Urteil des EuG vom 16.09.1998
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URTEIL DES GERICHTS (Dritte erweiterte Kammer)
16. September 1998
„Wettbewerb — Remailing — Nichtigkeitsklage — Teilweise Zurückweisung einer Beschwerde —
Gemeinschaftsinteresse“
In der Rechtssache T-110/95
International Express Carriers Conference (IECC)
Sitz in Genf (Schweiz), Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Éric Morgan de Rivery, Paris, und Jacques
Derenne, Brüssel und Paris, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Alex Schmitt, 62, avenue
Guillaume, Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften
Díaz, Juristischer Dienst, und Rosemary Caudwell, zur Kommission abgeordnete nationale Beamtin, sodann
durch Rosemary Caudwell und Fabiola Mascardi, zur Kommission abgeordnete nationale Beamtin, als
Bevollmächtigte im Beistand von Nicholas Forwood, QC, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la
Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg,
Beklagte,
unterstützt durch
Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland
Solicitor's Department, und in der mündlichen Verhandlung außerdem durch Nicholas Green, QC, als
Bevollmächtigte, Zustellungsanschrift: Britische Botschaft, 14, boulevard Roosevelt, Luxemburg,
La Poste
Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Aloyse May, 31, Grand-rue, Luxemburg,
und
Post Office
der mündlichen Verhandlung außerdem die Barrister Stuart Isaacs und Sarah Moore, Zustellungsanschrift:
Kanzlei der Rechtsanwälte Loesch und Wolter, 11, rue Goethe, Luxemburg,
Streithelfer,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 17. Februar 1995, mit der diese endgültig
denjenigen Teil der Beschwerde der Klägerin vom 13. Juli 1988 zurückgewiesen hat, der sich gegen eine im
Oktober 1987 von verschiedenen öffentlichen Postbetreibern geschlossene Preisfestsetzungsvereinbarung
richtete,
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ
DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Dritte erweiterte Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten B. Vesterdorf sowie des Richters C. P. Briët, der Richterin P. Lindh und der
Richter A. Potocki und J. D. Cooke,
Kanzler: J. Palacio González, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 13. Mai 1997,
folgendes
Urteil
Sachverhalt
1.
Die International Express Carriers Conference (IECC) ist eine Organisation zur Vertretung der
Interessen von Unternehmen, die Expreßdienstleistungen erbringen. Ihre Mitglieder bieten u. a. als
„Remailing“ bezeichnete Dienstleistungen an, bei denen Post aus einem Land A in das Gebiet eines
Landes B befördert wird, um dort bei dem inländischen öffentlichen Postbetreiber eingeliefert und
schließlich von diesem innerhalb seines eigenen Gebietes oder in ein Land A oder C weitergeleitet zu
werden.
2.
Üblicherweise wird zwischen drei Kategorien des Remailings unterschieden:
— dem „ABC-Remailing“, bei dem die Post aus einem Land A von Privatunternehmen in das
Postsystem eines Landes B befördert und eingeführt wird, um über das herkömmliche internationale
Postsystem in ein Land C weitergeleitet zu werden, in dem der Endadressat der Post ansässig ist;
— dem „ABB-Remailing“, bei dem die Post aus einem Land A von Privatunternehmen in das
Postsystem eines Landes B befördert und eingeführt wird, um an den Endadressaten der Post
weitergeleitet zu werden, der in diesem Land B ansässig ist;
— dem „ABA-Remailing“, bei dem die Post aus einem Land A von Privatunternehmen in das
Postsystem eines Landes B befördert und eingeführt wird, um über das herkömmliche internationale
Postsystem in das Land A zurückbefördert zu werden, in dem der Endadressat der Post ansässig ist.
3.
Diese drei Formen des Remailings sind um das sogenannte „nichtmaterielle Remailing“ zu ergänzen.
Bei dieser Form des Remailings werden Informationen aus einem Land A elektronisch in ein Land B
befördert, wo sie unverändert oder nach Umwandlung auf Papier ausgedruckt und anschließend in
das Postsystem des Landes B oder eines Landes C befördert und eingeführt werden, um über das
herkömmliche internationale Postsystem in ein Land A, B oder C weitergleitet zu werden, in dem der
Endadressat der Post ansässig ist.
4.
Der Weltpostvertrag, der am 10. Juli 1964 im Rahmen der Organisation der Vereinten Nationen
geschlossen wurde und dem alle Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft beigetreten sind,
bildet den Rahmen für die
Beziehungen zwischen den Postverwaltungen der ganzen Welt. In diesem Rahmen wurde die
Europäische Konferenz der Post- und Fernmeldeverwaltungen (CEPT) gegründet, der alle in der
Beschwerde der Klägerin genannten europäischen Postverwaltungen angehören.
5.
In den Postsystemen verursachen die Verteilung der „eingehenden“ Post und deren Zustellung an
die Endadressaten den öffentlichen Postbetreibern erhebliche Kosten. Deshalb führten die Mitglieder
des Weltpostvereins 1969 ein System fester Ausgleichssätze je nach Postart, die sogenannten
„Endvergütungen“, ein und schafften so ein seit der Gründung des Weltpostvereins geltendes Prinzip
ab, wonach jeder öffentliche Postbetreiber die Kosten der Verteilung und Zustellung der eingehenden
Post übernahm, ohne sie den öffentlichen Postbetreibern der Herkunftsländer der Post in Rechnung
zu stellen. Der wirtschaftliche Wert der Zustelleistung der verschiedenen Postverwaltungen, die
Kostenstruktur dieser Verwaltungen und die den Kunden berechneten Gebühren konnten erheblich
schwanken. Der Unterschied zwischen den Preisen für den Versand nationaler und internationaler
Post in den verschiedenen Mitgliedstaaten und die Höhe der „Endvergütungen“ im Verhältnis zu
diesen verschiedenen auf der nationalen Ebene geltenden Preisen waren entscheidende Faktoren bei
der Entstehung des Phänomens des Remailings. Denn die Remailing-Betreiber versuchen u. a., aus
diesen Preisunterschieden Vorteil zu ziehen, indem sie Handelsunternehmen anbieten, ihre Post zu
denjenigen öffentlichen Postbetreibern zu befördern, die für einen bestimmten Zielort das beste
Preis-Leistungs-Verhältnis anbieten.
6.
Artikel 23 des Weltpostvertrags von 1984, der zu Artikel 25 des Weltpostvertrags von 1989 wurde,
bestimmt:
„1. Kein Land ist verpflichtet, Briefsendungen zu befördern oder den Empfängern auszuliefern, die in
seinem Gebiet ansässige Absender in einem fremden Land einliefern oder einliefern lassen, um aus
den dort angewendeten niedrigeren Gebühren Vorteil zu ziehen. Das gilt auch für Sendungen, die in
großer Zahl eingeliefert werden, selbst dann, wenn nicht die Absicht besteht, die niedrigeren
Gebühren auszunutzen.
2. § 1 gilt ohne Unterschied sowohl für Sendungen, die in dem Land, in dem der Absender wohnt,
vorbereitet und anschließend über die Grenze gebracht werden, als auch für Sendungen, die in einem
fremden Land versandfertig hergestellt worden sind.
3. Die betreffende Verwaltung kann die Sendungen an den Einlieferungsort zurücksenden oder sie
mit ihren Inlandsgebühren belegen. Wenn sich der Absender weigert, diese Gebühren zu zahlen, kann
sie über die Sendungen nach ihrer inneren Gesetzgebung verfügen.
4. Kein Land ist verpflichtet, Briefsendungen zu übernehmen, zu befördern oder den Empfängern
auszuliefern, die irgendwelche Absender in einem anderen
Land als demjenigen, in dem sie ansässig sind, in großer Zahl eingeliefert haben oder haben
einliefern lassen. Die betreffenden Verwaltungen haben das Recht, solche Sendungen an den
Einlieferungsort zurückzusenden oder sie den Absendern ohne Erstattung der Gebühr
zurückzugeben.“
7.
Am 13. Juli 1988 reichte die IECC gemäß Artikel 3 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6.
Februar 1962, der Ersten Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (ABl.
1962, Nr. 13, S. 204; im folgenden: Verordnung Nr. 17), eine Beschwerde bei der Kommission ein. Die
Beschwerdeführerin behauptete im wesentlichen, daß erstens einige öffentliche Postbetreiber der
Europäischen Gemeinschaft und aus Drittländern im Oktober 1987 in Bern eine
Preisfestsetzungsvereinbarung bezüglich der Endvergütungen (im folgenden: CEPT-Übereinkunft)
getroffen hätten und daß zweitens einige öffentliche Postbetreiber versuchten, eine Vereinbarung
über Marktaufteilung durchzuführen, indem sie unter Berufung auf Artikel 23 des Weltpostvertrags die
Zustellung der Post verweigerten, die ein Kunde bei einem anderen öffentlichen Postbetreiber als
demjenigen des Landes, in dem er ansässig sei, aufgegeben habe.
8.
