Urteil des EuG vom 13.12.1999

EuG: kommission, klage auf nichtigerklärung, verordnung, gericht erster instanz, klagegrund, behandlung, unternehmen, hersteller, verfahrensordnung, rüge

URTEIL DES GERICHTS (Erste Kammer)
13. Dezember 1999
„Wettbewerb - Vertrieb von Kraftfahrzeugen - Prüfung von Beschwerden - Untätigkeits-, Nichtigkeits- und
Schadensersatzklage“
In den verbundenen Rechtssachen T-9/96 und T-211/96
Européenne automobile SARL,
Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Jean-Claude Fourgoux, Paris, Zustellungsanschrift: Kanzlei des
Rechtsanwalts Pierrot Schiltz, 4, rue Béatrix de Bourbon, Luxemburg,
Klägerin,
gegen
Kommission der Europäischen Gemeinschaften,
Marenco, und durch Guy Charrier, zur Kommission abgeordneter nationaler Beamter, dann durch Giuliano
Marenco und durch Loïc Guérin, zur Kommission abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte,
Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-
Kirchberg,
Beklagte,
wegen Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission vom 9. Oktober 1996, mit der eine auf Artikel 85
EG-Vertrag (jetzt Artikel 81 EG) gestützte Beschwerde der Klägerin zurückgewiesen wurde, und wegen
Schadensersatz
erläßt
DAS GERICHT ERSTER INSTANZ DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Präsidenten B. Vesterdorf sowie der Richter J. Pirrung und M. Vilaras
Kanzler: A. Mair, Verwaltungsrat
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 1999,
folgendes
Urteil
1.
Sachverhalt und Verfahren
Die Klägerin betätigt sich nach eigenen Angaben in Frankreich als Gebrauchtwagenhändlerin wie auch
als Bevollmächtigte im Sinne der Verordnung (EWG) Nr. 123/85 der Kommission vom 12. Dezember
1984 über die Anwendung von Artikel 85 Absatz 3 des Vertrages auf Gruppen von Vertriebs- und
Kundendienstvereinbarungen über Kraftfahrzeuge (ABl. L 15, S. 16; zum 1. Oktober 1995 ersetzt durch
die Verordnung [EG] Nr. 1475/95 der Kommission vom 28. Juni 1995 [ABl. L 145, S. 25]).
2.
Die Klägerin wurde am 31. Januar 1994 auf Antrag der Peugeot-Vertragshändlerin Auto Cité in
Carcassonne (Frankreich) vom Tribunal de commerce Carcassonne wegen unlauteren Wettbewerbs
mit der Begründung verurteilt, sie habe die Erfordernisse der Verordnung Nr. 123/85 für
Paralleleinfuhren von Kraftfahrzeugen aus einem anderen Mitgliedstaat nicht beachtet.
3.
Am 27. Juli 1994 reichte die Klägerin bei der Kommission gegen die Hersteller von Kraftfahrzeugen
der Marken Peugeot und Citroën (im folgenden: PSA) eine Beschwerde nach Artikel 3 Absatz 2 der
Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85
und 86 EG-Vertrag (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204) ein.
4.
Am 8. Juni 1995 hob die Cour d'appel Montpellier das Urteil des Tribunal de commerce Carcassone
vom 31. Januar 1994 auf und wies die Klage der Vertragshändlerin ab.
5.
Die Klägerin forderte die Kommission mit Schreiben vom 27. September 1995 auf, über ihre
Beschwerde zu entscheiden. Sie hat am 24. Januar 1996 beim Gericht Klage auf Feststellung der
Untätigkeit der Kommission und auf Schadensersatz erhoben (Rechtssache T-9/96).
6.
Am 28. März 1996 richtete die Kommission an die Klägerin eine Mitteilung im Sinne des Artikels 6 der
Verordnung Nr. 99/63/EWG der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel 19
Absätze 1 und 2 der Verordnung Nr. 17 des Rates (ABl. 1963, Nr. 127, S. 2268). Die Klägerin ließ der
Kommission am 26. April 1996 ihre Bemerkungen hierzu zukommen.
7.
Die Kommission wies die Beschwerde der Klägerin mit Entscheidung vom 9. Oktober 1996 zurück.
8.
