Urteil des BVerwG vom 02.04.2017

BVerwG: materielles recht, unparteilichkeit, rechtfertigung, beiladung, ausschluss, fahren, beteiligter, sorgfalt, prozessökonomie, unbefangenheit

Rechtsquellen:
VwGO
§ 54 Abs. 1, § 80 Abs. 7 Satz 2
ZPO
§ 42 Abs. 2, §§ 43, 44 Abs. 3
Stichworte:
Richterablehnung; Besorgnis der Befangenheit; Ablehnungsgesuch; Befangen-
heitsantrag; Rechtsverstoß; Rechtsfehler; richterliche Entscheidungsfindung;
Sachverhaltswürdigung; dienstliche Äußerung; Inhalt; Rechtfertigung; Sachan-
trag; Antragstellung; Einlassung zur Sache; tatsächlicher und rechtlicher Zu-
sammenhang; Eilverfahren; Hauptsacheverfahren.
Leitsätze:
1.
Ist ein Ablehnungsgesuch ausschließlich auf behauptete Verstöße gegen
materielles Recht bei der richterlichen Entscheidungsfindung und auf ver-
meintliches Fehlverhalten bei der Sachverhaltsbeurteilung gestützt, muss
sich die dienstliche Äußerung des wegen Besorgnis der Befangenheit ab-
gelehnten Richters nicht zu einzelnen Beanstandungen des Ablehnungs-
gesuchs verhalten, wenn eine solche Äußerung auf eine nachträgliche
Rechtfertigung seiner Entscheidung hinauslaufen würde.
2.
Ein in Kenntnis des behaupteten Ablehnungsgrundes gestellter Abände-
rungsantrag gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist ein Antrag i.S.v. § 43
ZPO, der zum Ausschluss des Ablehnungsrechts nicht nur für das Eilver-
fahren, sondern auch mit Wirkung für das Hauptsacheverfahren führt,
wenn der Ablehnungsgrund gerade aus der bisherigen Sachbehandlung
und der Entscheidung in dem Eilverfahren hergeleitet wird und die beiden
Verfahren im rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhang miteinander
stehen.
Beschluss des 9. Senats vom 23. Oktober 2007 - BVerwG 9 A 50.07,
9 VR 19.07, 9 VR 21.07
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 9 A 50.07
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BVerwG 9 VR 19.07
BVerwG 9 VR 21.07
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 23. Oktober 2007
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Vallendar und Domgörgen
sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger
beschlossen:
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Der Antrag der Klägerin auf Ablehnung des Vorsitzenden
Richters am Bundesverwaltungsgericht Dr. S. sowie der
Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. R. und Dr.
N. wegen Besorgnis der Befangenheit in den Verfahren
BVerwG 9 A 50.07, BVerwG 9 VR 19.07 und BVerwG 9
VR 21.07 wird zurückgewiesen.
G r ü n d e :
Der Antrag der Klägerin in den Verfahren BVerwG 9 A 50.07 (Klageverfahren)
sowie im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes unter den Aktenzeichen
BVerwG 9 VR 19.07 (Gegenvorstellung) und BVerwG 9 VR 21.07 (Abände-
rungsantrag) auf Ablehnung des Vorsitzenden Richters am Bundesverwal-
tungsgericht Dr. S. sowie der Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. R.
und Dr. N. wegen Besorgnis der Befangenheit hat keinen Erfolg.