In dem die CEPT-Übereinkunft betreffenden Teil ihrer Beschwerde führte die IECC im einzelnen aus,
daß im April 1987 zahlreiche öffentliche Postbetreiber der Gemeinschaft während einer Sitzung im
Vereinigten Königreich die Möglichkeit einer gemeinsamen Politik zur Bekämpfung der Konkurrenz
durch Remaildienste anbietende Privatunternehmen geprüft hätten. Eine im Rahmen der CEPT
eingerichtete Arbeitsgruppe habe später im wesentlichen eine Erhöhung der Endvergütungen, die
Annahme eines gemeinsamen Verhaltenskodexes sowie eine Verbesserung der den Kunden
gegenüber erbrachten Dienstleistungen vorgeschlagen. Im Oktober 1987 habe diese Arbeitsgruppe
dementsprechend eine neue Vereinbarung über die Endvergütungen, nämlich die CEPT-Übereinkunft,
beschlossen, die einen neuen festen Satz vorgesehen habe, der in Wirklichkeit über dem früheren
Satz gelegen habe.
9.
Unstreitig unterzeichneten am 17. Januar 1995 vierzehn öffentliche Postbetreiber, darunter zwölf
aus der Europäischen Gemeinschaft, eine vorläufige Vereinbarung über die Endvergütungen, die die
CEPT-Übereinkunft von 1987 ersetzen sollte. Diese sogenannte „REIMS-Vereinbarung“ (System der
Vergütung für die Zustellung grenzüberschreitender Postsendungen durch öffentliche Postbetreiber
mit Universaldienstverpflichtung) sieht im wesentlichen ein System vor, in dessen Rahmen die
Bestimmungspostverwaltung der Herkunftspostverwaltung einen festen Prozentsatz ihres Inlandstarifs
für alle bei ihr eingehenden Sendungen berechnet. Eine endgültige Fassung dieser Vereinbarung
wurde am 13. Dezember 1995 unterzeichnet und am 19. Januar 1996 bei der Kommission angemeldet
(ABl. 1996, C 42, S. 7).
10.
Die in der Beschwerde der Klägerin genannten öffentlichen Postbetreiber reichten ihre Antworten
auf die Fragen der Kommission im November 1988 ein. Von Juni 1989 bis Februar 1991 fand ein
umfangreicher Briefwechsel zwischen der IECC auf der einen und verschiedenen Bediensteten der
Generaldirektion Wettbewerb (GD IV) sowie den Büros der Kommissionsmitglieder Bangemann und Sir
Leon Brittan auf der anderen Seite statt.
11.
Am 18. April 1991 teilte die Kommission der IECC mit, sie habe „beschlossen ..., ein Verfahren
gemäß der Verordnung Nr. 17 ... auf der Grundlage der Artikel 85 Absatz 1 und 86 EG-Vertrag
[einzuleiten]“.
12.
Am 7. April 1993 teilte sie der IECC mit, daß sie am 5. April 1993 eine Mitteilung der
Beschwerdepunkte beschlossen habe, die den betroffenen öffentlichen Postbetreibern zugesandt
werden müsse.
13.
Am 26. Juli 1994 forderte die IECC die Kommission nach Artikel 175 des Vertrages auf, ihr gemäß
Artikel 6 der Verordnung Nr. 99/63 der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel
19 Absätze (1) und (2) der Verordnung Nr. 17 des Rates (ABl. 1963, Nr. 127, S. 2268; im folgenden:
Verordnung Nr. 99/63) ein Schreiben zu senden, falls sie den Erlaß eines Verbotes gegenüber den
öffentlichen Postbetreibern nicht für erforderlich halte.
14.
Am 23. September 1994 sandte die Kommission der IECC ein Schreiben, in dem sie ihre Absicht
erklärte, den Teil der Beschwerde zurückzuweisen, in dem es um die Anwendung von Artikel 85 des
Vertrages auf die CEPT-Übereinkunft ging, und die IECC aufforderte, gemäß Artikel 6 der Verordnung
Nr. 99/63 ihre Bemerkungen mitzuteilen.
15.
Mit Schreiben vom 23. November 1994 teilte die IECC der Kommission ihre Bemerkungen zu diesem
Schreiben mit und forderte sie zugleich auf, Stellung zu ihrer Beschwerde zu nehmen.
16.
Am 15. Februar 1995 erhob die IECC eine im Register unter dem Aktenzeichen T-28/95 eingetragene
Untätigkeitsklage, da sie der Auffassung war, daß die Kommission nicht gemäß Artikel 175 des
Vertrages Stellung genommen habe. Zwei Tage später, am 17. Februar 1995, übermittelte die
Kommission der IECC diestreitige endgültige Entscheidung über die Zurückweisung der Beschwerde,
soweit diese die Anwendung von Artikel 85 des Vertrages auf die CEPT-Übereinkunft betraf (im
folgenden: Entscheidung vom 17. Februar 1995).
17.
In ihrer Entscheidung vom 17. Februar 1995 führt die Kommission aus:
„5. ... Unser Haupteinwand gegen das in der CEPT-Übereinkunft von 1987 festgelegte
Endvergütungssystem war, daß es nicht auf den Kosten der
Postverwaltungen für die Behandlung eingehender internationaler Post beruhte ... Daher wurde in der
Mitteilung der Beschwerdepunkte hervorgehoben, daß die von den Postverwaltungen für die
Behandlung eingehender internationaler Post erhobenen Gebühren auf ihren Kosten beruhen sollten.
6. Die Kommission hat eingeräumt, daß die genaue Berechnung dieser Kosten schwierig sein
könnte, und hat erklärt, daß die Inlandsposttarife als adäquater Hinweis auf diese Kosten angesehen
werden könnten ...
8. Die Kommission wurde über die Fortschritte im Hinblick auf das vorgeschlagene neue .System der
Vergütung für die Zustellung grenzüberschreitender Postsendungen durch öffentliche Postbetreiber
mit Universaldienstverpflichtung' (REIMS-System) auf dem laufenden gehalten. Am 17. Januar 1995
unterzeichneten vierzehn öffentliche Postbetreiber ... den Entwurf einer Vereinbarung über die
Endvergütungen, die am 1. Januar 1996 in Kraft treten sollte. Nach den von der International Post
Corporation informell erteilten Auskünften sieht der kürzlich unterzeichnete Entwurf ein System vor, in
dessen Rahmen der öffentliche Postbetreiber, bei dem die Post eingeht, dem öffentlichen
Postbetreiber, der die Post verschickt, einen festen Prozentsatz seines Inlandstarifs für alle
eingehenden Sendungen berechnet.
9. Die Kommission stellt somit fest, daß die öffentlichen Postbetreiber aktiv auf ein neues
Gebührensystem hinarbeiten, und vertritt in diesem Stadium die Auffassung, daß sich die Parteien
bemühen, den in Ihrer Beschwerde gegen das alte System geteilten Bedenken der Kommission im
Hinblick auf das Wettbewerbsrecht Rechnung zu tragen. Die Fortsetzung des Verfahrens zur
Feststellung einer Zuwiderhandlung im Hinblick auf das bald nicht mehr geltende CEPT-System von
1987 würde nach Ansicht der Kommission kaum zu einem günstigeren Ergebnis für Ihre Kunden
führen. Vielmehr hätte ein Verbot wahrscheinlich nur die Verzögerung, wenn nicht sogar die
Unterbrechung der gegenwärtig stattfindenden weitreichenden Reform und Umstrukturierung des
Endvergütungssystems zum Ergebnis, obwohl das abgeänderte System in naher Zukunft in Kraft
gesetzt werden sollte. Im Licht des ... Urteils ... in der Rechtssache Automec II meint die Kommission,
daß es nicht im Gemeinschaftsinteresse läge, wenn sie ihre begrenzten Möglichkeiten dazu verwenden
würde, im gegenwärtigen Stadium über den die Endvergütungen betreffenden Aspekt Ihrer
Beschwerde durch eine Verbotsentscheidung zu befinden.
...
12. Das REIMS-System scheint jedoch zumindest für eine Übergangszeit Alternativen zu den früheren
beschränkenden Klauseln, die die Kommission für bedenklich hielt, zu bieten. Insbesondere
gewährleistet das REIMS-System trotz eventueller Unzulänglichkeiten eine Verbindung zwischen den
Endvergütungen und der Struktur der Inlandstarife ...
13. Die Kommission wird das zukünftige REIMS-System und seine Durchführung selbstverständlich
eingehend im Hinblick auf die Wettbewerbsregeln untersuchen. Sie wird insbesondere das Problem
des Gemeinschaftsinteresses sowohl hinsichtlich des Inhalts der Reformen als auch hinsichtlich der
Geschwindigkeit ihrer Einführung prüfen ...“
18.
Am 6. April 1995 übersandte die Kommission der Klägerin eine Entscheidung über die
Zurückweisung des zweiten Teils der Beschwerde, soweit dieser das Anhalten von ABA-
Remailsendungen betraf. Um diese Entscheidung geht es in der Rechtssache T-133/95.
