Urteil des BVerwG vom 02.04.2017

BVerwG: dringender fall, ausweisung, öffentliches interesse, gerichtshof der europäischen gemeinschaften, freizügigkeit der arbeitnehmer, vollziehung, eugh, aufschiebende wirkung, ausländer

Rechtsquellen:
AufenthG
§§ 53, 54, 55
AuslG
§§ 45, 47, 48
VwGO
§§ 68, 80 Abs. 2 Nr. 4, Abs. 5, § 114
Richtlinie 64/221/EWG
Art. 9
Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats EWG-Türkei über die Entwicklung der
Assoziation - ARB 1/80 - Art. 6, 7, 14
Stichworte:
Ausweisung; assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht; türkische Arbeitnehmer; ge-
meinschaftsrechtliche Verfahrensgarantien; Widerspruchsverfahren; Gesetzmäßig-
keit; Zweckmäßigkeit; zweite Verwaltungsbehörde; "Vier-Augen-Prinzip"; Anordnung
der sofortigen Vollziehung; dringender Fall.
Leitsätze:
1. Die gemeinschaftsrechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1
RL 64/221/EWG, die unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres
Aufenthalts gelten, sind auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Auf-
enthaltsrecht nach dem ARB 1/80 haben.
2. Findet die in der Richtlinie geforderte Nachprüfung einer Ausweisungsverfügung
durch eine zweite unabhängige Stelle ("Vier-Augen-Prinzip") nicht statt, ist die Aus-
weisung wegen eines Verfahrensfehlers rechtswidrig, es sei denn, es liegt ein "drin-
gender Fall" vor.
3. Ein "dringender Fall" im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG setzt ein beson-
deres öffentliches Interesse daran voraus, das gerichtliche Hauptverfahren nicht ab-
zuwarten, sondern die Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren,
unmittelbar drohenden und unzumutbaren Gefährdung der öffentlichen Ordnung
durch den Ausländer zu begegnen.
Urteil des 1. Senats vom 13. September 2005 - BVerwG 1 C 7.04
I. VG Stuttgart vom 30.04.2003 - Az.: VG 16 K 5256/02 -
II. VGH Mannheim vom 09.03.2004 - Az.: VGH 10 S 1302/03 -
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
- 2 -
BVerwG 1 C 7.04
Verkündet
VGH 10 S 1302/03
am 13. September 2005
Stoffenberger
Justizobersekretärin
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 13. September 2005
durch die Vizepräsidentin des Bundesverwaltungsgerichts E c k e r t z - H ö f e r ,
die Richter am Bundesverwaltungsgericht D r. M a l l m a n n , H u n d und
R i c h t e r sowie die Richterin am Bundesverwaltungsgericht B e c k
für Recht erkannt:
Das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg
vom 9. März 2004 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbe-
halten.
G r ü n d e :
I.
Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, wendet sich gegen seine Ausweisung
aus Deutschland.
Der im November 1975 in Deutschland geborene Kläger kehrte, nachdem er etwa
neun Jahre in der Türkei gelebt hatte, mit seiner Familie Ende 1986 nach Deutsch-
land zurück und erreichte hier den Hauptschulabschluss. Im September 1994 erhielt
er eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Von August 1994 bis Juli 1997 absolvierte
er eine Lehre als Maurer und Zimmermann. Bis Ende 1999 war er weiter in seinem
Ausbildungsbetrieb beschäftigt. Anschließend war er zunächst bei einer Zeitarbeits-
firma und später in einem Buchverlag tätig. Im Jahre 2001 bezog er etwa drei Mona-
te lang Sozialhilfe.
Im Dezember 2001 wurde der Kläger wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäu-
bungsmitteln (Ecstasy-Tabletten) in zwölf tatmehrheitlichen Fällen zu einer Freiheits-
strafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Durch Rechtsmittelverzicht des
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Klägers wurde das Urteil sofort rechtskräftig. Der Kläger befand sich - nach einer
kürzeren Untersuchungshaft Mitte 2001 - ab Oktober 2001 in Haft.