1. Der Senat kann über den Ablehnungsantrag in den o.a. Verfahren aufgrund
der vorliegenden dienstlichen Äußerungen (§ 44 Abs. 3 ZPO i.V.m. § 54 Abs. 1
VwGO) der drei abgelehnten Richter vom 11. bzw. 22. Oktober 2007 entschei-
den. Darin treten die abgelehnten Richter - insoweit übereinstimmend - dem
Ablehnungsgesuch unter Bezugnahme auf ihre Ausführungen zur Sach- und
Rechtslage in dem Beschluss vom 25. Juli 2007 im Verfahren des vorläufigen
Rechtsschutzes BVerwG 9 VR 19.07 entgegen. Damit liegt eine ausreichende
Entscheidungsgrundlage vor; für die Einholung weiter gehender dienstlicher
Äußerungen der abgelehnten Richter, wie von der Klägerin gefordert, sieht der
Senat mit Blick auf die Gründe des Ablehnungsgesuchs keinen Anlass. Ein ab-
gelehnter Richter hat in seiner dienstlichen Äußerung zu den für das Ableh-
nungsgesuch entscheidungserheblichen Tatsachen Stellung zu nehmen, soweit
das für die Entscheidung über das Ablehnungsgesuch notwendig und zweck-
mäßig ist. Die Klägerin vermisst eine eingehendere Äußerung zu den „Tatsa-
chen“ ihres Ablehnungsgesuchs. Sie übersieht dabei, dass ein Ablehnungsge-
such, das - wie hier - ausschließlich auf behauptete Verstöße gegen materielles
Recht bei der richterlichen Entscheidungsfindung und auf vermeintliches Fehl-
verhalten bei der Sachverhaltsbeurteilung in einem früheren Verfahren gestützt
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ist, eine dienstliche Äußerung zu den einzelnen Beanstandungen nicht erfor-
dert. Denn eine solche Äußerung würde auf eine nachträgliche Rechtfertigung
der jeweiligen Entscheidung hinauslaufen und ist somit jedenfalls dann ver-
zichtbar, wenn sie zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts, soweit er für die
Entscheidung über das Ablehnungsgesuch erheblich ist, nichts beitragen würde
(BFH, Beschluss vom 14. August 2007 - XI S 13/07 - juris Rn. 19; BVerwG, Be-
schluss vom 8. März 2006 - BVerwG 3 B 182.05 - juris Rn. 5). Eine Überprü-
fung von gerichtlichen Entscheidungen kann nämlich gerade nicht im Wege der
Richterablehnung erreicht werden (BFH, Beschlüsse vom 12. Dezember 1997
- XI B 34/96 - BFH/NV 1998, 861 <863> und vom 10. Januar 2007 - X B 77/06 -
BFH/NV 2007, 753 <754>).
2. Dem Antrag steht bereits der Ausschlussgrund des § 43 ZPO i.V.m. § 54
Abs. 1 VwGO entgegen, soweit es nicht um behauptete nachträglich entstan-
dene Ablehnungsgründe geht (vgl. dazu unter 4.). Danach kann eine Partei ei-
nen Richter wegen Besorgnis der Befangenheit nicht mehr ablehnen, wenn sie
sich bei ihm, ohne den ihr bekannten Ablehnungsgrund geltend zu machen, in
eine Verhandlung eingelassen oder Anträge gestellt hat. Die Vorschrift be-
zweckt, eine Partei, die an der Unbefangenheit eines Richters zweifelt, dazu
anzuhalten, dies alsbald kund zu tun; dadurch soll ihr u.a. die Möglichkeit ge-
nommen werden, einen Rechtsstreit beliebig zu verzögern und bereits geleiste-
te prozessuale Arbeit nutzlos zu machen. Dem darin zum Ausdruck kommen-
den Gedanken der Rechtssicherheit und Prozessökonomie wird nur dann aus-
reichend Rechnung getragen, wenn die Präklusionswirkung sich auch auf ein
anderweitiges Verfahren bezieht, das mit dem ursprünglichen Verfahren, in wel-
chem sich die Partei trotz Kenntnis des geltend gemachten Ablehnungsgrundes
bei dem Richter auf die mündliche Verhandlung eingelassen oder Anträge ge-
stellt hat, in einem rechtlichen und tatsächlichen Zusammenhang steht (BGH,
Beschluss vom 1. Juni 2006 - V ZB 193/05 - NJW 2006, 2776 <2777>).
Hier hat die Klägerin nach dem Beschluss des Senats vom 25. Juli 2007 im
Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes BVerwG 9 VR 19.07, den die drei
abgelehnten Richter als die nach dem Geschäftsverteilungsplan des Senats in
dieser Sache für Entscheidungen außerhalb der mündlichen Verhandlung beru-
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fenen Richter (§ 10 Abs. 3 VwGO) gefasst haben, unter dem 13. August 2007
einen Abänderungsantrag gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestellt und unter
dem 24. August 2007 eine Gegenvorstellung gegen den Eilbeschluss erhoben.
