Urteil des BVerwG vom 29.05.2012

BVerwG: rücknahme der klage, entschädigung, konkretisierung, rechtskraft, unternehmen, berechtigung, anfechtungsklage, minimum, bestimmtheit, verbringen

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 8 B 88.11
VG 4 K 105.10
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 8. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. Mai 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert und
die Richterinnen am Bundesverwaltungsgericht Dr. von Heimburg und
Dr. Held-Daab
beschlossen:
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision in
dem Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 5. August
2011 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 500 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Kläger erstreben für das Nadellager der ehemals in L. ansässigen Groß-
handelsfirma ihres Rechtsvorgängers David D. eine höhere Entschädigung
nach dem NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz. Mit rechtskräftigem Urteil vom
30. November 2007, berichtigt durch Beschluss vom 21. Februar 2008, ver-
pflichtete das Verwaltungsgericht Dresden die Beklagte festzustellen, den Klä-
gern stehe in ungeteilter Erbengemeinschaft „dem Grunde nach ein Anspruch
auf Entschädigung nach dem NS-Verfolgtenentschädigungsgesetz zu[…] für
das bewegliche Betriebsvermögen der Firma David D. in L., soweit dieses nach
C. verbracht worden ist“. Mit Bescheid vom 21. Dezember 2009 traf die Beklag-
te diese Feststellung und setzte eine Entschädigung in Höhe von 48 777,25 €
nebst 17 315,92 € Zinsen fest. Mit der dagegen erhobenen Klage vor dem Ver-
waltungsgericht Berlin haben die Kläger zunächst Entschädigung in Höhe wei-
terer 6 444 629,55 € nebst Zinsen begehrt und zuletzt, unter Rücknahme der
Klage im Übrigen, beantragt, die Beklagte zu verpflichten, ihre Entschädigungs-
berechtigung für 27,8 Mio. Stricknadeln (Ziffer 1 des Antrags) und dafür einen
Entschädigungsanspruch in Höhe weiterer 3 847 266,88 € nebst Zinsen festzu-
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stellen (Ziffer 2). Das Verwaltungsgericht hat die Klage nach Beweiserhebung
abgewiesen und die Revision nicht zugelassen.
Die dagegen eingelegte Beschwerde, die sich auf die grundsätzliche Bedeutung
der Rechtssache nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO beruft und Verfahrensmängel
im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO rügt, hat keinen Erfolg. Die geltend ge-
machten Zulassungsgründe liegen nicht vor.
1. Die Beschwerdebegründung wirft keine höchstrichterlich noch ungeklärte und
für die Revisionsentscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts
auf, der eine allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukä-
me (vgl. Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310
§ 133 VwGO Nr. 26 S. 14).
a) Die zur Entschädigungsberechnung gestellten Fragen:
„Berechnet sich die nach dem NS-VEntschG zu leistende Entschädi-
gung für bewegliche Sachen nach § 2 Satz 8 NS-VEntschG (‚zweifa-
cher Wiederbeschaffungswert vom 01.04.1956 im Westen’) oder
nach den Grundsätzen der Unternehmensentschädigung (§ 2 Satz 5
NS-VEntschG i.V.m. § 4 EntschG), wenn die zu entschädigenden
beweglichen Sachen früher einmal zu einem Betriebsvermögen ge-
hört hatten, sie aber im Zeitpunkt ihres Verlustes schon jahrelang
nicht mehr zu dem Unternehmen gehörten?“,
„Spielt es für die Anwendbarkeit von § 2 Satz 8 NS-VEntschG oder
§ 2 Satz 5 NS-VEntschG eine Rolle, ob das Unternehmen seinen
Sitz innerhalb oder außerhalb des örtlichen Anwendungsbereichs
des Vermögensgesetzes hatte? Mit anderen Worten: Bemisst sich
die Entschädigung in solchen Fällen schon deshalb nach § 2 Satz 8
NS-VEntschG, weil eine Unternehmensentschädigung bereits wegen
des Unternehmenssitzes außerhalb des örtlichen Anwendungsbe-
reichs des Vermögensgesetzes ausscheidet?“,
„Sind (geschätzte) Betriebsschulden bei der Entschädigungsberech-
nung auch dann zu berücksichtigen, wenn nach dem Grundlagenbe-
scheid nicht die Entziehung eines Unternehmens oder einer Unter-
nehmensbeteiligung, sondern nur der Verlust beweglicher Sachen zu
entschädigen ist (welche vor einer - nicht dem Anwendungsbereich
des Vermögensgesetzes unterliegenden - Unternehmensschädigung
dem Betriebsvermögen entnommen worden waren und erst Jahre
später im Beitrittsgebiet entzogen wurden)?“,
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würden sich im angestrebten Revisionsverfahren nicht stellen, weil das ange-
griffene Urteil sich nicht auf die Entschädigungsberechnung stützt, sondern die
Klage schon mangels Nachweises eines dem Grunde nach bestehenden An-
spruchs auf Entschädigung für 27,8 Mio. Strickmaschinennnadeln abgewiesen
hat. Da der geschädigte Vermögenswert - auch nach Auffassung des Verwal-
tungsgerichts - nicht mittels Schätzung bestimmt werden kann (Urteil vom
31. August 2006 - BVerwG 7 C 16.05 - Buchholz 428 § 31 VermG Nr. 12
Rn. 19 ff., auch zu § 31 Abs. 1 Satz 2 VermG), wäre die Entschädigung auch
nicht hilfsweise für den von der Beklagten geschätzten Lagerbestand zu be-
rechnen.