Mit Verfügung vom 14. November 2002 wies das Regierungspräsidium Stuttgart den
Kläger aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aus, ordnete die sofortige
Vollziehung der Ausweisung an und drohte ihm - bezogen auf den Zeitpunkt der
Haftentlassung - die Abschiebung in die Türkei an. Ein Antrag des Klägers auf Ge-
währung vorläufigen Rechtsschutzes blieb vor dem Verwaltungsgericht ohne Erfolg.
Im April 2003 wurde der Kläger aus der Haft in die Türkei abgeschoben.
Die vom Kläger gegen die Ausweisungsverfügung erhobene Klage hat das Verwal-
tungsgericht abgewiesen. Die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof
zurückgewiesen. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt: Assoziations-
rechtliche Vorschriften stünden der Ausweisung nicht entgegen. Es könne unterstellt
werden, dass der Kläger Assoziationsberechtigter im Sinne der Art. 6 oder 7 des As-
soziationsratsbeschlusses Nr. 1/80 sei. Denn seine Ausweisung sei auch nach Maß-
gabe des Art. 14 ARB 1/80 zulässig. Die vom Regierungspräsidium hilfsweise ange-
stellten Ermessenserwägungen zu einer spezialpräventiv begründeten Ausweisung
des Klägers seien assoziationsrechtlich nicht zu beanstanden. Neue Gesichtspunkte
- etwa seine eigene Drogenabhängigkeit - habe der Kläger erst nach Zustellung der
Ausweisungsverfügung und damit erst nach dem für die Rechtmäßigkeit der Verfü-
gung maßgeblichen Zeitpunkt vorgetragen. Dass ein Widerspruchsverfahren nicht
durchgeführt worden sei, sei unschädlich. Die Richtlinie 64/221/EWG sei auf türki-
sche Staatsangehörige nicht anwendbar.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision. Er verweist insbesondere auf
die neuere Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften so-
wie auf das seiner Auffassung nach bisher ungeschriebene, nunmehr in der Richtlinie
2004/38/EG ausdrücklich verankerte Prinzip eines weiter erhöhten Ausweisungs-
schutzes nach längerem Aufenthalt des Ausländers.
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II.
Die Revision des Klägers ist begründet.
Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO).
Zu Unrecht hat es die Abweisung der Klage auch für den Fall bestätigt, dass sich der
Kläger auf ein Aufenthaltsrecht nach dem Beschluss Nr. 1/80 des Assoziationsrats
EWG-Türkei über die Entwicklung der Assoziation - ARB 1/80 - berufen kann. Vor
allem ist es rechtlich fehlerhaft davon ausgegangen, dass die Richtlinie 64/221/EWG
- RL 64/221/EWG - unter den hier gegebenen Voraussetzungen keine Anwendung
findet (1.). Außerdem hat es die Ausweisung des Klägers nicht an den materiellen
Anforderungen des Gemeinschaftsrechts gemessen, von denen nach der neueren
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) und
des erkennenden Senats auszugehen ist (2.). Das Berufungsgericht hätte deshalb
nicht offen lassen dürfen, ob dem Kläger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht
zusteht. Da die Ausweisung im Übrigen nicht gegen innerstaatliches Recht verstößt
(3.), kann der Senat in der Sache nicht abschließend zugunsten des Klägers ent-
scheiden. Das Berufungsurteil ist daher aufzuheben und die Sache zur anderweitigen
Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 144
Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
Der Senat kann mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen des Berufungs-
gerichts nicht selbst beurteilen (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO), ob dem Kläger ein Aufent-
haltsrecht nach dem ARB 1/80 zusteht. Allerdings hat er wohl in jedem Falle durch
seine Lehre und seine weitere Beschäftigung in dem Ausbildungsbetrieb ein solches
Recht aus Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 erworben. Daneben kommt
auch ein Aufenthaltsrecht des Klägers gemäß Art. 7 ARB 1/80 in Betracht. Das Beru-
fungsgericht hat insoweit jedoch keine Feststellungen zur Beschäftigung der Eltern
des Klägers im Bundesgebiet getroffen. Durch die Verbüßung seiner Untersuchungs-
bzw. Strafhaft hätte er diese assoziationsrechtlich privilegierten Rechtspositionen
nicht verloren (vgl. EuGH, Urteil vom 11. November 2004, Rs. C-467/02 - Cetinkaya -
InfAuslR 2005, 13 und Urteile vom 7. Juli 2005, Rs. C-383/03 - Dogan - und
Rs. C-373/03 - Aydinli -). Der Senat kann auf der Grundlage der tatsächlichen Fest-
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stellungen im Berufungsurteil auch nicht ausschließen, dass der Kläger aus anderen
Gründen seinen assoziationsrechtlichen Status verloren hat.