19.
Am 14. August 1995 erließ die Kommission eine Entscheidung über die Anwendung der
Wettbewerbsregeln auf die Benutzung von Artikel 23 des Weltpostvertrags für das Anhalten von ABC-
Remailsendungen. Um diese Entscheidung geht es in der Rechtssache T-204/95.
Verfahren
20.
Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 28. April 1995 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen ist,
die vorliegende Klage erhoben.
21.
Mit Beschlüssen vom 6. Februar 1996 hat der Präsident der Dritten erweiterten Kammer des
Gerichts das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland, das Post Office und La Poste als
Streithelfer zur Unterstützung der Anträge der Kommission zugelassen.
22.
Auf Bericht des Berichterstatters hat das Gericht (Dritte erweiterte Kammer) die mündliche
Verhandlung eröffnet. Im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen hat es einige Verfahrensbeteiligte
aufgefordert, Unterlagen vorzulegen und schriftlich oder in der mündlichen Verhandlung Fragen zu
beantworten. Diesen Aufforderungen ist nachgekommen worden.
23.
Mit Beschluß des Präsidenten der Dritten erweiterten Kammer des Gerichts vom 12. März 1997 sind
die Rechtssachen T-28/95, T-110/95, T-133/95 und T-204/95, die von derselben Klägerin anhängig
gemacht worden sind und ihrem Gegenstand nach zusammenhängen, gemäß Artikel 50 der
Verfahrensordnung zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung verbunden worden.
24.
Die Verfahrensbeteiligten haben in der Sitzung vom 13. Mai 1997 mündlich verhandelt und Fragen
des Gerichts beantwortet.
25.
Am 26. September 1997 hat die Klägerin die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gemäß
Artikel 62 der Verfahrensordnung beantragt. Die Kommission, das Post Office und La Poste haben auf
Anfrage des Gerichts mitgeteilt, daß ihrer Ansicht nach kein Anlaß für eine Wiedereröffnung der
mündlichen Verhandlung bestehe. Am 26. Februar 1998 hat die Klägerin erneut die Wiedereröffnung
der
mündlichen Verhandlung beantragt. Das Gericht ist der Auffassung, daß im Hinblick auf die von der
Klägerin vorgelegten Unterlagen kein Anlaß besteht, ihren Anträgen stattzugeben. Denn die neuen
Gründe, auf die die Klägerin ihre Anträge stützt, enthalten entweder keine für den Ausgang des
Rechtsstreits entscheidenden Gesichtspunkte oder belegen nur das Vorliegen tatsächlicher
Umstände, die dem Erlaß der angefochtenen Entscheidungen offenkundig nachgefolgt sind und
daher deren Wirksamkeit nicht berühren können.
Anträge der Verfahrensbeteiligten
26.
Die Klägerin beantragt,
— die Entscheidung vom 17. Februar 1995 für nichtig zu erklären;
— alle weiteren Maßnahmen anzuordnen, die das Gericht für geeignet hält, damit die Kommission
Artikel 176 des Vertrages nachkommt;
— der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
27.
In ihrer Stellungnahme zu den Streithilfeschriftsätzen beantragt die Klägerin außerdem,
— den Streithilfeschriftsatz des Post Office für unzulässig zu erklären;
— den Streithelfern die Kosten der Stellungnahme zu den Beitritten aufzuerlegen;
— die Vorlage des Entwurfes der REIMS-Vereinbarung anzuordnen.
28.
Die Kommission beantragt,
— die Klage abzuweisen;
— der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
29.
Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland und das Post Office beantragen
Klageabweisung.
30.
La Poste beantragt,
— die Klage abzuweisen;
— der Klägerin die Kosten ihres Beitritts aufzuerlegen.
Zulässigkeit des Streithilfeschriftsatzes des Post Office
31.
Die Klägerin ist der Auffassung, der Streithilfeschriftsatz des Post Office entspreche nicht Artikel
116 § 4 Buchstabe a der Verfahrensordnung des Gerichts, da er nicht angebe, zu wessen
Unterstützung er eingereicht worden sei; er sei daher für unzulässig zu erklären.
32.
Gemäß Artikel 37 Absatz 3 der EG-Satzung des Gerichtshofes und Artikel 116 § 4 Buchstabe a der
Verfahrensordnung des Gerichts können mit den in einem Streithilfeschriftsatz gestellten Anträgen
nur die Anträge einer Hauptpartei unterstützt werden. Aus dem Streithilfeschriftsatz des Post Office
geht hervor, daß mit dem Beitritt die Anträge der Kommission unterstützt werden sollten, auch wenn
förmliche Anträge in diesem Sinne fehlten. Die Klägerin konnte daher keine ernsthaften Zweifel
hinsichtlich der Bedeutung oder des Zweckes des Streithilfeschriftsatzes haben. Außerdem enthielt
der Streithilfeantrag des Post Office gemäß Artikel 115 § 2 Buchstabe e der Verfahrensordnung die
Anträge, zu deren Unterstützung das Post Office die Zulassung beantragte, und in Nummer 1 des
Tenors des bereits genannten Beschlusses vom 6. Februar 1996 ist der Beitritt des Post Office „zur
Unterstützung der Anträge der Beklagten“ zugelassen worden. Dieser Antragspunkt ist daher
abzuweisen.
Zulässigkeit des Antrags, der Kommission den Erlaß der geeigneten Maßnahmen
aufzugeben, damit sie den Verpflichtungen aus Artikel 176 des Vertrages nachkommt
33.
Nach ständiger Rechtsprechung ist es nicht Sache des Gemeinschaftsrichters, den
Gemeinschaftsorganen Anordnungen zu erteilen oder sich im Rahmen der von ihm ausgeübten
Rechtmäßigkeitskontrolle an ihre Stelle zu setzen. Es obliegt gemäß Artikel 176 des Vertrages dem
betroffenen Organ, die Maßnahmen zu ergreifen, die sich aus einem auf eine Nichtigkeitsklage hin
ergangenen Urteil ergeben.
34.
Dieser Antragspunkt ist daher unzulässig.
Begründetheit
35.
Die IECC stützt ihre Nichtigkeitsklage auf sechs Klagegründe: erstens auf einen Verstoß gegen
Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages, zweitens auf einen Verstoß gegen Artikel 4 Absatz 1 der
Verordnung Nr. 17 und Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages, drittens auf einen Rechtsfehler und einen
offensichtlichen Fehler bei der Tatsachenwürdigung, viertens auf einen Ermessensmißbrauch,
fünftens auf einen Verstoß gegen Artikel 190 des Vertrages und schließlich sechstens auf einen
Verstoß gegen bestimmte allgemeine Rechtsgrundsätze.
36.
Zunächst ist der dritte Klagegrund zu prüfen.
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
37.
Im ersten Teil dieses Klagegrundes vertritt die Klägerin die Auffassung, die Kommission sei nicht
mehr berechtigt gewesen, die Zurückweisung der Beschwerde auf das Fehlen eines
„Gemeinschaftsinteresses“ zu stützen, da diese abschließend geprüft worden sei und die Kommission
eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 des Vertrages festgestellt habe (Schlußanträge des zum
Generalanwalt bestellten Richters Edward zum Urteil des Gerichts vom 18. September 1992 in der
Rechtssache T-24/90, Automec/Kommission, Slg. 1992, II-2223, Nr. 105; im folgenden: Urteil Automec
II). Die Kommission könne nämlich nur in zwei Fällen beschließen, eine Angelegenheit nicht eingehend
zu untersuchen: Entweder sei sie der Auffassung, daß kein Verstoß gegen die Artikel 85 und 86 des
Vertrages vorliege, oder sie meine auf der Grundlage einer vorläufigen Prüfung, daß die betreffende
Angelegenheit in Ermangelung eines Gemeinschaftsinteresses keine bevorzugte Behandlung verdiene
(Urteil des Gerichts vom 24. Januar 1995 in der Rechtssache T-114/92, BEMIM/Kommission, Slg. 1995,
II-147). Nach diesen Vorstadien des Verfahrens könne sich die Kommission nicht mehr auf den Begriff
des Gemeinschaftsinteresses berufen.
38.
In einem zweiten Teil wirft die Klägerin der Kommission vor, sie habe einen Rechtsfehler und einen
offensichtlichen Fehler bei der Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses begangen. Im vorliegenden
Fall bestehe nämlich wegen der Bedeutung der behaupteten Zuwiderhandlung für das Funktionieren
des Gemeinsamen Marktes, der Wahrscheinlichkeit des Nachweises ihres Vorliegens und des Umfangs
der notwendigen Ermittlungsmaßnahmen ein Gemeinschaftsinteresse an der Fortführung der
Untersuchung (Urteil Automec II, Randnr. 86). Außerdem gebe es keine Alternativen zum Erlaß eines
Verbotes durch die Kommission, da ein gerichtliches Vorgehen auf nationaler Ebene wegen des
internationalen Charakters der CEPT-Übereinkunft ungeeignet sei. Unter diesen Umständen stelle die
Zurückweisung einer Beschwerde eine Rechtsverweigerung dar. Schließlich habe die Kommission in
der an die öffentlichen Postbetreiber gerichteten Mitteilung der Beschwerdepunkte erklärt, daß „die
Gefahr einer Wiederaufnahme der von dem Unternehmen beendeten Praxis tatsächlich besteht, so
daß eine Klarstellung der Rechtslage geboten ist“. Aufgrund dieser Feststellung hätte die Kommission
eine Entscheidung erlassen müssen, in der eine Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht
festgestellt werde, zumal diese Zuwiderhandlung noch nicht beendet worden sei.