Die Klägerin hat mit Klageschrift, die am 17. Dezember 1996 bei der Kanzlei des Gerichts
eingegangen ist, Klage auf Nichtigerklärung dieser Entscheidung und auf Schadensersatz erhoben
(Rechtssache T-211/96).
9.
Die Rechtssachen sind mit Beschluß des Präsidenten der Ersten Kammer des Gerichts vom 21.
Januar 1999 zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung und Entscheidung verbunden worden.
10.
Die Parteien haben in der öffentlichen Sitzung am 2. März 1999 mündlich verhandelt und Fragen
des Gerichts beantwortet.
Anträge der Parteien
11.
Die Klägerin beantragt in der Rechtssache T-9/96,
- die Untätigkeit der Kommission festzustellen;
- die Kommission zu verurteilen, ihr 200 000 EUR Schadensersatz zu zahlen;
- der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
12.
Die Kommission beantragt,
- die Klage als unzulässig abzuweisen;
- hilfsweise, die Klage als gegenstandslos geworden und zudem als unbegründet abzuweisen;
- der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
13.
Die Klägerin beantragt in der Rechtssache T-211/96,
- die Entscheidung vom 9. Oktober 1996 für nichtig zu erklären;
- die außervertragliche Haftung der Kommission festzustellen und ihr 246 000 EUR zuzusprechen;
- der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
14.
Die Kommission beantragt,
- die Klage hinsichtlich ihrer Haftung als unzulässig abzuweisen;
- die Klage im übrigen als unbegründet abzuweisen;
- der Klägerin die Kosten aufzuerlegen.
Zur Klagerücknahme in der Rechtssache T-9/96
15.
Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin hat in der mündlichen Verhandlung auf eine Frage des
Gerichts angekündigt, er werde in der Rechtssache T-9/96 die Anträge auf Feststellung der
Untätigkeit und Schadensersatz schriftlich zurücknehmen. Mit Schriftsatz vom 23. März 1999 hat die
Klägerin erklärt, sie sei, „sich den Dingen fügend, damit einverstanden, daß das Gericht nicht über die
Untätigkeit entscheidet (Untätigkeit, die ihr einen schweren Nachteil zugefügt hat)“.
16.
Nach Auffassung des Gerichts muß dieses Schreiben angesichts der Erklärungen des
Prozeßbevollmächtigten der Klägerin in der mündlichen Verhandlung als Rücknahme der Untätigkeits-
und der Schadensersatzklage in der Rechtssache T-9/96 verstanden werden.
Zur Begründetheit der Rechtssache T-211/96
17.
Die Klägerin hat in ihren Schriftsätzen im wesentlichen vier Klagegründe angeführt. Mit dem ersten
Klagegrund rügt sie die Verletzung wesentlicher Formvorschriften, insbesondere der
Verfahrensgarantien, mit dem zweiten Vertragsverletzung, mit dem dritten einen offensichtlichen
Beurteilungsfehler der Kommission bei Ausübung ihrer Befugnis, einstweilige Maßnahmen zu ergreifen,
und mit dem vierten einen Befugnismißbrauch.
18.
In der mündlichen Verhandlung hat die Klägerin zwei weitere Klagegründe vorgebracht, mit denen
sie geltend macht, die Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung sei bereits aufgrund des
unverhältnismäßig langen Zeitraums zwischen der Beschwerde und dieser Entscheidung
gerechtfertigt und die Entscheidung sei unzureichend begründet.
19.
Zunächst sind die beiden ersten sowie die in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten
Klagegründe zu prüfen, mit denen im wesentlichen geltend gemacht wird, die Kommission habe bei
Behandlung der Beschwerde ihre Verpflichtungen verletzt.
Zu den Klagegründen einer Verletzung der Verpflichtungen der Kommission bei Behandlung der
Beschwerde
- Vorbringen der Parteien
20.
Die Klägerin wirft der Kommission mit ihrem ersten Klagegrund vor, diese habe die Beschwerde
nicht, wie es ihre Pflicht gewesen wäre, sorgfältig und unparteiisch geprüft.
21.
Der zweite Klagegrund umfaßt vier Teile. Mit dem ersten macht die Klägerin geltend, die Kommission
habe die Beweiskraft der ihr vorgelegten Beweise offensichtlich falsch beurteilt.
22.