1. Stünde dem Kläger ein Aufenthaltsrecht nach Art. 6 Abs. 1 bzw. Art. 7 ARB 1/80
zu, so dürfte er nur unter Beachtung der Verfahrensanforderungen aus Art. 9 Abs. 1
RL 64/221/EWG ausgewiesen werden. Die Bestimmung lautet:
"Sofern keine Rechtsmittel gegeben sind oder die Rechtsmittel nur die Ge-
setzmäßigkeit der Entscheidung betreffen oder keine aufschiebende Wirkung
haben, trifft die Verwaltungsbehörde die Entscheidung über die Verweigerung
der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung eines In-
habers einer Aufenthaltserlaubnis aus dem Hoheitsgebiet außer in dringenden
Fällen erst nach Erhalt der Stellungnahme einer zuständigen Stelle des Auf-
nahmelandes, vor der sich der Betroffene entsprechend den innerstaatlichen
Rechtsvorschriften verteidigen, unterstützen oder vertreten lassen kann. Diese
Stelle muss eine andere sein als diejenige, welche für die Entscheidung über
die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis oder über die Entfernung aus dem
Hoheitsgebiet zuständig ist."
Diese Vorschrift ist nach wie vor anzuwenden. Die Richtlinie 64/221/EWG wird durch
die Richtlinie 2004/38/EG erst mit Wirkung vom 30. April 2006 (vgl. Art. 38 Abs. 2
RL 2004/38/EG) aufgehoben.
Die europarechtlichen Verfahrensgarantien des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG, die
unmittelbar für Unionsbürger bei behördlicher Beendigung ihres Aufenthalts gelten,
sind auch auf türkische Arbeitnehmer anzuwenden, die ein Aufenthaltsrecht nach
dem ARB 1/80 haben. Der Senat folgt damit der neueren Rechtsprechung des EuGH
(vgl. Urteil vom 2. Juni 2005, Rs. C-136/03 - Dörr und Ünal - InfAuslR 2005, 289).
In Ausweisungsverfahren gegen Unionsbürger und assoziationsrechtlich privilegierte
türkische Staatsangehörige wird - außer in dringenden Fällen - Art. 9 Abs. 1
RL 64/221/EWG in Deutschland verletzt, wenn weder ein Widerspruchsverfahren
stattfindet noch sonst eine zweite zuständige Stelle im Sinne der Richtlinie im Ver-
waltungsverfahren eingeschaltet wird (behördliches Vorverfahren im Sinne des § 68
VwGO). Denn das deutsche verwaltungsgerichtliche Rechtsschutzsystem sieht ledig-
lich eine Kontrolle der "Gesetzmäßigkeit" der Ausweisungsverfügung, nicht jedoch
eine Überprüfung nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten vor. Nach § 114 Satz 1
VwGO ist die gerichtliche Überprüfung von behördlichen Ermessenserwägungen
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darauf beschränkt, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind
oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der gesetzlichen Ermächtigung nicht
entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist. Eine Überprüfung der Zweckmäßig-
keit des Verwaltungshandelns ist den Gerichten danach nicht möglich. Der Gerichts-
hof der Europäischen Gemeinschaften legt Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG aber dahin
aus, dass das Eingreifen der in der Bestimmung genannten (zweiten) "zuständigen
Stelle" - neben der "Verwaltungsbehörde" - ermöglichen soll, eine erschöpfende Prü-
fung aller Tatsachen und Umstände einschließlich der Zweckmäßigkeit der beabsich-
tigten Maßnahme zu bewirken, ehe die Entscheidung endgültig getroffen wird (vgl.