Somit hat sie, obwohl sie aus der in diesem Beschluss vertretenen Rechtsauf-
fassung und Sachverhaltswürdigung der drei abgelehnten Richter zur Frage
des Vorhabenträgers und zur damit zusammenhängenden Frage der Beiladung
der DB Netz AG die Gründe für ihr Befangenheitsgesuch herleitet, einen Sach-
antrag gestellt, über den nach der Geschäftsverteilung des Senats wiederum
die drei Richter zu entscheiden hätten, gegen die sich nunmehr ihr Ablehnungs-
gesuch wegen Besorgnis der Befangenheit richtet. Ein Antrag nach § 80 Abs. 7
Satz 2 VwGO ist ein Antrag i.S.v. § 43 ZPO; ob dies auch für die Gegenvorstel-
lung gilt, kann offenbleiben (vgl. dazu - bejahend - Baumbach/Lauterbach/
Albers/Hartmann, ZPO, 65. Aufl. 2007, § 43 Rn. 8; a.A. Zöller/Vollkommer,
ZPO, 26. Aufl. 2007, § 43 ZPO Rn. 5). Dies führt zum Ausschluss des Ableh-
nungsrechts nicht nur für die weiteren Entscheidungen in dem Eilverfahren,
sondern auch mit Wirkung für das Hauptsacheverfahren, weil die Klägerin den
Ablehnungsgrund gerade aus der bisherigen Sachbehandlung und der Ent-
scheidung der abgelehnten Richter in dem Eilverfahren herleitet und das
Hauptsacheverfahren notwendig im rechtlichen und tatsächlichen Zusammen-
hang mit dem Eilverfahren steht (vgl. BGH a.a.O. S. 2777; BFH, Beschluss vom
15. April 1987 - IX B 99/85 - BFHE 149, 424 <428> = DB 1987, 1976, jeweils
m.w.N.).
3. Unabhängig davon ist der Antrag jedenfalls in der Sache unbegründet.
Gemäß § 42 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 54 Abs. 1 VwGO setzt die Ablehnung eines
Richters wegen Besorgnis der Befangenheit voraus, dass ein Grund vorliegt,
der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu recht-
fertigen. Es genügt, wenn vom Standpunkt der Beteiligten aus gesehen hinrei-
chende objektive Gründe vorliegen, die bei vernünftiger Würdigung aller Um-
stände Anlass geben, an seiner Unparteilichkeit zu zweifeln. Eine rein subjekti-
ve Besorgnis, für die vernünftigerweise kein Grund ersichtlich ist, reicht dage-
gen nicht aus (Urteil vom 5. Dezember 1975 - BVerwG 6 C 129.74 - BVerwGE
50, 36 <38 f.>). Hinreichend objektive Gründe, die bei vernünftiger Betrach-
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tungsweise Anlass geben, an der Unparteilichkeit der drei abgelehnten Richter
zu zweifeln, sind hier nicht gegeben.
Die Klägerin ist der Auffassung, dass der angefochtene Planfeststellungsbe-
schluss nichtig, zumindest aber rechtswidrig sei, weil der Einleitung des Plan-
feststellungsverfahrens ein Antrag der DB ProjektBau GmbH zugrunde liege,
diese jedoch nicht antragsberechtigt sei; sie zieht daraus die weitere Konse-
quenz, dass die DB Netz AG nicht Vorhabenträger und im Hauptsacheverfah-
ren wie im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zu Unrecht beigeladen
worden sei (§ 65 Abs. 2 VwGO). Die drei genannten Richter haben dagegen in
dem Beschluss vom 25. Juli 2007 - BVerwG 9 VR 19.07 - im Verfahren des
vorläufigen Rechtsschutzes in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht im Einzel-
nen dargelegt, dass und aus welchen Gründen nach ihrer Auffassung das
Handeln der DB ProjektBau GmbH der DB Netz AG zuzurechnen, Letztere mit-
hin Vorhabenträger und daher notwendig beigeladen worden sei. Die Klägerin
leitet somit ihre Besorgnis der Befangenheit aus einer unterschiedlichen - d.h.
von der ihrigen abweichenden - Beurteilung der Sach- und Rechtslage durch
die drei abgelehnten Richter her, die nach Ansicht der Klägerin auf einer ein-
seitigen, manipulativen und grob pflichtwidrigen Behandlung ihrer Sache beru-
he. Dass ein abgelehnter Richter bei der Würdigung des maßgeblichen Sach-
verhalts oder bei dessen rechtlicher Beurteilung eine andere Rechtsauffassung
vertritt als ein Beteiligter, reicht indes regelmäßig nicht aus, um eine Besorgnis
der Befangenheit zu begründen; das gilt selbst für irrige Ansichten, solange sie
- wofür hier nichts ersichtlich ist - nicht offensichtlich willkürlich sind (Urteil vom
11. Februar 1982 - BVerwG 1 D 2.81 - BVerwGE 73, 339 <346>, Beschluss
vom 29. Mai 1991 - BVerwG 4 B 71.91 - NJW 1992, 1186 <1187>, stRspr; vgl.
auch Kopp/Schenke, VwGO, 15. Aufl. 2007, § 54 Rn. 11a, 11b m.w.N.).