Mit dem zweiten Teil des Klagegrundes macht die Klägerin geltend, die Kommission habe das
Gemeinschaftsinteresse offensichtlich falsch beurteilt.
23.
Im dritten Teil des Klagegrundes führt die Klägerin einen offensichtlichen Fehler bei der Feststellung
des Schwerpunkts der Zuwiderhandlung und hinsichtlich der Zuständigkeit der französischen Gerichte
und Verwaltungsbehörden an.
24.
Mit dem vierten Teil ihres Klagegrundes macht die Klägerin geltend, die Kommission habe einen
offensichtlichen Fehler hinsichtlich der Begleitmaßnahmen von PSA zu dem staatlichen
Beihilfeprogramm für den Kauf von Neuwagen, der sogenannten „Balladur-Prämie“, begangen.
25.
Die Kommission trägt vor, sie dürfe und müsse sogar die ihr zur Verfügung stehenden Mittel in
erster Linie nur für die Rechtssachen einsetzen, die ein hinreichendes Gemeinschaftsinteresse
aufwiesen.
26.
Außerdem bestreitet sie die Zulässigkeit des Klagegrundes einer Verletzung der
Verfahrensgarantien und der wesentlichen Formvorschriften, da die Vorwürfe der Klägerin
unbegründet seien.
- Würdigung durch das Gericht
27.
Die Pflichten der Kommission bei Behandlung einer Beschwerde sind durch eine ständige
Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts festgelegt worden, die zuletzt durch das Urteil
des Gerichtshofes vom 4. März 1999 in der Rechtssache C-119/97 P (Ufex u. a./Kommission, Slg. 1999,
I-1341, Randnrn. 86 ff.) bestätigt worden ist.
28.
Nach dieser Rechtsprechung kann die Kommission bei Festlegung der Prioritäten der bei ihr
eingereichten Beschwerden nicht nur die Reihenfolge, in der die Beschwerden geprüft werden,
festlegen, sondern auch eine Beschwerde wegen mangelnden Gemeinschaftsinteresses zurückweisen
(auch Urteil des Gerichts vom 24. Januar 1995 in der Rechtssache T-5/93 Tremblay u. a./Kommission,
Slg. 1995, II-185, Randnr. 60).
29.
Das Ermessen der Kommission ist hierbei jedoch nicht unbegrenzt. So unterliegt die Kommission
einer Begründungspflicht, wenn sie die weitere Prüfung einer Beschwerde ablehnt, wobei die
Begründung so genau und detailliert sein muß, daß das Gericht die Ausübung der Ermessensbefugnis
der Kommission zur Festlegung der Prioritäten wirksam überprüfen kann (Urteil Ufex u. a./Kommission,
Randnrn. 89 bis 95). Diese Überprüfung darf nicht dazu führen, daß das Gericht seine Beurteilung des
Gemeinschaftsinteresses an die Stelle der Beurteilung durch die Kommission setzt, sondern
beschränkt sich auf die Prüfung, ob die streitige Entscheidung nicht auf unzutreffenden
Tatsachenfeststellungen beruht und weder einen Rechtsfehler noch einen offensichtlichen
Beurteilungsfehler oder einen Ermessensmißbrauch aufweist (Urteil des Gerichts vom 18. September
1992 in der Rechtssache T-24/90, Automec/Kommission, Slg. 1992, II-2223, Randnr. 80).
30.
Die beiden ersten Klagegründe sowie die in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten
Klagegründe sind im Licht dieser Grundsätze zu prüfen.
31.
Was die Zulässigkeit des ersten Klagegrundes anbelangt, so kann das Gericht die Verletzung der
wesentlichen Formvorschriften und insbesondere der Verfahrensgarantien von Amts wegen prüfen
(Urteil des Gerichtshofes vom 7. Mai 1991 in der Rechtssache C-291/89, Interhotel/Kommission, Slg.
1991, I-2257, Randnr. 14). Dies gilt auch für den in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten
Klagegrund, die angefochtene Entscheidung sei unzulänglich begründet.
32.
Im vorliegenden Fall läßt die Entscheidung vom 9. Oktober 1996 klar erkennen, aufgrund welcher
rechtlichen und tatsächlichen Überlegungen die Kommission das Vorliegen eines ausreichenden
Gemeinschaftsinteresses verneint hat. Die Rüge der Verletzung der Begründungspflicht ist daher
unbegründet.