etwa EuGH, Urteil vom 29. April 2004 - Rs. C-482/01 und C-493/01 - Orfanopoulos
und Oliveri - Rn. 103 ff., InfAuslR 2004, 268 <276 f.> m.w.N.; vgl. auch Urteil vom
2. Juni 2005, Rs. Dörr und Ünal, a.a.O.). Das kann nach der zitierten Rechtspre-
chung des Gerichtshofs auch die Widerspruchsbehörde im Widerspruchsverfahren
sein; das deutsche Verwaltungsgericht kann diese Funktion nicht übernehmen. Beim
Gericht wäre im Sinne der Rechtsprechung des EuGH nicht gewährleistet, dass eine
erschöpfende Prüfung der Zweckmäßigkeit einer nach Gemeinschaftsrecht zu beur-
teilenden Ausweisungsverfügung vorgenommen und damit den Erfordernissen eines
hinreichend effektiven Schutzes im Sinne der Richtlinie genügt wird. Der EuGH hat
dies in den genannten Entscheidungen sowohl für das deutsche als auch für das
dem deutschen insoweit vergleichbare österreichische Rechtsschutzsystem ausge-
sprochen. Daraus folgt, dass nach der in Baden-Württemberg erfolgten Abschaffung
des behördlichen Vorverfahrens bei Ausweisungen die gemeinschaftsrechtlich gefor-
derte Einschaltung einer unabhängigen zweiten Stelle neben der Ausländerbehörde
("Vier-Augen-Prinzip") entfallen ist. Die gegen begünstigte Ausländer verfügten Aus-
weisungen sind daher wegen eines Verfahrensfehlers unheilbar rechtswidrig, es sei
denn, es hätte ein "dringender Fall" im Sinne des Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG vor-
gelegen.
Nach den Feststellungen und Erläuterungen des Berufungsgerichts zum baden-
württembergischen Landesrecht war auch im Falle des Klägers das Regierungsprä-
sidium für die Ausweisung zuständig und ein Vorverfahren ausgeschlossen (UA
S. 8). Damit war keine weitere unabhängige Stelle in der Verwaltung mit der Auswei-
sungsverfügung gegen den Kläger befasst. Die angefochtene Ausweisung wäre des-
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halb unter Verstoß gegen eine gemeinschaftsrechtliche Verfahrensgarantie ergan-
gen, wenn der Kläger sich hierauf berufen könnte.
Ein Verfahrensfehler läge nur dann nicht vor, wenn ein "dringender Fall" im Sinne
von Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie gegeben war. In derart dringenden Fällen kann aus-
nahmsweise von der Beteiligung einer zweiten Stelle abgesehen werden.
Unter welchen Voraussetzungen ein dringender Fall anzunehmen ist, ist bisher nicht
geklärt. Die frühere Auffassung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften,
die Beurteilung, ob ein dringender Fall vorliege, sei allein Sache der Verwaltung und
von den Gerichten nicht zu überprüfen (Urteil vom 5. März 1980, Rs. C-98/79
- Pecastaing - Slg. 1980, 691 Rn. 19 f.), ist nach dessen eigener Rechtsprechung
überholt. Der EuGH hat in neueren Entscheidungen das Vorliegen eines dringenden
Falles jeweils verneint, obwohl die Verwaltung die sofortige Vollziehung der Auswei-
sung angeordnet hatte (vgl. etwa die Entscheidungen Orfanopoulos/Oliveri, a.a.O.,
Rn. 115 und Dörr/Ünal, a.a.O., Rn. 56). Der EuGH hat dabei allerdings bisher nicht
näher erläutert, unter welchen Umständen ein dringender Fall zu bejahen und dem-
entsprechend die Beteiligung einer zweiten Stelle nicht erforderlich ist.