39.
In einem dritten Teil wirft die Klägerin der Kommission vor, sie habe einen Rechtsfehler und einen
offensichtlichen Fehler bei der Tatsachenwürdigungbegangen, indem sie die Beschwerde unter
Hinweis auf den Entwurf der REIMS-Vereinbarung zurückgewiesen habe.
40.
Zunächst habe die Kommission dadurch einen Rechtsfehler begangen, daß sie ein Verbot der
CEPT-Übereinkunft wegen der Umsetzung eines
Vereinbarungsentwurfs abgelehnt habe, der diese Übereinkunft habe ersetzen sollen. Außerdem
habe sie dadurch einen offensichtlichen Fehler bei der Tatsachenwürdigung begangen, daß sie
erklärt habe, ein Verbot der CEPT-Übereinkunft werde „nur die Verzögerung, wenn nicht sogar die
Unterbrechung der gegenwärtig stattfindenden weitreichenden Reform und Umstrukturierung des
Endvergütungssystems“ zur Folge haben, obwohl aus den Akten hervorgehe, daß die öffentlichen
Postbetreiber sich nur auf Druck der Kommission zur Reform des CEPT-Systems bereit erklärt hätten.
Ein Verbot hätte die öffentlichen Postbetreiber also dazu gezwungen, sofort ein neues System zu
beschließen.
41.
Ferner habe die Kommission den Entwurf der REIMS-Vereinbarung falsch beurteilt, da die
Vereinbarung zum Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidung noch nicht ihre
endgültige Fassung erhalten habe und noch nicht von den betroffenen Parteien unterzeichnet worden
sei und da die Presse über die Absicht einiger Parteien berichtet habe, sie nicht zu unterzeichnen.
Dadurch habe die Kommission einen offensichtlichen Fehler bei der Tatsachenwürdigung begangen
(in diesem Sinne Urteil des Gerichts vom 18. Mai 1994 in der Rechtssache T-37/92, BEUC und
NCC/Kommission, Slg. 1994, II-285, Randnr. 59), da sie nicht nachgewiesen habe, daß der Entwurf der
REIMS-Vereinbarung der festgestellten Zuwiderhandlung zwangsläufig ein Ende setze.
42.
Schließlich sehe die REIMS-Vereinbarung einen zu langen Übergangszeitraum vor und enthalte
diskriminierende Aspekte. Im übrigen behalte sie einige rechtswidrige Bestimmungen der CEPT-
Übereinkunft bei, ohne jedoch die in der Beschwerde aufgeworfenen Probleme zu lösen (Urteil BEUC
und NCC/Kommission, Randnr. 54).
43.
Die Kommission entgegnet auf den ersten Teil, daß sie nach dem Urteil des Gerichts vom 24. Januar
1995 in der Rechtssache T-5/93 (Tremblay u. a./Kommission, Slg. 1995, II-185) selbst dann nicht zum
Erlaß eines Verbotes verpflichtet sein könne, wenn sie festgestellt habe, daß ein Verhalten gegen die
Wettbewerbsregeln verstoße.
44.
Zum zweiten Teil vertritt sie die Auffassung, die in Randnummer 86 des Urteils Automec II
aufgeführte Kriterienliste sei nicht abschließend und sie könne den klar erkennbaren Wunsch der
öffentlichen Postbetreiber, sich am REIMS-System zu orientieren, berücksichtigen.
45.
Schließlich habe sie keinerlei Beurteilungs- oder Rechtsfehler bei der Beurteilung der REIMS-
Vereinbarung begangen.
Würdigung durch das Gericht
46.
Nach ständiger Rechtsprechung verleiht Artikel 3 der Verordnung Nr. 17 demjenigen, der einen
Antrag nach diesem Artikel stellt, keinen Anspruch auf eine Entscheidung der Kommission im Sinne
des Artikels 189 des Vertrages über das
Vorliegen eines Verstoßes gegen Artikel 85 und/oder Artikel 86 des Vertrages (vgl. insbesondere
Urteil BEMIM/Kommission, Randnr. 62). Außerdem ist die Kommission berechtigt, eine Beschwerde
zurückzuweisen, wenn sie feststellt, daß in der Sache kein ausreichendes Gemeinschaftsinteresse
besteht, das die Fortführung der Untersuchung rechtfertigen könnte (Urteil BEMIM/Kommission,
Randnr. 80).
47.
Weist die Kommission eine Beschwerde mangels Gemeinschaftsinteresses zurück, so ist die
Rechtmäßigkeitskontrolle des Gerichts auf die Feststellung gerichtet, ob die streitige Entscheidung
nicht auf unzutreffenden Tatsachen beruht und weder einen Rechtsfehler noch einen offensichtlichen
Beurteilungsfehler oder einen Ermessensmißbrauch aufweist (Urteil Automec II, Randnr. 80).
48.
Im vorliegenden Fall macht die Klägerin im ersten Teil ihres Klagegrundes geltend, die Kommission
habe die Beschwerde angesichts des fortgeschrittenen Stadiums der Untersuchung nicht mangels
eines ausreichenden Gemeinschaftsinteresses zurückweisen können, ohne einen Rechtsfehler zu
begehen. Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden.
49.
Eine solche Auslegung widerspräche nicht nur dem Wortlaut des Artikels 3 Absatz 1 der Verordnung
Nr. 17, wonach die Kommission eine Entscheidung über das Vorliegen der behaupteten
Zuwiderhandlung erlassen „kann“, sondern auch der ständigen Rechtsprechung (vgl. insbesondere
Urteil des Gerichtshofes vom 18. Oktober 1979 in der Rechtssache 125/78, GEMA/Kommission, Slg.
1979, 3173, Randnr. 17), der zufolge derjenige, der eine Beschwerde einreicht, keinen Anspruch auf
eine Entscheidung der Kommission im Sinne von Artikel 189 des Vertrages hat. Hierzu ist im Urteil
BEMIM/Kommission ausgeführt, daß die Kommission nicht nur vor der Untersuchung, sondern auch
nach Durchführung von Untersuchungsmaßnahmen beschließen kann, eine Beschwerde mangels
eines ausreichenden Gemeinschaftsinteresses nicht weiterzuverfolgen, wenn sie sich in diesem
Stadium des Verfahrens zu dieser Entscheidung bewogen sieht (Randnr. 81).
50.
Im zweiten Teil ihres Klagegrundes macht die Klägerin im wesentlichen geltend, die Kommission
habe gegen die Rechtsvorschriften über die Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses verstoßen.
51.
Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Gemeinschaftsinteresse an der Fortführung der
Untersuchung einer Sache besteht, muß die Kommission die Umstände des konkreten Falles sowie die
tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte berücksichtigen, die in der Beschwerde vorgebracht
werden. Sie hat insbesondere, nachdem sie mit der erforderlichen Sorgfalt die vom Beschwerdeführer
vorgetragenen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte geprüft hat, die Bedeutung der
behaupteten Zuwiderhandlung für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes, die
Wahrscheinlichkeit des Nachweises ihres Vorliegens
sowie den Umfang der notwendigen Ermittlungsmaßnahmen gegeneinander abzuwägen, um ihre
Aufgabe, die Einhaltung der Artikel 85 und 86 des Vertrages zu überwachen, bestmöglich erfüllen zu
können (Urteil Automec II, Randnr. 86).
52.
Die Kommission ist jedoch nicht verpflichtet, bei ihrer Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses nur
die vom Gericht im Urteil Automec II angeführten Gesichtspunkte gegeneinander abzuwägen. Sie kann
also bei dieser Beurteilung auch andere relevante Gesichtspunkte berücksichtigen. Denn die
Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses beruht zwangsläufig auf einer Prüfung der Umstände des
jeweiligen Falles, die unter der Kontrolle des Gerichts erfolgt.
53.
Im vorliegenden Fall geht aus der angefochtenen Entscheidung insgesamt hervor, daß die
Kommission die Beschwerde hinsichtlich des behaupteten Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages deswegen mangels Gemeinschaftsinteresses zurückgewiesen hat, weil die in der
Beschwerde genannten Unternehmen das beanstandete Verhalten in dem von ihr befürworteten
Sinne ändern mußten.
54.
