom 30. Juli 1996 in der Rechtssache C-
84/95, Bosphorus, Slg. 1996, I-3953, Randnr. 21, und des Gerichts vom 15. April 1997 in der
Rechtssache T-390/94, Schröder u. a./Kommission, Slg. 1997, II-504, Randnr. 125).
75.
Im vorliegenden Fall tastet die Verwirklichung des Binnenmarktes die Existenz des Unternehmens
der Klägerin oder den Wesensgehalt ihrer freien Berufswahl nicht an. Sie beeinträchtigt ein
entsprechendes Recht nur mittelbar, nicht unmittelbar, da die Abschaffung bestimmter Zoll- und
Steuerformalitäten, die sie mit sich bringt,
sich zunächst darauf auswirkt, ob die Klägerin ihr Unternehmen betreiben kann, und nur auf diesem
Wege auch auf ihre Berufsausübung. Die Verwirklichung des Binnenmarktes ist ein Ziel, das
offensichtlich dem Gemeinwohl dient. In Anbetracht dessen bringt sie keine unbillige Einschränkung
der Ausübung des betreffenden Grundrechts mit sich.
76.
Nach alledem ist keiner der von der Klägerin angeführten höherrangigen Rechtsgrundsätze verletzt.
77.
Schließlich stellte die angebliche Untätigkeit im Zusammenhang mit dem Erlaß vonAusgleichs- und
flankierenden Maßnahmen — unterstellt, sie läge vor und wäre rechtswidrig — gleichwohl zweifelsfrei
keine schwerwiegende und offensichtliche Verletzung der fraglichen Grundsätze dar. Zum einen
haben die Beklagten nämlich bei der Durchführung des Binnenmarktes und damit bei der
Berücksichtigung der mit ihm möglicherweise verbundenen nachteiligen Auswirkungen ein weites
Ermessen, zum anderen haben sie mit der Verordnung Nr. 3904/92 vielfältige Maßnahmen getroffen.
Zudem wird in der achten Begründungserwägung dieser Verordnung eigens darauf hingewiesen, daß
es sich hierbei lediglich um ergänzende Gemeinschaftsmaßnahmen handelt, die die Bemühungen der
Mitgliedstaaten wirkungsvoll unterstützen sollen. Wie sich nämlich aus der sechsten
Begründungserwägung der Verordnung Nr. 3632/85 ergibt, hatten einige Mitgliedstaaten, darunter
Frankreich, eine besondere Regelung für den Berufszweig des Zollagenten oder -spediteurs, die das
Gemeinschaftsrecht, in diesem Fall die Verordnung Nr. 3632/85, nur bestehen ließ. Ohne daß die
Frage der Subsidiarität angesprochen werden müßte, ergibt sich hieraus klar, daß es in erster Linie
Sache der betreffenden Mitgliedstaaten ist, die durch die Annahme der Einheitlichen Akte den
angeblichen Schaden verursacht haben, gegebenenfalls Ausgleichs- oder flankierende Maßnahmen zu
treffen. Im Licht der Rolle, die die Mitgliedstaaten hier gespielt haben, ist die Gemeinschaft in
ausreichendem Umfang tätig geworden, selbst wenn sie zum Handeln verpflichtet war.
78.
Das auf die Verschuldenshaftung gegründete Hilfsvorbringen ist folglich unbegründet. Aufgrund all
dessen ist die Klage insgesamt abzuweisen.
Kosten
79.
Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der
Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin mit ihrem Vorbringen unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem
Antrag der Kommission und des Rates die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Fünfte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.
García-Valdecasas
Azizi
Jaeger
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 29. Januar 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
J. Azizi
Verfahrenssprache: Französisch.