Im System der durch die Richtlinie 64/221/EWG verbürgten Verfahrensgarantien
stellt das Merkmal der Dringlichkeit einen Ausnahmetatbestand dar. Als Ausnahme
damit auch vom gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Freizügigkeit der Arbeit-
nehmer ist dieses Merkmal besonders eng auszulegen. Ein dringender Fall kann sich
daher nicht schon aus der mit einer Ausweisung stets verbundenen Gefährdung der
öffentlichen Ordnung ergeben, sondern kann erst dann angenommen werden, wenn
ein Zuwarten mit der Vollziehung der Ausweisung im Einzelfall nicht zu verantworten
ist. Ein dringender Fall kommt demnach nur in Betracht, wenn die begründete Be-
sorgnis besteht, die von dem Ausländer ausgehende erhebliche Gefahr werde sich
schon vor Abschluss des Hauptverfahrens realisieren. Dann ist auch eine Verzöge-
rung durch Einschaltung einer zweiten Behörde nicht hinnehmbar. Die Vorausset-
zungen für die Annahme eines dringenden Falles ähneln damit den Anforderungen
an die Anordnung der sofortigen Vollziehung einer Ausweisung gemäß § 80 Abs. 2
Nr. 4 VwGO nach den Maßstäben der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
richts (vgl. zuletzt etwa BVerfG, Beschluss vom 13. Juni 2005 - 2 BvR 485/05 -
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NVwZ 2005, 1053 und ebenso schon Beschluss vom 4. März 1985 - 2 BvR 1642/83 -
BVerfGE 69, 220 <227 f.>, jeweils m.w.N.; vgl. auch die Schlussanträge der Gene-
ralanwältin Stix-Hackel vom 2. Juni 2005 in der Rs. C-441/02 Rn. 154 f., insbesonde-
re 162 ff. sowie die Stellungnahme der Europäischen Kommission an die Bundesre-
publik Deutschland vom 24. Juli 2000 in demselben Vertragsverletzungsverfahren,
S. 15 ff.).
Ein dringender Fall ist danach nicht schon dann anzunehmen, wenn die Ausländer-
behörde die sofortige Vollziehung der Ausweisung angeordnet hat und diese Anord-
nung im gerichtlichen Eilverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO bestätigt wird. Die Anord-
nung der sofortigen Vollziehung schließt die Dringlichkeit im Sinne des Art. 9 Abs. 1
RL 64/221/EWG vielmehr nur dann ein, wenn sie den in der Richtlinie vorausgesetz-
ten und den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts entsprechenden Maß-
stäben gerecht wird. Die gerichtliche Bestätigung der Anordnung der sofortigen Voll-
ziehung mit der Erwägung, das Rechtsmittel des Ausländers in der Hauptsache habe
keine oder nur geringe Erfolgsaussichten, genügt daher nicht, um einen dringenden
Fall im Sinne der Richtlinie zu belegen. Vielmehr muss ein besonderes öffentliches
Interesse daran festgestellt sein, das Hauptverfahren nicht abzuwarten, sondern die
Ausweisung sofort zu vollziehen, um damit einer weiteren, unmittelbar drohenden
erheblichen Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch den Ausländer zu begeg-
nen.
Ob ein dringender Fall in diesem Sinne zu bejahen ist, muss nach den konkreten
Umständen des Einzelfalles im Wege einer Abwägung der widerstreitenden öffentli-
chen und privaten Belange beurteilt werden. Von Bedeutung ist hierbei vorrangig die
Schwere der vom Ausländer ausgehenden Gefahr. Diese wird in der Regel entfallen,
wenn und solange der Ausländer sich in Haft befindet. Die Anordnungen der soforti-
gen Vollziehung und die Annahme eines dringenden Falles kommen unter solchen
Umständen nur für den Fall infrage, dass der Ausländer aus der Haft heraus abge-
schoben werden soll. Zu berücksichtigen ist ferner, ob die Ausländerbehörde selbst
den Fall als dringlich erachtet und behandelt. Die Annahme eines dringenden Falles
scheidet aus, wenn die Behörde das Verfahren nicht zügig betreibt und selbst die
sofortige Vollziehung nicht anordnet oder von der Anordnung nicht unverzüglich
- gegebenenfalls nach gerichtlicher Bestätigung - Gebrauch macht.
