Urteil des BVerwG vom 09.07.2007

BVerwG (rechtliches gehör, zweitwohnung, sache, tatsächliche vermutung, wohnung, vermutung, bundesverwaltungsgericht, verhandlung, kapitalanlage, verletzung)

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 9 C 16.07
OVG 2 LB 22/07
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. Dezember 2008
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Storost,
den Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Nolte,
die Richterin am Bundesverwaltungsgericht Buchberger und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Christ und Prof. Dr. Korbmacher
ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Der Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 9. Juli 2007 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Schleswig-Holsteinische Oberverwal-
tungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfah-
rens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin ist Eigentümerin einer Wohnung in der Gemeinde Sylt-Ost. In den
Jahren 1999 und 2003 hatte sie jeweils eine Vereinbarung zur Übertragung der
Vermietung dieser Wohnung an einen Vermittler geschlossen. Die Wohnung
war nach Angaben der Vermittler in den Jahren 2001 bis 2004 zwischen 40 und
133 Tagen im Jahr vermietet. Die Klägerin hat mitgeteilt, in diesem Zeitraum
wegen Eigentümerversammlungen und Renovierungsarbeiten selbst in der
Wohnung gewesen zu sein und zwar jeweils ein Wochenende im Februar und
September 2001, im Oktober 2002, im November 2003 sowie im März und No-
vember 2004.
Mit Bescheid vom 6. September 2005 forderte die Beklagte von der Klägerin für
diese Wohnung Zweitwohnungssteuer für die Jahre 2001 bis 2005 in Höhe von
1 477,69 €. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Wider-
spruchsbescheid vom 13. September 2005 zurück. Der hiergegen erhobenen
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Klage hat das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht mit Urteil vom
26. Juni 2006 stattgegeben.
Nach Zulassung der Berufung hat das Oberverwaltungsgericht die Beteiligten
mit Schreiben vom 6. Juni 2007 darauf hingewiesen, dass es beabsichtige,
gemäß § 130a Satz 1 VwGO durch Beschluss zu entscheiden, weil es die Be-
rufung für begründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hal-
te. Den Beteiligten werde bis zum 10. Juli 2007 Gelegenheit gegeben, sich ab-
schließend zur Sache zu äußern. Mit Beschluss vom 9. Juli 2007 hat das Ober-
verwaltungsgericht das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsge-
richts vom 29. Juni 2006 abgeändert, die Klage abgewiesen und die Revision
nicht zugelassen. Mit am 10. Juli 2007 beim Oberverwaltungsgericht eingegan-
genem Schreiben hat die Klägerin beantragt, die Äußerungsfrist um zwei Wo-
chen zu verlängern.
Gegen den ihr am 11. Juli 2007 zugestellten Beschluss hat die Klägerin am
13. August 2007 - einem Montag - Nichtzulassungsbeschwerde wegen Verlet-
zung des Anspruchs auf rechtliches Gehör erhoben. Das Oberverwaltungsge-
richt habe wesentlichen tatsächlichen Vortrag nicht zur Kenntnis nehmen kön-
nen, weil es vor Ablauf der Äußerungsfrist entschieden habe. Mit Beschluss
vom 19. September 2007 hat das Berufungsgericht der Beschwerde der Kläge-
rin abgeholfen und die Revision gegen den Beschluss vom 9. Juli 2007 zuge-
lassen.
Zur Begründung der Revision macht die Klägerin geltend, das Oberverwal-
tungsgericht habe ihren Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt,
weil es vor Ablauf der selbst gesetzten Äußerungsfrist über die Berufung der
Beklagten entschieden und ihr damit die Möglichkeit genommen habe, auf die
Berufungsbegründung zu erwidern. Zur Sache sei auszuführen:
Die geringe Vermietungsauslastung sei auf die ungünstige Lage der Wohnung
zurückzuführen. Die Möglichkeit der Eigenbelegung der Ferienwohnung deute
nicht auf eine Eigennutzung hin. Im Revisionsverfahren sei die Abgrenzung
zwischen zweitwohnungssteuerpflichtiger Vorhaltung einer Zweitwohnung auch
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für die persönliche Lebensführung und zweitwohnungssteuerfreier reiner Kapi-
talanlage in Fällen zu klären, in denen sich der Wohnungsinhaber - wie hier -
nur über einen kurzen Zeitraum zum Zwecke der Verwaltung oder Erhaltung
der Wohnung (etwa Teilnahme an Eigentümerversammlungen oder Renovie-
rungsarbeiten) dort aufhält.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Schleswig-Holsteinischen Oberverwal-
tungsgerichts vom 9. Juli 2007 aufzuheben und die Sache
zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an ei-
nen anderen Senat des Schleswig-Holsteinischen Ober-
verwaltungsgerichts zurückzuverweisen.