33.
Zu der im Rahmen des ersten Klagegrundes vorgebrachten Rüge, die Kommission habe gegen ihre
Pflicht verstoßen, die Beschwerde mit der erforderlichen Achtsamkeit zu prüfen, ergibt sich aus der
Begründung der angefochtenen Entscheidung in Verbindung mit der Mitteilung an die Klägerin im
Sinne des Artikels 6 der Verordnung Nr. 99/63 vom 25. Juli 1963, daß die Kommission das Vorbringen
der Klägerin aufmerksam geprüft hat. Wie sich außerdem aus den Akten ergibt, hat die Kommission in
Übereinstimmung mit den Erfordernissen einer unparteiischen Untersuchung im vorliegenden Fall
auch die auf ihre Aufforderung hin abgegebene Stellungnahme von PSA zu den Vorwürfen in der
Beschwerde geprüft. Diese Rüge ist daher unbegründet.
34.
Was die in der mündlichen Verhandlung vorgebrachte Dauer des Verfahrens vor der Kommission
betreffenden Klagegrund anbelangt, so können nach Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung neue
Klagegründe im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es sei denn, daß sie auf
rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage
getreten sind. Der vorliegende Klagegrund, der nicht als Erweiterung eines bereits vorher -
unmittelbar oder mittelbar - in der Klageschrift geltend gemachten Klagegrundes angesehen werden
kann, weil er mit diesem eng verbunden ist, ist daher für unzulässig zu erklären. Dieser Klagegrund ist
unter den Umständen des vorliegenden Falles auch nicht von Amts wegen zu prüfen.
35.
Beim ersten Teil des zweiten Klagegrundes, der Verkennung der Beweiskraft des klägerischen
Vorbringens, sind die verschiedenen in der Beschwerde aufgestellten Behauptungen getrennt zu
prüfen.
36.
Was die gerichtlichen Verfahren gegen die Klägerin und andere Unternehmen angeht, die
gleichartige Tätigkeit ausüben, so ist nicht schon damit, daß ein umfangreicher Rechtsstreit über die
Tätigkeit der Bevollmächtigten und der unabhängigen Wiederverkäufer vorliegt, nachgewiesen, daß
diese Verfahren auf eine Absprache zwischen PSA und ihren Vertragshändlern zurückgehen.
37.
Was die Weigerung, an die Klägerin und an andere gleichartige Tätigkeiten ausübende
Unternehmen zu verkaufen, sowie die Maßnahmen betrifft, die die ausländischen Vertragshändler von
PSA vom Verkauf an solche Unternehmen abhalten sollen, reichen die von der Klägerin vorgebrachten
Beweismittel allein nicht aus, um ein Kartell nachzuweisen, das die Tätigkeit der bevollmächtigten
Vermittler im Sinne des Artikels 3 Nummer 11 der Verordnung Nr. 123/85 behindern soll. Diese
Beweismittel waren auch Gegenstand einer plausiblen Erklärung von PSA, sie wende sich nur gegen
die Tätigkeit der unabhängigenWiederverkäufer, was nicht das Wettbewerbsrecht verletzt. Die
Kommission konnte im vorliegenden Fall nicht davon ausgehen, daß ein Verstoß gegen die
gemeinsamen Wettbewerbsregeln dargetan war (Urteil des Gerichts vom 21. Januar 1999 in den
Rechtssachen T-185/96, T-189/96 und T-190/96 (Riviera auto service u. a./Kommission, Slg. 1999, II-93,
Randnr. 47).
38.
Außerdem ist die angefochtene Entscheidung auch nicht offensichtlich fehlerhaft, soweit es um die
Tätigkeit der Klägerin geht. Die Kommission stützt die Zurückweisung der Beschwerde nicht auf die
Feststellung, die Klägerin übe nicht nur eine Vermittlertätigkeit aus, sondern sei auch als
unabhängiger Wiederverkäufer tätig. Sie hält lediglich beides für möglich.
39.
Zu der Rüge in bezug auf die Darstellung der französischen Regelung über das Baujahr durch PSA
und ihre Vertragshändler reichen die in der Beschwerde aufgeführten Schwierigkeiten nicht aus, um
insoweit ein unzulässiges Kartell nachzuweisen.