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Der Senat kann die Frage der Dringlichkeit im Falle des Klägers nicht beurteilen. Das
Berufungsgericht hat die Richtlinie 64/221/EWG für nicht anwendbar gehalten und
daher keine entsprechenden tatsächlichen Feststellungen getroffen. Dies wird es im
erneuten Berufungsverfahren gegebenenfalls nachzuholen haben.
2. Das Berufungsurteil verstößt außerdem gegen materielles Gemeinschaftsrecht,
wenn dem Kläger ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht zusteht.
Der Senat hat mit Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 - (BVerwGE 121,
315 = Buchholz 451.901 Assoziationsrecht Nr. 39) seine Rechtsprechung geändert
und entschieden, dass die im alten, Ende 2004 außer Kraft getretenen Ausländerge-
setz (AuslG) geregelten Tatbestände einer zwingenden Ausweisung und einer Re-
gelausweisung (§ 47 Abs. 1 und 2 AuslG; jetzt: §§ 53 und 54 des Aufenthaltsgeset-
zes - AufenthG - vom 30. Juli 2004, BGBl I S. 1950) als Rechtsgrundlagen für die
Beendigung des Aufenthalts von türkischen Staatsangehörigen ausscheiden, die ein
assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80 besitzen. Der Senat hat
damit die materiellrechtlichen Grundsätze, die aus der Entscheidung des Gerichts-
hofs der Europäischen Gemeinschaften vom 29. April 2004 (Rs. C-482/01 und
C-493/01 - Orfanopoulos und Oliveri -, a.a.O.) für freizügigkeitsberechtigte Unions-
bürger abzuleiten waren (BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 -
BVerwGE 121, 297 = Buchholz 402.26 § 12 AufenthG/EWG Nr. 15), auf türkische
Staatsangehörige übertragen, die sich auf ein Aufenthaltsrecht nach dem ARB 1/80
berufen können. Auch diese dürfen nur nach den §§ 45 und 46 AuslG (jetzt: § 55
AufenthG) i.V.m. den einschlägigen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auf der
Grundlage einer Ermessensentscheidung ausgewiesen werden. Zudem darf nach
materiellem Gemeinschaftsrecht eine Maßnahme der öffentlichen Ordnung oder Si-
cherheit - als Ausnahme vom Grundsatz der Freizügigkeit - nur auf ein Verhalten des
Betroffenen gestützt werden, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen
Ordnung im Sinne des Gemeinschaftsrechts darstellt. Daraus ergibt sich, dass für die
gerichtliche Überprüfung der Ausweisung von türkischen Staatsangehörigen, die
nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigt sind, die Sach- und Rechtslage im Zeit-
punkt der letzten mündlichen Verhandlung oder der Entscheidung des Tatsachenge-
richts maßgeblich ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 -,
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a.a.O.; ebenso EuGH, Urteil vom 11. November 2004, Rs. C-467/02 - Cetinkaya -
InfAuslR 2005, 13).