Die Beklagte sieht von einem Antrag ab und betont, dass kurzzeitige Aufenthal-
te in einer Zweitwohnung vermuten ließen, dass diese zur persönlichen Le-
bensführung genutzt werde. Diese Vermutung habe die Klägerin nicht wider-
legt.
II
Die Revision, über die der Senat mit Einverständnis der Beteiligten ohne münd-
liche Verhandlung entscheidet (vgl. § 101 Abs. 2, § 125 Abs. 1 Satz 1, § 141
Satz 1 VwGO), ist zulässig. Dass die Klägerin keinen förmlichen Sachantrag
gestellt, sondern nur die Aufhebung der Berufungsentscheidung und die Zu-
rückverweisung der Sache an das Berufungsgericht beantragt hat, ist im Hin-
blick auf § 139 Abs. 3 Satz 4 VwGO unschädlich. Denn aus der Revisionsbe-
gründung ergibt sich eindeutig, dass die Klägerin die Berufungsentscheidung
auch in der Sache für unrichtig hält und in vollem Umfang die Zurückweisung
der Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil begehrt.
Die Revision ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf
der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 Nr. 1, § 138 Nr. 3 VwGO). Dies
führt zur Aufhebung der Entscheidung und zur Zurückverweisung an das Ober-
verwaltungsgericht (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
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1. Die Entscheidung des Berufungsgerichts verletzt den Anspruch der Klägerin
auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG). Räumt das Gericht
einem Beteiligten eine Frist zur Äußerung ein, dann verletzt es grundsätzlich
dessen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es vor Ablauf der Äußerungsfrist
entscheidet (stRspr, vgl. etwa Urteil vom 12. Februar 1991 - BVerwG 1 C
20.90 - Buchholz 11 Art. 9 GG Nr. 27 S. 5 und Beschluss vom 7. April 1999
- BVerwG 9 B 999.98 - Buchholz 11 Art. 103 Abs. 1 GG Nr. 55 unter Hinweis
auf BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 1983 - 2 BvR 1780/82 - BVerfGE 64, 224
<227>). So liegt der Fall auch hier.
Das Berufungsgericht hat der Klägerin nach Zulassung der Berufung und An-
kündigung einer Entscheidung im vereinfachten Verfahren nach § 130a VwGO
eine Äußerungsfrist bis zum 10. Juli 2007 gesetzt. Es hat jedoch bereits durch
Beschluss vom 9. Juli 2007 in der Sache entschieden. Der Klägerin wurde da-
mit die Möglichkeit zur Äußerung im Berufungsverfahren genommen.
Aufgrund der Versagung rechtlichen Gehörs ist die Entscheidung des Beru-
fungsgerichts gemäß § 138 Nr. 3 VwGO als auf der Verletzung von Bundes-
recht beruhend anzusehen. § 144 Abs. 4 VwGO ist in einem solchen Fall nur
ausnahmsweise anwendbar, wenn sich die Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG
auf Feststellungen bezieht, auf die es unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt
ankommt (Urteile vom 16. März 1994 - BVerwG 11 C 48.92 - Buchholz 442.151
§ 46 StVO Nr. 10 S. 5 f. und vom 20. November 1995 - BVerwG 4 C 10.95 -
Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 267 S. 25). Diese Ausnahme kommt hier nicht
in Betracht. Die Klägerin konnte sich im Berufungsverfahren überhaupt nicht
zum entscheidungserheblichen Sachverhalt äußern. Damit fehlt dem Revisi-
onsgericht die tatrichterliche Grundlage für eine materiell-rechtliche Entschei-
dung, so dass der erkennende Senat das Berufungsurteil auch nicht auf die
Richtigkeit des Ergebnisses aus anderen Gründen prüfen kann (Urteile vom
30. August 1962 - BVerwG 8 C 49.60 - BVerwGE 15, 24 <25> und vom
26. Februar 2003 - BVerwG 8 C 1.02 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 3 VwGO
Nr. 67).
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2. Die angefochtene Entscheidung verstößt aber auch in materiell-rechtlicher
Hinsicht gegen Bundesrecht. Auch hierüber hat das Bundesverwaltungsgericht
zu entscheiden, da die Revision nicht nur auf Verfahrensmängel gestützt ist
(vgl. § 137 Abs. 3 VwGO). Das Berufungsgericht hat die im Begriff der Auf-
wandsteuer angelegten Anforderungen zur Abgrenzung von der zweitwoh-
nungssteuerfreien reinen Kapitalanlage verkannt. Danach ist aufgrund einer
umfassenden Würdigung der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen, ob die
Zweitwohnung allein der Einkommenserzielung dient oder - auch - für den per-
sönlichen Lebensbedarf gehalten wird. Daher kann die steuererhebende Ge-
meinde von der tatsächlichen Vermutung der Vorhaltung einer Zweitwohnung
- auch - für Zwecke der persönlichen Lebensführung ausgehen, solange der
Zweitwohnungsinhaber keine Umstände vorträgt, die diese tatsächliche Vermu-
tung erschüttern (Urteil vom 10. Oktober 1995 - BVerwG 8 C 40.93 - BVerwGE
99, 303 <307>).