40.
Soweit schließlich die Vielzahl der bei der Kommission eingereichten Beschwerden gegen PSA
geltend gemacht wird, hat die Klägerin nichts Konkretes dafür vorgebracht, daß die Kommission die im
Rahmen dieser Beschwerden beigebrachten Beweise nicht beachtet oder bei deren Prüfung ihre
Verpflichtungen verletzt hat. Die Kommission, der zahlreiche Beschwerden nicht nur gegen PSA,
sondern auch gegen andere Hersteller vorlagen, hat in diesem Sektor vielmehr durch ihre
Entscheidung 98/273/EG vom 28. Januar 1998 in einem Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag (Sache
IV/35.733 - VW) (ABl. L 124, S. 60; im folgenden: Rechtssache VW) interveniert.
41.
Die Rüge eines offensichtlichen Fehlers bei der Beurteilung der Beweiskraft der von der Klägerin
vorgelegten Beweise ist daher unbegründet.
42.
Zum zweiten Teil des zweiten Klagegrundes, einem offensichtlichen Fehler bei der Beurteilung des
Gemeinschaftsinteresses, hat das Gericht vor allem festzustellen, ob sich aus der Entscheidung
ergibt, daß die Kommission das Ausmaß der möglicherweise von der behaupteten Zuwiderhandlung
ausgehenden Beeinträchtigung des Funktionierens des Gemeinsamen Marktes, die
Wahrscheinlichkeit, die Zuwiderhandlung nachweisen zu können, und den Umfang der Ermittlungen
gegeneinander abgewägt hat, die notwendig sind, um ihre Aufgabe der Überwachung der Einhaltung
der Artikel 85 und 86 (jetzt Artikel 81 EG und 82 EG) bestmöglich zu erfüllen, (Urteile
Automec/Kommission, Randnr. 86, Tremblay u. a./Kommission, Randnr. 62, und Riviera auto services u.
a./Kommission, Randnr. 46).
43.
Bei der Entscheidung über die Priorität der Behandlung der ihr vorliegenden Beschwerden kann die
Kommission nicht von vornherein davon ausgehen, daß bestimmte Situationen, die ihrer Aufgabe aus
dem Vertrag unterliegen, von ihrem Tätigkeitsbereich ausgeschlossen sind. Sie hat sich in jedem Fall
ein Urteil über dieSchwere der geltend gemachten Beeinträchtigungen des Wettbewerbs zu bilden
(Urteil Ufex u. a./Kommission, Randnrn. 92 und 93).
44.
Der angefochtenen Entscheidung läßt sich nicht entnehmen, daß die Kommission verkannt habe,
daß das PSA im vorliegenden Fall vorgeworfene Verhalten, durch das Paralleleinfuhren von
Fahrzeugen durch bevollmächtigte Vermittler verhindert werden sollten, wenn es nachgewiesen wäre,
einen besonders schweren Wettbewerbsverstoß darstellen würde.
45.
Um im vorliegenden Fall feststellen zu können, ob ein Verstoß gegen die Wettbewerbsvorschriften
vorliegt, hätte sich die Kommission noch zusätzliche Beweise beschaffen müssen. Dies hätte
wahrscheinlich Ermittlungen nach den Artikeln 11 ff. der Verordnung Nr. 17 und vor allem
Nachprüfungen nach Artikel 14 Absatz 3 dieser Verordnung erforderlich gemacht. Die Einschätzung
der Kommission, daß die Untersuchungen, deren es im vorliegenden Fall zur Stellungnahme zu den
von der Klägerin geltend gemachten Verstößen bedurft hätte, umfangreichen Ermittlungen notwendig
machen würden, ist also nicht offensichtlich fehlerhaft.
46.
Außerdem darf die Kommission bei der Beurteilung des Gemeinschaftsinteresses im Rahmen der
Ermittlungen zu einer Beschwerde nicht nur die Schwere des vorgeworfenen Verstoßes und den
Umfang der für dessen Feststellung erforderlichen Untersuchungen, auch die Notwendigkeit
berücksichtigen, die Rechtslage in bezug auf das mit der Beschwerde gerügte Verhalten zu klären und
die sich aus dem Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft ergebenden Rechte und Pflichten der
verschiedenen von diesem Verhalten betroffenen Wirtschaftsteilnehmer zu bestimmen.