Mit dieser geänderten Rechtsprechung ist das angefochtene Urteil des Berufungsge-
richts nicht zu vereinbaren. Zwar ist die Ausweisungsverfügung gegen den Kläger auf
der Grundlage der §§ 47 und 48 AuslG (jetzt: §§ 53 und 54 AufenthG) hilfsweise
auch auf Ermessenserwägungen gestützt. Mit gemeinschaftsrechtlichen Grundsät-
zen ist es jedoch unvereinbar, die Ausweisung tragend oder auch nur - wie hier - mit-
tragend auf andere als in der persönlichen Gefährlichkeit des Ausländers liegende
sog. generalpräventive Erwägungen zu stützen (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August
2004 - BVerwG 1 C 30.02 -, a.a.O.), wie es das Regierungspräsidium getan (vgl. S. 7
und 11 der Ausweisungsverfügung) und das Berufungsgericht im Ergebnis für unbe-
denklich gehalten hat (vgl. UA S. 16 und 18). Ungeachtet weiterer Einwände des
Klägers ist das Berufungsurteil auch deshalb rechtsfehlerhaft, weil das Berufungsge-
richt die Gefahr, dass der Kläger erneut Straftaten begeht, in Bezug auf den Zeit-
punkt der letzten behördlichen Entscheidung - hier: im November 2002 - beurteilt hat,
ohne spätere Entwicklungen bis zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung
vor dem Tatsachengericht - hier: im März 2004 - zu berücksichtigen. Der Hinweis auf
die vom Kläger nachträglich vorgebrachte eigene Drogenabhängigkeit ändert hieran
nichts; zumal der Verwaltungsgerichtshof diesen Vortrag zugleich wegen "ganz er-
heblicher Zweifel" an der Glaubhaftigkeit für unbeachtlich gehalten hat (UA S. 18). Im
Übrigen erscheinen die behördlichen und vom Berufungsgericht letztlich nicht bean-
standeten Ermessenserwägungen, ohne dass dies abschließender Prüfung bedarf,
formelhaft und wohl nicht hinreichend.
3. Der Senat könnte danach nur dann in der Sache selbst abschließend entscheiden
(§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), wenn die angefochtene Ausweisungsverfügung
bereits nach innerstaatlichem Recht rechtswidrig wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Berufungsgericht ist zu Recht davon ausgegangen, dass die Ausweisung des
Klägers den rechtlichen Anforderungen der §§ 47 und 48 AuslG (jetzt: §§ 53 und 54
AufenthG) an eine Regelausweisung gerecht wird.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass das Berufungsgericht
das Bestehen eines assoziationsrechtlichen Aufenthaltsrechts des Klägers allenfalls
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dann wiederum offen lassen kann, wenn es einen dringenden Fall im Sinne des
Art. 9 Abs. 1 RL 64/221/EWG sowie eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen
Ordnung im Sinne des Gemeinschaftsrechts durch den Kläger im Zeitpunkt seiner
Entscheidung bejaht und der Beklagte im Rahmen des erneuten Berufungsverfah-
rens nunmehr aufgrund einer individuellen Würdigung der Umstände des Einzelfalles
(vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 30.02 -, a.a.O.) eine aktuelle
Ermessensentscheidung trifft, die den Anforderungen des Art. 14 ARB 1/80 ent-
spricht. Der Senat hat in seinem Urteil vom 3. August 2004 - BVerwG 1 C 29.02 -
(a.a.O.) für Fälle wie den vorliegenden entschieden, dass mit Rücksicht auf die Ände-
rung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Ausweisungsschutz
auch für nach dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigte türkische Staatsangehörige den
Ausländerbehörden während eines Übergangszeitraums Gelegenheit zur Nachho-
lung der Ermessensentscheidung zu geben ist, wenn die Ausweisung eines nach
dem ARB 1/80 aufenthaltsberechtigten türkischen Staatsangehörigen als Ist- oder
Regelausweisung nach § 47 Abs. 1 oder 2 AuslG (jetzt: §§ 53 und 54 AufenthG) oh-
ne Ermessensausübung verfügt worden war. Außerdem sind die Verwaltungsgerich-
te stets verpflichtet, den Ausländerbehörden in gemeinschaftsrechtskonformer An-
wendung des § 114 Satz 2 VwGO Gelegenheit zur Aktualisierung der Ermessenser-
wägungen zu geben, soweit der gerichtlichen Kontrolle neue, nach Abschluss des
Verwaltungsverfahrens entstandene Tatsachen zugrunde zu legen sind.
Eckertz-Höfer Dr. Mallmann Hund
Richter Beck
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf 4 000 € fest-
gesetzt (§ 13 Abs. 1 Satz 2 GKG a.F. i.V.m. § 72 GKG n.F.).
Eckertz-Höfer Richter Beck