In diesem Zusammenhang erinnert das Gericht daran, daß der Umfang der Verpflichtungen der
Kommission im Wettbewerbsrecht anhand des Artikels 89 Absatz 1 des Vertrages zu prüfen ist, der auf
diesem Gebiet besonderer Ausdruck der allgemeinen Überwachungsaufgabe ist, die der Kommission
durch Artikel 155 des Vertrages zugewiesen ist (Urteil des Gerichts vom 14. Juli 1994 in der
Rechtssache T-77/92, Parker Pen/Kommission, Slg. 1994, II-549, Randnr. 63).
55.
Diese der Kommission im Wettbewerbsrecht zugewiesene Überwachungsaufgabe umfaßt den
Auftrag, individuelle Zuwiderhandlungen zu ermitteln und zu ahnden; sie bringt aber auch die Pflicht
mit sich, eine allgemeine Politik zu verfolgen, die darauf gerichtet ist, die im Vertrag niedergelegten
Grundsätze auf das Wettbewerbsrecht anzuwenden und das Verhalten der Unternehmen in diesem
Sinne zu lenken (Urteil des Gerichtshofes vom 7. Juni 1983 in den Rechtssachen 100/80, 101/80,
102/80 und 103/80, Musique Diffusion Française/Kommission, Slg. 1983, 1825, Randnr. 105).
56.
Darüber hinaus ist Artikel 85 eine Ausprägung des allgemeinen, der Tätigkeit der Gemeinschaft in
Artikel 3 Buchstabe g des Vertrages gesetzten Zieles, ein System zu errichten, das den Wettbewerb
innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt (in diesem Sinne Urteil des
Gerichtshofes vom 13. Februar 1979 in der Rechtssache 85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg.
1979, 461, Randnr. 38).
57.
In Anbetracht dieses allgemeinen Zieles und der der Kommission übertragenen Aufgabe ist das
Gericht der Auffassung, daß die Kommission, sofern sie eine solche Entscheidung begründet,
beschließen kann, daß es nicht zweckmäßig ist, einer Beschwerde über Artikel 85 Absatz 1 des
Vertrages zuwiderlaufende Praktiken stattzugeben, wenn der untersuchte Sachverhalt die Annahme
zuläßt, daß das
Verhalten der betroffenen Unternehmen in einem im öffentlichen Interesse liegenden Sinne geändert
werden wird.
58.
In einer solchen Situation muß die Kommission im Rahmen ihrer Aufgabe, die ordnungsgemäße
Anwendung des Vertrages zu überwachen, entscheiden, ob es im Interesse der Gemeinschaft liegt,
die vom Verwaltungsverfahren betroffenen Unternehmen unter Berücksichtigung der gegen sie
erhobenen Vorwürfe zu einer Änderung ihres Verhaltens zu veranlassen (in diesem Sinne Urteil des
Gerichtshofes vom 8. November 1983 in den Rechtssachen 96/82 bis 102/96, 104/82, 105/82, 108/82
und 110/82, IAZ/Kommission, Slg. 1983, 3369, Randnr. 15) und von ihnen die Versicherung zu
verlangen, daß dieses Verhalten tatsächlich in dem von ihr befürworteten Sinne geändert wird,
anstatt förmlich in einer Entscheidung festzustellen, daß dieses Unternehmensverhalten gegen die
Wettbewerbsregeln des Vertrages verstößt.
59.
Folglich durfte die Kommission die Auffassung vertreten, unter den konkreten Umständen sei es
angesichts ihrer begrenzten Mittel vorzuziehen, die laufende Reform des Endvergütungssystems zu
fördern, anstatt gegen das Endvergütungssystem durch eine Entscheidung über das Verbot der
CEPT-Übereinkunft vorzugehen.
60.
Zum angeblichen Widerspruch zwischen der Mitteilung der Beschwerdepunkte und der
Entscheidung vom 17. Februar 1995 hinsichtlich der Gefahr eines Rückfalls der öffentlichen
Postbetreiber genügt die Feststellung, daß sich die von der Klägerin wiedergegebene Äußerung der
Kommission (siehe oben, Randnr. 38) auf die von den öffentlichen Postbetreibern auf der Grundlage
des Artikels 23 des Weltpostvertrags entwickelten Praktiken des Anhaltens von Postsendungen
bezog, um die es in den Rechtssachen T-133/95 und T-204/95 geht. Dieses Vorbringen ist also in der
vorliegenden Rechtssache unerheblich.
61.
Da die Kommission beschlossen hat, die betroffenen Unternehmen zur Änderung des
beanstandeten Verhaltens in dem von ihr in der Mitteilung der Beschwerdepunkte befürworteten
Sinne zu veranlassen, kann sich die Klägerin nicht darauf berufen, daß es zum Erlaß eines Verbotes
keine nationale gerichtliche Alternative gebe, denn die Kommission hat durch ihr im Einklang mit ihrer
Politik im Postsektor stehendes Vorgehen im vorliegenden Fall auch den Beschwerdepunkten und
späteren Schreiben der Klägerin in bezug auf das alte Tarifsystem entsprochen.
62.
Schließlich macht die Klägerin in einem dritten Teil ihres Klagegrundes geltend, die Kommission
habe einen offensichtlichen Beurteilungsfehler begangen, indem sie die Beschwerde unter Hinweis
auf die REIMS-Vereinbarung zurückgewiesen habe.
63.
Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Die Kommission hat keinen Fehler begangen, als sie
die Auffassung vertrat, der Entwurf der REIMS-Vereinbarung
biete zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung ausreichende Garantien für den globalen Erfolg
des Verhandlungsprozesses zwischen den öffentlichen Postbetreibern über die Einführung eines
Systems, das auf ihren tatsächlichen Kosten für die Behandlung der Post auf nationaler Ebene
beruhe. Trotz des — im übrigen von der Kommission anerkannten — transitorischen und
möglicherweise unvollkommenen Charakters des Entwurfes der REIMS-Vereinbarung enthielt das von
der Kommission in der angefochtenen Entscheidung angeführte Dokument bereits eine detaillierte
Beschreibung des neuen Systems, das auf den nationalen Posttarifen beruhte und am 1. Januar 1996
eingeführt werden sollte. Dieses Dokument zeigte, daß sich der Verhandlungsprozeß zwischen allen
öffentlichen Postbetreibern zwar in einem Zwischenstadium befand, aber sicher war. In diesem
Zusammenhang ist hervorzuheben, daß die Kommission niemals erklärt hat, die Existenz des
Entwurfes der REIMS-Vereinbarung habe die von der Klägerin behaupteten wettbewerbswidrigen
Aspekte der CEPT-Übereinkunft ipso facto beseitigt.
64.
Im übrigen können die Argumente der Klägerin, nach denen die vorläufige REIMS-Vereinbarung
einen zu langen Übergangszeitraum vorsieht und diskriminierende Aspekte enthält, nicht die
Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung berühren. Das Gericht kann nämlich nicht sämtliche
Bestimmungen der vorläufigen REIMS-Vereinbarung in der später bei der Kommission angemeldeten
Fassung im Detail untersuchen, ohne der Prüfung dieser Vereinbarung vorzugreifen, die die
Kommission noch im Rahmen der Anmeldung gemäß Artikel 85 Absätze 1 und 3 des Vertrages
vorzunehmen hat.
65.
Außerdem unterscheidet sich der Sachverhalt der vorliegenden Rechtssache von dem, den das
Gericht im Urteil BEUC und NCC/Kommission untersucht hat. In diesem Urteil hat das Gericht die
Entscheidung der Kommission wegen eines Fehlers bei der Tatsachenwürdigung bezüglich der
Beendigung der streitigen Zuwiderhandlung für nichtig erklärt. Die Beurteilung des Sachverhalts in
dieser Rechtssache kann daher nicht auf den vorliegenden Rechtsstreit übertragen werden. Im
übrigen ist bereits oben in Randnummer 63 festgestellt worden, daß die Kommission in der
angefochtenen Entscheidung keineswegs behauptet hat, die vorläufige REIMS-Vereinbarung habe die
CEPT-Übereinkunft ipso facto beendet.
66.
Zu dem Argument der Klägerin, die Kommission habe mit ihrer Annahme, daß der Erlaß eines
Verbotes die Verhandlungen über die vorläufige REIMS-Vereinbarung aufhalten könne, einen Fehler
begangen, ist daran zu erinnern, daß nach ständiger Rechtsprechung das Gericht im Rahmen seiner
Kontrolle der Folgerungen, die die Kommission aus dem ihr zur Beurteilung unterbreiteten Sachverhalt
zieht, nur zu prüfen hat, ob keine offensichtlichen Beurteilungsfehler vorliegen (Urteil
BEMIM/Kommission, Randnr. 72). Im Rahmen einer solchen Kontrolle kann das Gericht die Beurteilung
der genauen Tragweite der konkreten Folgerungen aus einem komplexen Sachverhalt durch die
Kommission nicht durch seine eigene Beurteilung ersetzen (Urteil des Gerichtshofes vom 18. März
1975 in der Rechtssache 78/74, Deuka, Slg. 1975, 421, Randnrn. 9 und 10). Im vorliegenden
Fall konnte die Kommission aber vernünftigerweise annehmen, daß der Erlaß einer
Verbotsentscheidung den Prozeß des Zustandekommens der vorläufigen REIMS-Vereinbarung
wesentlich erschweren würde. Sie hat daher bei der Beurteilung der Folgen des möglichen Erlasses
einer Verbotsentscheidung keinen offensichtlichen Fehler begangen. Das Argument der Klägerin, die
öffentlichen Postbetreiber hätten ihr Verhalten bezüglich des Remailings in der Vergangenheit nur auf
Druck der Kommission angepaßt, ändert nichts daran, daß es sich um eine vernünftige Beurteilung
handelt.