47.
Im vorliegenden Fall wird in der angefochtenen Entscheidung zu Recht hervorgehoben, daß die
jeweiligen Rechte und Pflichten der bevollmächtigten Vermittler, der Automobilhersteller und der
Händler durch die Gruppenfreistellungsverordnungen Nr. 123/85 und Nr. 1475/95 durch die Mitteilung
91/C 329/06 der Kommission vom 4. Dezember 1991 - Klarstellung der Tätigkeit von
Kraftfahrzeugvermittlern - (ABl. C 329, S. 20) sowie durch die dazu ergangene Rechtsprechung des
Gerichts und des Gerichtshofes in den Urteilen vom 22. April 1993 in der Rechtssache T-9/92
(Peugeot/Kommission, Slg. 1993, II-493) und vom 16. Juni 1994 in der Rechtssache C-322/93 P
(Peugeot/Kommission, Slg. 1994, S. I-2727) festgelegt und näher dargelegt worden sind. Die
Kommission konnte daher ohne offensichtlichen Irrtum davon ausgehen, daß die nationalen Gerichte
und Behörden die in der Beschwerde der Klägerin vorgeworfenen Verstöße behandeln und die sich
aus dem Gemeinschaftsrecht ergebenden Rechte der Klägerin gewährleisten konnten.
48.
Daraus, daß die Kommission in der Rechtssache VW gegen ein Verhalten vorging, das auf den
ersten Blick dem von der Klägerin PSA und ihrem Verteilernetzvorgeworfenen Verhalten entspricht und
einen anderen Hersteller betraf, kann man nicht schließen, sie habe in der vorliegenden Rechtssache
das Gemeinschaftsinteresse rechtsfehlerhaft beurteilt.
49.
Hat die Kommission in einer Situation zu entscheiden, in der zahlreiche Indizien auf ein
wettbewerbswidriges Verhalten mehrerer großer Unternehmen desselben Wirtschaftszweiges
hindeuten, darf sie ihre Bemühungen auf eines der betroffenen Unternehmen konzentrieren und die
möglicherweise durch das Verhalten der anderen Unternehmen beeinträchtigten
Wirtschaftsteilnehmer an die nationalen Gerichte verweisen. Andernfalls müßte die Kommission ihre
Mittel auf verschiedene umfangreiche Untersuchungen aufteilen und könnte daher möglicherweise
keine davon ordnungsgemäß durchführen. Der Vorteil, der sich aus dem Wert einer Entscheidung
gegenüber einem der das Recht verletzenden Unternehmen als Exempel für die Rechtsordnung der
Gemeinschaft hat, ginge damit vor allem für die Wirtschaftsteilnehmer verloren, die das Verhalten der
anderen Gesellschaften beeinträchtigt. Zudem ist die Kommission gegenüber der Firma Peugeot
bereits durch ihre Entscheidung 92/154/EWG vom 4. Dezember 1991 betreffend ein Verfahren nach
Artikel 85 EWG-Vertrag (IV/33.157 - Eco System/Peugeot) (ABl. L 66, S. 1) tätig geworden, die
Gegenstand der Urteile Peugeot/Kommission vom 22. April 1993 und vom 16. Juni 1994 war.
50.
Die Kommission hat dadurch, daß sie es vorgezogen hat, statt der Beschwerden gegen PSA und
damit auch derjenigen der Klägerin die Beschwerden zu prüfen, die zu ihrer Entscheidung in der Sache
VW geführt haben, weder ihre Verpflichtung verletzt, in jedem Fall die Schwere der angeblichen
Zuwiderhandlung und das Gemeinschaftsinteresse für ihr Eingreifen zu prüfen, noch einen
Beurteilungsfehler begangen.
51.
Was den dritten Teil des Klagegrundes, einen offensichtlichen Fehler bei der Feststellung des
Schwerpunkts der Zuwiderhandlung betrifft, so kann die angefochtene Entscheidung zunächst nicht
in dem Sinn verstanden werden, daß die Kommission allein deshalb ein Gemeinschaftsinteresse für
ihre Intervention verneint hat, weil der Schwerpunkt des Verhaltens, das Gegenstand der Beschwerde
war, in einem einzigen Mitgliedstaat lag. Diese Tatsache stellt nur einen der Umstände dar, die die
Kommission bei ihrer Prüfung berücksichtigt hat. Zudem ist der angefochtenen Entscheidung zu
entnehmen, daß es sich dabei nur um eine entbehrliche Hilfsüberlegung handelt.