Anhaltspunkte dafür, dass die drei abgelehnten Richter aufgrund ihrer im Be-
schluss vom 25. Juli 2007 niedergelegten Würdigung des Sachverhalts und der
dort geäußerten Rechtsauffassung innerlich so unverrückbar festgelegt und
Gegenargumenten gegenüber derart verschlossen wären, dass sie - entgegen
dem Hinweis auf die bislang allein mögliche summarische Prüfung der Sach-
und Rechtslage (Rn. 2 und 3 des Beschlusses) - über das Rechtsschutzbegeh-
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ren der Klägerin im Hauptsacheverfahren sowie über ihre weiteren Anträge (An-
trag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO, Gegenvorstellung) nicht mehr unbefangen
und unparteiisch entscheiden könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere
vermag der Senat nicht zu erkennen, dass die abgelehnten Richter bislang bei
der Würdigung des Sachvortrags der Klägerin es an der „gebotenen Sorgfalt“
hätten missen lassen, „eventuell sogar mit gezielt falschen Angaben“ gearbeitet
und „die Prozessgegner der Klägerin in unzulässiger Weise auf eine andere
Begründung ihrer Anträge hingelenkt“ hätten. Diese (hier nur in ihrem Kern und
zusammenfassend wiedergegebenen) Vorwürfe der Klägerin resultieren letzt-
lich aus einer unterschiedlichen Bewertung des zu beurteilenden Sachverhalts
und der Rechtslage, nicht zuletzt in der Frage, welche tatsächlichen Umstände
und Rechtsfragen für die Streitentscheidung überhaupt von Relevanz sind.
Der Umstand, dass in dem Beschluss vom 25. Juli 2007 die außergerichtlichen
Kosten der (nach Ansicht der Klägerin unzutreffender Weise am Verfahren be-
teiligten) DB Netz AG zu Lasten der Klägerin für erstattungsfähig erklärt worden
sind, begründet für sich keinen (zusätzlichen) Ablehnungsgrund, sondern folgt
aus der Beiladung und Antragstellung eben dieses Beteiligten (vgl. § 162
Abs. 3 und § 154 Abs. 3 VwGO).
4. Soweit die Klägerin in ihren Schriftsätzen vom 22. und 23. Oktober 2007
ihr Befangenheitsgesuch gegen Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. R. erweitert hat, weil dieser in seiner dienstlichen Äußerung angekün-
digt habe, dass er unter Verstoß gegen die gesetzliche Ladungsfrist (§ 102
Abs. 1 VwGO) und ohne Verbindungsbeschluss (§ 93 VwGO) im Termin zur
mündlichen Verhandlung am 24. Oktober 2007 auch über den noch nicht be-
schiedenen Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO und ggf. über die Gegen-
vorstellung mitverhandeln und entscheiden wolle, bedurfte es weder der Ein-
holung einer (ergänzenden) dienstlichen Äußerung des Richters noch liegt
darin ein weiterer Befangenheitsgrund. Die Klägerin ist einem Missverständnis
erlegen. Die dienstliche Äußerung des Richters enthält nicht die Ankündigung,
dass über den Abänderungsantrag und die Gegenvorstellung in den Verfahren
BVerwG 9 VR 21.07 und 9 VR 19.07 mündlich verhandelt und entschieden
werde. Angekündigt wird damit lediglich eine Entscheidung im Hauptsachever-
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fahren, in der die im Ablehnungsgesuch der Klägerin enthaltenen Angriffe
(„diese Einwendungen“) gegen die tatsächliche und rechtliche Würdigung ihres
Eilantrags im Beschluss des Senats vom 25. Juli 2007 zu berücksichtigen sind.
Ein Grund zur Besorgnis der Befangenheit ist schließlich auch nicht daraus
herzuleiten, dass die drei abgelehnten Richter über den Antrag nach § 80
Abs. 7 Satz 2 VwGO und über die Gegenvorstellung der Klägerin noch nicht
entschieden haben; diese Entscheidungen konnten aus verfahrensökonomi-
schen Gründen ermessensfehlerfrei zurückgestellt werden. Dasselbe gilt für
den Antrag auf Aufhebung des Beschlusses über die Beiladung der DB Netz
AG.
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