67.
Auch das Argument der Klägerin, die vorläufige REIMS-Vereinbarung behalte einige verbotene
Bestimmungen der CEPT-Übereinkunft bei, obwohl die Weitergeltung einer ähnlichen
wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung in Randnummer 54 des Urteils BEUC und NCC/Kommission
beanstandet worden sei, ist zurückzuweisen. In dieser Rechtssache setzte nämlich die Weitergeltung
der betreffenden informellen Vereinbarung voraus, daß sie ohne spätere Kontrolle durch die
Kommission unverändert fortbestand, während im vorliegenden Fall der förmlich von den öffentlichen
Postbetreibern unterzeichnete Entwurf der REIMS-Vereinbarung, der den bestehenden tatsächlichen
Zustand wesentlich ändert, bei der Anmeldung von der Kommission eingehend im Hinblick auf seine
Vereinbarkeit mit Artikel 85 des Vertrages untersucht wird.
68.
Zu dem Argument, die Antworten der öffentlichen Postbetreiber auf die Mitteilung der
Beschwerdepunkte seien als eine Weigerung ihrerseits anzusehen, sich dem Willen der Kommission zu
beugen, ist festzustellen, daß von einem Unternehmen, das Adressat einer Mitteilung von
Beschwerdepunkten ist, nicht verlangt werden kann, daß es bei der Abfassung seiner Antwort auf
diese Mitteilung einzig und allein die Absicht bekundet, sich dem Standpunkt der Kommission
anzuschließen. Ein solches Unternehmen muß nämlich die rechtlichen und tatsächlichen
Ausführungen der Kommission bestreiten können. Eine gegenteilige Auslegung würde dem in Artikel 3
der Verordnung Nr. 99/63 vorgesehenen Recht zur Beantwortung der Mitteilung der
Beschwerdepunkte seinen Sinn nehmen (Urteil des Gerichts vom 12. Dezember 1991 in der
Rechtssache T-30/89, Hilti/Kommission, Slg. 1991, II-1439, Randnr. 35).
69.
Nach alledem ist der Klagegrund in vollem Umfang zurückzuweisen.
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
70.
Im Rahmen ihres ersten Klagegrundes führt die Klägerin im wesentlichen aus, die Kommission habe
in ihrer Mitteilung der Beschwerdepunkte und anschließend in der Entscheidung vom 17. Februar
1995 festgestellt, daß die CEPT-Übereinkunft
gegen Artikel 85 des Vertrages verstoße. Die Kommission habe demnach gegen diese Vorschrift
verstoßen, da sie die öffentlichen Postbetreiber nicht verurteilt und die Beschwerde zurückgewiesen
habe. Die Klägerin verweist insoweit auf das Urteil des Gerichtshofes vom 11. April 1989 in der
Rechtssache 66/86 (Ahmed Saeed Flugreisen und Silver Line Reisebüro, Slg. 1989, 803, Randnrn. 51
und 52), in dem der Gerichtshof den Gemeinschaftsorganen untersagt habe, das Zustandekommen
von Vereinbarungen oder Verhaltensweisen zu fördern, die gegen das Wettbewerbsrecht verstießen.
71.
Mit ihrem zweiten Klagegrund macht die Klägerin geltend, die Kommission habe der CEPT-
Übereinkunft faktisch eine Befreiung gewährt, ohne daß eine vorherige Anmeldung erfolgt sei und
ohne daß die materiellen Voraussetzungen des Artikels 85 Absatz 3 des Vertrages vorgelegen hätten,
indem sie die öffentlichen Postbetreiber nicht dazu verpflichtet habe, diese Übereinkunft, deren
restriktiven Charakter sie eingeräumt habe, außer Kraft zu setzen. Auch könne die Kommission in ihrer
Zurückweisungsentscheidung nicht unter Berufung auf die Kompliziertheit der Angelegenheit von
einem Vorgehen gegen die Zuwiderhandlungen der öffentlichen Postbetreiber gegen die
Wettbewerbsregeln absehen.
72.
Die Kommission macht geltend, aus Artikel 3 der Verordnung Nr. 17 gehe hervor, daß ein
Beschwerdeführer keinen Anspruch auf eine Entscheidung über die Feststellung einer
Zuwiderhandlung habe und daß sie nicht verpflichtet sei, ein Verfahren bis zum Erlaß einer
endgültigen Entscheidung fortzusetzen.
73.
Nach Auffassung des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland hätte ein eventueller
Rechtsfehler bei der Auslegung von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages keine Auswirkungen auf die
Rechtmäßigkeit der angefochtenen Entscheidung, da diese nicht auf einen möglichen Verstoß gegen
diese Vorschrift gestützt sei.
Würdigung durch das Gericht
74.
Der erste und der zweite Klagegrund beruhen im wesentlichen auf der Prämisse, daß die
Kommission in der Entscheidung vom 17. Februar 1995 dargelegt habe, daß die CEPT-Übereinkunft
gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages verstoße. Dieser Umstand allein genügt aber nicht für die
Feststellung, daß die Kommission im vorliegenden Fall dadurch einen Rechtsfehler begangen hat, daß
sie die beanstandeten Praktiken nicht in einer förmlichen Entscheidung untersagt hat. Wie aus der
Prüfung des vorherigen Klagegrundes hervorgeht, ist die Kommission auch dann, wenn sie die
Voraussetzungen für die Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages für erfüllt hält, nicht
verpflichtet, eine Entscheidung zu erlassen, in der die betreffende Zuwiderhandlung festgestellt wird,
und kann in einer Entscheidung, in der die Beschwerde zu Beginn der Untersuchung zurückgewiesen
wird, die Auffassung vertreten, daß eine Feststellung dieser Zuwiderhandlung nicht im Interesse der
Gemeinschaft liege.
75.
Im übrigen geht das Vorbringen der Klägerin fehl, die Kommission habe durch ihre
Zurückweisungsentscheidung den Abschluß oder die Beibehaltung einer
wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung im Sinne des Urteils Ahmed Saeed Flugreisen und Silver
Line Reisebüro „gefördert“. Denn die Zurückweisung einer Beschwerde, die im wesentlichen auf den
Abschluß der REIMS-Vereinbarung, die die Haupteinwände der Kommission und der
Beschwerdeführerin berücksichtigt, gestützt ist, kann nicht mit einer „Förderung“ der auf diese Weise
ersetzten CEPT-Übereinkunft durch die Kommission gleichgesetzt werden.
76.
Das Argument, die Kommission könne sich für die Zurückweisung einer Beschwerde nicht auf die
Kompliziertheit einer wettbewerbsbeschränkenden Praxis berufen, ist ebenfalls nicht stichhaltig. Die
Kommission durfte sich darauf beschränken, die Kompliziertheit der Angelegenheit in den Punkten 6
und 10 der Entscheidung vom 17. Februar 1995 als Erklärung dafür anzuführen, daß die Probleme im
Zusammenhang mit der CEPT-Übereinkunft ihrer Ansicht nach eher durch die vorläufige REIMS-
Vereinbarung als durch eine Verbotsentscheidung gelöst werden konnten. Die angefochtene
Entscheidung kann daher keinesfalls so verstanden werden, daß sie als solche auf die Kompliziertheit
der Angelegenheit gestützt ist, um die Beschwerde der Klägerin zurückzuweisen.
77.
Der erste und der zweite Klagegrund sind daher insgesamt zurückzuweisen.
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
78.
Nach Auffassung der Klägerin hat die Kommission einen Ermessensmißbrauch begangen, indem sie
von ihren Befugnissen im Wettbewerbsbereich Gebrauch gemacht habe, um politische Ziele zu
erreichen, nämlich um „ein .gutes' politisches Klima in den Beziehungen zwischen der Kommission und
den Postverwaltungen und folglich deren Mitgliedstaaten zu gewährleisten“.
79.