52.
Ferner hat die Kommission nach der angefochtenen Entscheidung auch nicht den
grenzüberschreitenden Charakter der betreffenden Tätigkeiten verkannt. Vielmehr ist sie zu Recht
davon ausgegangen, daß die von der vorliegenden Rechtssache betroffenen Hauptakteure, d. h. der
Hersteller, die Klägerin und die Verbraucher als deren Kunden, in Frankreich ansässig sind und die
französischen Gerichte und Verwaltungsbehörden für die Behandlung des Streits zwischen der
Klägerin einerseits und PSA und ihrem Verteilernetz andererseits zuständig sind. Die nationalen
Gerichte können vor allem sogar besser als die Kommission dieerforderliche Sachverhaltsprüfung
vornehmen, um darüber entscheiden zu können, ob die Klägerin nur die Tätigkeit eines
Bevollmächtigten oder auch die eines unabhängigen Wiederverkäufers ausübt.
53.
Die Kommission hat daher bei Feststellung des einschlägigen Sachverhalts das
Gemeinschaftsinteresse für die Behandlung der Beschwerde der Klägerin nicht offensichtlich
fehlerhaft beurteilt.
54.
Was schließlich den vierten Teil des zweiten Klagegrundes, den offensichtlichen Fehler hinsichtlich
der Maßnahmen von PSA nach Einführung der Balladur-Prämie durch die französische Regierung,
anbelangt, so kann die Tatsache, daß ein Hersteller es seinen Vertragshändlern erlaubt, zusätzliche
Ermäßigungen zu gewähren, ohne diese den Paralleleinfuhren zugute kommen zu lassen, nicht als
Verstoß gegen das Wettbewerbsrecht angesehen werden.
55.
Die ersten beiden Klagegründe und die zwei in der mündlichen Verhandlung vorgebrachten
Klagegründe sind daher zurückzuweisen.
Zum dritten Klagegrund, einem offensichtlichen Beurteilungsfehler der Kommission in bezug auf den
Erlaß einstweiliger Maßnahmen
56.
Die Beschwerde der Klägerin enthält keinen formellen Antrag auf Erlaß einstweiliger Maßnahmen.
Die Klägerin hat in ihrem Schreiben vom 27. September 1995 (zitiert in Randnummer 5) zwar
beantragt, daß die Kommission „PSA auffordert, keinen weiteren Druck mehr auf ihre italienischen
Vertragshändler auszuüben“. Dieser Antrag ist jedoch nicht ausdrücklich auf Erlaß einstweiliger
Maßnahmen gerichtet. Er kann ebensogut im Sinn eines Antrags der Klägerin auf eine endgültige
Entscheidung nach Artikel 3 der Verordnung Nr. 17 verstanden werden. Ebensowenig enthält das
Schreiben der Klägerin vom 26. April 1996, mit dem sie zu der Mitteilung der Kommission nach Artikel 6
der Verordnung Nr. 99/63 vom 25. Juli 1963 Stellung nimmt, einen Hinweis auf einen möglichen Antrag
auf einstweilige Maßnahmen. In der angefochtenen Entscheidung wird auch nicht zu einem solchen
Antrag Stellung genommen. Der Klagegrund eines offensichtlichen Fehlers in bezug auf einen
angeblichen Antrag auf Erlaß vorläufiger Maßnahmen ist daher unbegründet.
Zum vierten Klagegrund, dem Befugnismißbrauch
57.
Die Klägerin beschränkt sich in ihren Schriftsätzen darauf, Rechtsgrundsätze und Urteile zum Begriff
des Befugnismißbrauchs abstrakt aufzuführen, ohne darzulegen, worin ihrer Ansicht nach dieser
Klagegrund der Nichtigkeit im vorliegenden Fall besteht. Dieser Klagegrund erfüllt daher nicht die
Voraussetzungen des Artikels 19 der EG-Satzung des Gerichtshofes und des Artikels 44 Absatz 1
Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts. Er ist daher als unzulässig zurückzuweisen.