Diesen Anforderungen wird die Entscheidung des Berufungsgerichts nicht ge-
recht. Sie ist auf die Erwägung gestützt, mehrtägige Aufenthalte des Inhabers
einer Zweitwohnung in derselben begründeten die Vermutung, dass diese auch
der persönlichen Lebensführung diene und daher nicht lediglich als zweitwoh-
nungssteuerfreie Kapitalanlage gehalten werde, ohne dass es auf den Zweck
solcher Aufenthalte ankomme. Ausgehend davon hat das Berufungsgericht
dem Vorbringen der Klägerin, sie habe sich jeweils nur zur Durchführung von
Renovierungsarbeiten und zur Teilnahme an Eigentümerversammlungen in
ihrer Wohnung aufgehalten, keine Bedeutung beigemessen und eine dahinge-
hende Aufklärung des Sachverhalts abgelehnt. Damit hat es der Sache nach
die unwiderlegliche Vermutung aufgestellt, eine Zweitwohnung werde stets
auch für den persönlichen Lebensbedarf gehalten, wenn sich der Wohnungsin-
haber länger als einen Tag darin aufgehalten habe. Diese Annahme verfehlt die
verfassungsrechtlich vorgegebene Abgrenzung zur zweitwohnungssteuerfreien
Vorhaltung einer Zweitwohnung als reine Kapitalanlage. Die Durchführung von
Renovierungsarbeiten und die Teilnahme an Eigentümerversammlungen die-
nen der Erhaltung beziehungsweise der Verwaltung der Zweitwohnung und
sind damit der Einkommenserzielung zuzuordnen. Ob auch der Aufenthalt des
Wohnungsinhabers in der Zweitwohnung aus Anlass dieser Tätigkeiten der Ein-
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kommenserzielung dient, ist anhand der konkreten Fallumstände zu beurteilen.
Das gilt auch dann, wenn der Aufenthalt in der Zweitwohnung die Dauer eines
Tages überschreitet. Es kann nicht unwiderleglich vermutet werden, dass der
Wohnungsinhaber bei einem mehrtägigen Aufenthalt in der Zweitwohnung stets
konsumtive Zwecke zum Beispiel der Erholungssuche verfolgt. Ihm ist vielmehr
auch in diesem Fall von Verfassungs wegen die Möglichkeit eröffnet, diese
Vermutung zu erschüttern, etwa indem er in geeigneter Weise belegt, dass sein
Aufenthalt in der Zweitwohnung sich auf das zur Durchführung der Renovie-
rungsarbeiten oder zur Teilnahme einer Eigentümerversammlung Notwendige
beschränkt hat und er sich ansonsten eine andere Unterkunft hätte suchen
müssen. Es ist nicht erkennbar, dass es insoweit keine Möglichkeiten zur
Glaubhaftmachung gibt. Das Berufungsgericht wird nach allem die Umstände
der Aufenthalte der Klägerin in der Zweitwohnung aufzuklären und gegebenen-
falls auch die Verträge zur Übertragung der Vermietung auf Vermittler im Hin-
blick auf ihre Indizwirkung für eine fehlende Eigennutzung zu bewerten haben.
Die Berufungsentscheidung war daher aufzuheben und die Sache an das
Oberverwaltungsgericht zurückzuverweisen. (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 i.V.m.
§ 137 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3 VwGO). Für die Zurückweisung an einen ande-
ren Senat des Oberverwaltungsgerichts (§ 173 VwGO i.V.m. § 563 Abs. 1
Satz 2 ZPO) gibt es keine sachliche Grundlage. Die Klägerin hat weder An-
haltspunkte dafür vorgetragen, dass der zuständige Senat des Oberverwal-
tungsgerichts nicht mehr unvoreingenommen entscheiden könnte, noch sind
solche Anhaltspunkte ersichtlich (vgl. dazu Urteil vom 15. April 1964 - BVerwG
5 C 97.63 - Buchholz 310 § 144 VwGO Nr. 8).
Dr. Storost
Dr. Nolte
Buchberger
Dr. Christ
Prof. Dr. Korbmacher
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B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes für das Revisionsverfahren wird gemäß § 47
Abs. 1, § 52 Abs. 3 GKG auf 1 477,69 € festgesetzt.
Dr. Storost
Dr. Christ
Buchberger