Sie habe die Kommission mehrfach mahnen müssen, nach Artikel 175 des Vertrages tätig zu
werden, und die Untätigkeit der Kommission habe sie dazu gezwungen, zahlreiche Schreiben an
mehrere ihrer zuständigen Beamten zu richten. Das Vorhandensein politischen Drucks werde u. a.
durch die Antwort der deutschen Postverwaltung auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte belegt, in
der es heiße: „Die Beschwerdepunkte sind gleichwohl ein Fremdkörper in diesem Klima der
Kooperation und konstruktiven Zusammenarbeit zwischen europäischen Postverwaltungen und der
Kommission ... Um den politischen Schaden in Grenzen zu halten, würden wir anregen, das Verfahren
auf absehbare Zeit nicht aktiv weiterzubetreiben.“ Die Diskrepanz zwischen verschiedenen öffentlichen
Verlautbarungen der zuständigen Beamten der Kommission, die eine strikte Anwendung der
Wettbewerbsregeln versprochen hätten, die beträchtliche Verspätung, mit der die Kommission
anschließend diese Angelegenheit behandelt
habe, und schließlich die in veröffentlichte anonyme Erklärung eines Beamten der
Kommission, nach der sich „niemand um diese Akte kümmert“, belegten ebenfalls den politischen
Druck.
80.
Auch daß die Kommission die Behandlung ihrer Beschwerde und die Herausgabe des Grünbuchs
über die Postdienste von 1992 habe koordinieren wollen, sei politisch motiviert gewesen.
81.
Schließlich lasse sich das Verhalten der Kommission in dieser Angelegenheit, das im Widerspruch zu
einer ständigen Interventionspraxis bei Preisfestsetzungsvereinbarungen stehe, nur durch den
erheblichen politischen Druck erklären, dem sie ausgesetzt gewesen sei.
82.
Die Kommission bestreitet, daß sie die Beschwerde aus politischen Gründen zurückgewiesen habe,
und entgegnet, daß die Klägerin keinen greifbaren Beweis für einen Ermessensmißbrauch geliefert
habe.
Würdigung durch das Gericht
83.
Nach ständiger Rechtsprechung ist eine Entscheidung nur dann ermessensmißbräuchlich, wenn
aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, daß sie zu anderen
als den angegebenen Zwecken getroffen wurde (Urteil des Gerichtshofes vom 12. November 1996 in
der Rechtssache C-84/94, Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755, Randnr. 69, und Urteil
Tremblay u. a./Kommission, Randnrn. 87 ff.).
84.
Weder aus dem Sachverhalt noch aus den vorgelegten Unterlagen, noch aus den Argumenten der
Klägerin geht aber hervor, daß die Kommission vom eigentlichen Zweck des Verwaltungsverfahrens,
der in ihrer Entscheidung vom 17. Februar 1995 zum Ausdruck kommt, abgerückt ist.
85.
Der relativ lange Zeitraum für den Erlaß der Zurückweisungsentscheidung vom 17. Februar 1995
und davor der Zeitraum für den Erlaß der Mitteilung der Beschwerdepunkte von 1993 rechtfertigen
sich weitgehend durch die Kompliziertheit der wirtschaftlichen Aspekte der aufgeworfenen Fragen,
durch die Anzahl der an den Verhandlungen über die vorläufige REIMS-Vereinbarung beteiligten
öffentlichen Postbetreiber, durch die gleichzeitige Herausgabe des Grünbuchs über die Postdienste
sowie durch den für die Einführung eines Ersatzsystems wie der REIMS-Vereinbarung erforderlichen
Zeitraum.
86.
Zu den verschiedenen Aufforderungen der Klägerin an die Kommission, tätig zu werden, ist
festzustellen, daß entweder die Kommission daraufhin gemäß Artikel 175 Stellung genommen oder
daß die Klägerin daraufhin keine Untätigkeitsklage erhoben hat.
87.
Die anonymen Erklärungen von angeblichen Beamten der Gemeinschaft, die in einer Zeitschrift wie
veröffentlicht wurden, sind als bloße Behauptungen und nicht als Beweise oder als die
Spur von Beweisen für das Vorliegen eines Ermessensmißbrauchs zu betrachten.
88.
Da aus der vom Gericht vorgenommenen Prüfung hervorgeht, daß die Kommission das Fehlen eines
Gemeinschaftsinteresses an der Fortsetzung ihrer Untersuchung zutreffend beurteilt hat, ist nicht
ersichtlich, daß sie das Bestreben, einenrechtlichen Rahmen auszuarbeiten, auf Kosten der
Anwendung der Wettbewerbsregeln ungebührlich begünstigt hätte. Schließlich ist darauf hinzuweisen,
daß die angefochtene Entscheidung das Grünbuch über die Postdienste nur als einen Beleg dafür
zitiert, daß die vorläufige REIMS-Vereinbarung die Einwände gegen die CEPT-Übereinkunft entkräfte,
und die Beschwerde nicht wegen der bloßen Herausgabe dieses Grünbuchs zurückweist.
89.
Nach allem ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
90.
Nach Auffassung der Klägerin war die Kommission nach fast siebenjähriger Dauer des Verfahrens,
das den Erlaß einer Mitteilung von Beschwerdepunkten umfaßte, verpflichtet, die ihr von der Klägerin
vorgelegten Punkte besonders sorgfältig und vollständig zu behandeln. Die angefochtene
Entscheidung genüge aber keineswegs diesen anspruchsvollen Kriterien. Sie lege weder dar, aus
welchen Gründen kein Gemeinschaftsinteresse am Erlaß einer Verbotsentscheidung vorliege, noch,
aus welchen Gründen die positiven Wirkungen der REIMS-Vereinbarung durch den Erlaß einer solchen
Entscheidung beeinträchtigt würden, noch, weshalb die in ihrer Beschwerde aufgeworfenen Probleme
nur unter Berufung auf die REIMS-Vereinbarung zu lösen seien. Wenn eine Entscheidung von einer
früheren Entscheidungspraxis abweiche, könne sich die Kommission außerdem nicht damit begnügen,
eine summarische Entscheidung zu erlassen, sondern müsse ihre Argumentation ausdrücklich
darlegen (Urteil des Gerichtshofes vom 17. November 1987 in der Rechtssachen 142/84 und 156/84,
BAT und Reynolds/Kommission, Slg. 1987, 4487, Randnr. 71).
91.
Im übrigen vertritt die Klägerin unter Verweisung auf Randnummer 86 des Urteils Automec II die
Auffassung, die Kommission habe ihre Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses nicht entsprechend
den in diesem Urteil genannten Kriterien begründet.
92.
Sie könne nicht als hinreichend über die Gründe für den Erlaß der Entscheidung informiert
angesehen werden, da sie nur eine Kopie der vorläufigen Zusammenfassung der REIMS-Vereinbarung
vom 4. Februar 1994, aber keine
Kopie der am 17. Januar 1995 unterzeichneten vorläufigen Vereinbarung erhalten habe.
93.
Die Kommission entgegnet, sie habe ihre Zurückweisungsentscheidung hinreichend begründet, da
diese klar erkennen lasse, daß ihr Haupteinwand gegen die CEPT-Übereinkunft darin bestehe, daß sie
nicht auf den tatsächlichen Kosten der öffentlichen Postbetreiber beruhe, und daß die REIMS-
Vereinbarung gerade einen Zusammenhang zwischen den Endvergütungen und der nationalen
Tarifstruktur herstellen wolle.
Würdigung durch das Gericht
94.
Nach ständiger Rechtsprechung soll die Begründung einer Einzelfallentscheidung es ihrem
Adressaten ermöglichen, die Gründe für die erlassene Maßnahme zu erfahren, damit er
gegebenenfalls seine Rechte geltend machen und die Begründetheit der Entscheidung prüfen kann,
und den Gemeinschaftsrichter in die Lage versetzen, seine Rechtmäßigkeitskontrolle auszuüben (vgl.
Urteile des Gerichts in der Rechtssache Tremblay u. a./Kommission, Randnr. 29, vom 12. Januar 1995
in der Rechtssache T-102/92, Viho/Kommission, Slg. 1995, II-17, Randnrn. 75 und 76, und vom 18.
September 1996 in der Rechtssache Asia Motor France u. a./Kommission, Slg. 1996, II-961, Randnrn.
103 und 104).
95.
Der genaue Umfang der Begründungspflicht hängt nach der Rechtsprechung von der Art des
betreffenden Rechtsakts und von den Umständen ab, unter denen er erlassen wurde (Urteil des
Gerichtshofes vom 14. Januar 1981 in der Rechtssache 819/79, Deutschland/Kommission, Slg. 1981,
21, Randnr. 19). Insbesondere hat das Gericht in Randnummer 85 des Urteils Automec II ausgeführt,
daß die in Artikel 190 des Vertrages vorgesehene Begründungspflicht ein wesentliches Mittel ist, um
gerichtlich kontrollieren zu können, welchen Gebrauch die Kommission vom Begriff des
„Gemeinschaftsinteresses“ macht, um bestimmte Beschwerden zurückzuweisen.
96.
Nach Auffassung des Gerichts hat die Kommission diese Begründungspflicht im vorliegenden Fall
beachtet. Die Entscheidung vom 17. Februar 1995 legt ausführlich die spezifischen Gründe für die
Zurückweisung der Beschwerde dar und nimmt dabei gerade auf den Kontext der Anglegenheit Bezug.