58.
Der Antrag auf Nichtigerklärung der angefochtenen Entscheidung ist somit unbegründet.
Vorbringen der Parteien
59.
Die Klägerin macht geltend, die Kommission habe dadurch, daß sie es abgelehnt habe, Beweis über
Akten zu erheben, die eine wettbewerbswidrige Praxis der Hersteller aufgezeigt hätten, und daß sie
diese Praktiken nicht unterbunden habe, einen Fehler begangen, der eine außervertragliche Haftung
der Gemeinschaft auslöse.
60.
Die Kommission macht geltend, die Voraussetzungen des Artikels 19 der Satzung des Gerichtshofes
und des Artikels 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts seien nicht eingehalten.
Beurteilung durch das Gericht
61.
Ein Schadensersatzantrag ist nach ständiger Rechtsprechung zurückzuweisen, wenn er mit einem
Antrag auf Nichtigkeitserklärung eng verbunden ist, der seinerseits zurückgewiesen worden ist
(Urteile des Gerichts Riviera auto service u. a./Kommission, Randnr. 90, und vom 18. Juni 1996 in der
Rechtssache T-150/94, Vela Palacios/CES, Slg. 1996 ÖD, II-877, Randnr. 51). Nach ständiger
Rechtsprechung muß die Kommission bei Behandlung einer Beschwerde nach Artikel 3 der
Verordnung Nr. 17 jedenfalls nicht darüber entscheiden, ob der geltend gemachte Verstoß vorliegt,
es sei denn, sie ist - anders als im vorliegenden Fall - zur Entscheidung über die Beschwerde
ausschließlich zuständig (z. B. Urteil Tremblay u. a./Kommission, Randnr. 59). Das im vorliegenden
Schadensersatzantrag gerügte Verhalten der Kommission kann daher keinen Fehler darstellen, für
den die Gemeinschaft haftet.
62.
Der Schadensersatzantrag ist daher zurückzuweisen, ohne daß darüber entschieden werden muß,
ob die Ausführungen der Klägerin zu Art und Umfang des Schadens und zum Kausalzusammenhang
zwischen dem der Kommission vorgeworfenen Verhalten und dem Schaden die Anforderungen des
Artikels 19 der Satzung des Gerichtshofes und des Artikels 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung
des Gerichts erfüllen.
Kosten
63.
Íach Artikel 87 § 2 Unterabsatz 1 der Verfahrensordnung des Gerichts ist die unterliegende Partei
auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Nach Artikel 87 § 5 Absatz 1 wird diejenige Partei, die
die Klage oder einen Antragzurücknimmt, auf Antrag der Gegenpartei in ihrer Rücknahmeerklärung zur
Kostentragung verurteilt. Die Kosten werden jedoch auf Antrag der Partei, die die Rücknahme erklärt,
der Gegenpartei auferlegt, wenn dies wegen des Verhaltens dieser Partei gerechtfertigt erscheint.
64.
In der Rechtssache T-9/96 hat die Klägerin ihre Untätigkeitsklage zurückgenommen, da diese sich
aufgrund einer endgültigen Entscheidung der Kommission über die Beschwerde erledigt hat. Es
erscheint daher gerechtfertigt, die Kosten nach Artikel 87 § 5 der Verfahrensordnung der Kommission
auferlegen.
65.
Da die Klägerin in der Rechtssache T-211/96 unterlegen ist, sind ihr entsprechend dem Antrag der
Kommission die Kosten aufzuerlegen.
Aus diesen Gründen
hat
DAS GERICHT (Erste Kammer)
für Recht erkannt und entschieden:
1. Die Klage in der Rechtssache T-211/96 wird abgewiesen.
2. In der Rechtssache T-211/96 trägt die Klägerin die Kosten.
3. Die Rechtssache T-9/96 wird im Register gestrichen.
4. In der Rechtssache T-9/96 trägt die Kommission die Kosten.
Vesterdorf
Pirrung
Vilaras
Verkündet in öffentlicher Sitzung in Luxemburg am 13. Dezember 1999.
Der Kanzler
Der Präsident
H. Jung
B. Vesterdorf
Verfahrenssprache: Französisch.