Sie verweist keineswegs abstrakt auf den Begriff des Gemeinschaftsinteresses, sondern macht in
Punkt 12 deutlich, daß die Beschwerde zurückzuweisen sei, weil die vorläufige REIMS-Vereinbarung den
Haupteinwand der Kommission gegen die CEPT-Übereinkunft entkräfte.
97.
Das Argument, die Kommission habe ihre Entscheidung nicht entsprechend den drei in
Randnummer 86 des Urteils Automec II genannten Kriterien begründet, ist ebenfalls zurückzuweisen.
Oben ist bei der Prüfung des dritten Klagegrundes festgestellt worden, daß die Kommission nicht
verpflichtet war, die Zweckmäßigkeit einer Zurückweisung der Beschwerde nur anhand dieser Kriterien
zu überprüfen.
Sie kann daher nicht verpflichtet sein, ihre Zurückweisungsentscheidung allein anhand dieser
Kriterien zu begründen.
98.
Darüber hinaus hat der Gerichtshof im Urteil BAT und Reynolds/Kommission (Randnrn. 23 und 24)
die Auffassung vertreten, daß das Verwaltungsverfahren den beteiligten Unternehmen u. a.
Gelegenheit biete, die beanstandeten Vereinbarungen oder Verhaltensweisen mit den
Vertragsbestimmungen in Einklang zu bringen, und daß diese Möglichkeit das Recht dieser
Unternehmen und der Kommission voraussetze, vertrauliche Verhandlungen über die Änderungen
aufzunehmen, durch die die Bedenken der Kommission zerstreut werden könnten. Die berechtigten
Interessen der Beschwerdeführer sind daher in vollem Umfang gewahrt, wenn sie über das Ergebnis
dieser Verhandlungen unterrichtet werden, das die Kommission veranlassen wird, das Verfahren über
ihre Beschwerden einzustellen, ohne daß sie jedoch einen Anspruch auf Einsicht in die Unterlagen
hätten, um die es in diesen Verhandlungen gerade gegangen ist. Die Klägerin hat jedenfalls noch die
Möglichkeit, sich zu der vorläufigen REIMS-Vereinbarung zu äußern, wenn diese im Rahmen ihrer
Anmeldung auf ihre Vereinbarkeit mit Artikel 85 Absätze 1 und 3 des Vertrages geprüft wird.
99.
Da die Kommission ihre Entscheidung ordnungsgemäß begründet hat, soweit es um die Gründe
geht, aus denen die vorläufige REIMS-Vereinbarung das fehlende Gemeinschaftsinteresse an der
Fortführung ihrer Untersuchung rechtfertigte, hat sie nach Auffassung des Gerichts auch hinreichend
dargelegt, inwiefern der Erlaß einer Verbotsentscheidung die Entschlossenheit der öffentlichen
Postbetreiber, am Prozeß der Verhandlungen über die vorläufige REIMS-Vereinbarung begleitend
teilzunehmen, geschwächt hätte.
100.
Im übrigen wird in Punkt 12 der angefochtenen Entscheidung der spekulative Charakter der
Informationen über die vorläufige REIMS-Vereinbarung, über die die Kommission verfügte, hinreichend
erläutert. Inwieweit sich die Kommission auf diese angeblich spekulativen Informationen berufen
durfte, ist bei der Untersuchung des oben zurückgewiesenen dritten Klagegrundes geprüft worden.
101.
Aus all diesen Gründen ist der fünfte Klagegrund zurückzuweisen.
Vorbringen der Verfahrensbeteiligten
102.
Die Klägerin macht in einem ersten Teil geltend, die Kommission habe gegen die Grundsätze der
Rechtssicherheit und des Schutzes des berechtigten Vertrauens verstoßen, da sie nicht dafür gesorgt
habe, daß das Wettbewerbsrecht entsprechend den von ihr geweckten Erwartungen eingehalten
werde. Die Kommission habe in der Rechtssache T-83/91, die zum Urteil des Gerichts vom 6. Oktober
1994 (Tetra Pak/Kommission, Slg. 1994, II-755) geführt habe, erklärt, „niemand dürfe
berechtigterweise erwarten, den Konsequenzen von Handlungen in der Vergangenheit dadurch zu
entgehen, daß er einfach das Verhalten für die Zukunft ändere“ (Randnr. 29 des Urteils).
103.
In einem zweiten Teil führt sie aus, daß die Kommission durch die Einstellung des Verfahrens gegen
den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen habe. Denn die Unzulänglichkeit der durchgeführten
Maßnahmen und der aleatorische Charakter der REIMS-Vereinbarung stünden in keinem Verhältnis zu
dem offenkundigen Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht durch die CEPT-Übereinkunft.
104.
In einem dritten Teil trägt sie vor, die Kommission habe gegen den Grundsatz der
Nichtdiskriminierung verstoßen, da ihre Beschwerde anders behandelt worden sei als
Angelegenheiten, die ähnliche Probleme aufgeworfen hätten.
105.
Schließlich vertritt sie in einem vierten Teil die Auffassung, die Kommission habe gegen den
Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen, da sie sie mehrfach dazu angehalten habe,
die geeigneten rechtlichen Schritte zu unternehmen.
106.
Die Kommission beschränkt sich auf den Hinweis, nach dem Urteil Tremblay u. a./Kommission habe
ein Beschwerdeführer keinen Anspruch auf eine Entscheidung über das Vorliegen einer
Zuwiderhandlung und könne daher auch kein berechtigtes Vertrauen in den Erlaß einer solchen
Entscheidung haben. Im übrigen habe sie die von der Klägerin genannten allgemeinen Grundsätze
nicht verletzt.
Würdigung durch das Gericht
107.
Was den ersten Teil des vorliegenden Klagegrundes betrifft, so kann nicht die Auffassung vertreten
werden, daß die Kommission gegen die Grundsätze der Rechtssicherheit oder des berechtigten
Vertrauens verstoßen hätte, da ein Beschwerdeführer nach der von der Kommission zitierten
Rechtsprechung keinen Anspruch auf eine Verbotsentscheidung der Kommission hat. Im übrigen geht
aus der Prüfung des dritten Klagegrundes durch das Gericht hervor, daß die Kommission die
Zurückweisung der Beschwerde beim Erlaß der Entscheidung vom 17. Februar 1995 rechtmäßig auf
den Begriff des Gemeinschaftsinteresses gestützt hat, ohne einen Beurteilungsfehler zu begehen.
108.
Die Kritik im zweiten Teil des vorliegenden Klagegrundes verweist in Wirklichkeit auf die Frage,
inwiefern die Kommission berechtigt war, sich für die Zurückweisung der Beschwerde der Klägerin auf
die vorläufige REIMS-Vereinbarung zu berufen. Diese Kritik ist daher aus den oben im Rahmen der
Prüfung des dritten Teils des dritten Klagegrundes genannten Gründen zurückzuweisen.
109.
Zum dritten Teil des vorliegenden Klagegrundes ist festzustellen, daß die Klägerin nicht
nachgewiesen hat, daß die Kommission in einer Situation wie der in Rede
stehenden entgegen ihrem in der vorliegenden Rechtssache eingenommenen Standpunkt die
betreffenden Unternehmen verurteilt hätte. Folglich hat die Klägerin den geltend gemachten Verstoß
gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung nicht dargetan.
110.
Schließlich geht aus dem Vorstehenden sowie aus der Tatsache, daß sich die Kommission
rechtmäßig auf das Fehlen eines Gemeinschaftsinteresses berufen hat, hervor, daß die Kommission
nicht gegen den Grundsatz der ordnungsgemäßen Verwaltung verstoßen hat.
111.
Aus all diesen Gründen ist der sechste Klagegrund zurückzuweisen.
Zum Antrag auf Vorlage von Unterlagen
112.
In ihrer Stellungnahme zu den Streithilfeschriftsätzen hat die Klägerin beantragt, die Vorlage des
Entwurfes der REIMS-Vereinbarung anzuordnen.
113.
Das Gericht hat im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen die Vorlage dieses Dokuments verlangt.
Diesem Verlangen ist entsprochen worden.
Kosten
114.
Gemäß Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der
Kosten zu verurteilen. Da die Klägerin mit ihrem Vorbringen unterlegen ist und die Kommission sowie
die Streithelferin La Poste beantragt haben, ihr die Kosten aufzuerlegen, hat die Klägerin die Kosten
zu tragen. Das Post Office, das keine Kostenanträge gestellt hat, hat seine eigenen Kosten zu tragen.
115.
Das Vereinigte Königreich trägt gemäß Artikel 87 § 4 der Verfahrensordnung seine eigenen Kosten.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Dritte erweiterte Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Nichtigkeitsklage wird als unbegründet abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Kommission und von La
Poste.
3. Das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland sowie das Post Office tragen
ihre eigenen Kosten.
Vesterdorf
Briët
Lindh
Potocki
Cooke
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 16. September 1998.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
B. Vesterdorf
Verfahrenssprache: Englisch.