Unabhängig davon sind die aufgeworfenen Fragen zur Entschädigungsberech-
nung nicht klärungsbedürftig, weil sich ihre Beantwortung bereits aus der bishe-
rigen Rechtsprechung ergibt. Danach ist für die Anwendbarkeit des § 2 Satz 5
oder Satz 8 NS-VEntschG maßgeblich, ob der Entschädigungsberechtigung
eine Unternehmensschädigung im Sinne des § 6 VermG oder eine Einzelschä-
digung im Sinne des § 3 Abs. 1 VermG zugrunde liegt. Das richtet sich nach
dem Gegenstand des Zugriffs und nicht nach der Belegenheit des geschädigten
Gegenstandes (vgl. Urteil vom 13. Dezember 2007 - BVerwG 5 C 11.07 -
BVerwGE 130, 122 = Buchholz 428.42 § 2 NS-VEntschG Nr. 6).
Diese ist nur für die Anwendbarkeit des Vermögensgesetzes von Bedeutung
(Urteile vom 22. April 2009 - BVerwG 8 C 5.08 - Buchholz 428 § 1 Abs. 6
VermG Nr. 50 Rn. 33 f. und vom 25. November 2009 - BVerwG 8 C 12.08 -
BVerwGE 135, 272 = Buchholz 428 § 1 Abs. 6 VermG Nr. 52 Rn. 30 ff. je
m.w.N.). Im Beitrittsgebiet entzogene, bereits Jahre vor der Schädigung aus
dem Betriebsvermögen ausgegliederte bewegliche Sachen könnten also nicht
nach § 2 Satz 5 NS-VEntschG, sondern nur nach Satz 8 der Vorschrift ent-
schädigt werden, der keinen Ansatzpunkt für einen Abzug (geschätzter) Be-
triebsschulden böte. Voraussetzung der Entschädigung nach § 2 Satz 8 NS-
VEntschG ist allerdings die Feststellung einer Entschädigungsberechtigung in
Bezug auf konkrete bewegliche Sachen als Gegenstand der Schädigung, die
dem angegriffenen Urteil zufolge hier fehlt. Der Einwand der Kläger, diese An-
nahme missachte die Bindungswirkung des rechtskräftigen Urteils des Verwal-
tungsgerichts Dresden, rügt eine fehlerhafte Anwendung des § 121 VwGO im
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Einzelfall, ohne dazu Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu formulie-
ren.
b) Die übrigen in der Beschwerdebegründung aufgeworfenen Fragen:
„Kann eine Klage, mit der auf der Basis eines rechtskräftigen Ent-
schädigungsgrundlagenbescheids die teilweise Aufhebung des Ent-
schädigungshöhenbescheides und die Verpflichtung zur Zahlung ei-
ner höheren Entschädigung begehrt wird, in eine Klage auf einen
neuen Grundlagenbescheid umgedeutet werden?“,
„Kann eine Klage, mit der auf der Basis eines rechtskräftigen Ent-
schädigungsgrundlagenbescheids die teilweise Aufhebung des Ent-
schädigungshöhenbescheides und die Verpflichtung zur Zahlung ei-
ner höheren Entschädigung begehrt wird, mit der Begründung abge-
wiesen werden, eine Entschädigungsberechtigung dem Grunde nach
sei gar nicht gegeben?“,
wären im angestrebten Revisionsverfahren nicht entscheidungserheblich, weil
das Verwaltungsgericht Berlin die Klageanträge weder in eine Klage auf einen
neuen Grundlagenbescheid umgedeutet noch die Klageabweisung mit dem
Fehlen einer Entschädigungsberechtigung dem Grunde nach begründet hat.
Im Anschluss an den erstinstanzlichen Erörterungstermin, in dem auf den Man-
gel hinreichender Konkretisierung des Schädigungsgegenstandes hingewiesen
worden war, haben die Kläger ihren ursprünglich nur auf die Festsetzung einer
höheren Entschädigungssumme gerichteten Klageantrag umgestellt. Zuletzt
haben sie ausweislich der Verhandlungsniederschrift des Verwaltungsgerichts
vom 5. August 2011 mit Ziffer 1 ihres Antrags begehrt, den Beklagten zur - prä-
zisierenden - Feststellung einer Entschädigungsberechtigung in Bezug auf
27,8 Mio. Strickmaschinennadeln zu verpflichten, und mit Ziffer 2 des Antrags
die Feststellung eines über die bereits festgesetzte Summe hinausgehenden
Entschädigungsanspruchs dafür verlangt. Über diese Anträge hat das Verwal-
tungsgericht entschieden, ohne sie auszulegen oder gar umzudeuten. Insbe-
sondere ist es nicht von einer „reine[n] Verpflichtungsklage auf einen (neuen)
Entschädigungsgrundlagenbescheid“ ausgegangen. Es hat den Antrag zu 1
wortlautgetreu als Antrag auf Konkretisierung der Berechtigungsfeststellung
hinsichtlich des Schädigungsgegenstandes und damit als vorgreiflich für die mit
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dem Antrag zu 2 begehrte Höhenfestsetzung verstanden. Der Einwand, damit
habe es den Streitgegenstand verkannt, rügt sinngemäß die Anwendung des
§ 88 VwGO im Einzelfall, ohne Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung aufzu-
werfen. Insoweit gilt nichts anderes als für den Vorwurf der Missachtung der
Rechtskraftbindung nach § 121 VwGO.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage auch nicht mit der Begründung abgewie-
sen, den Klägern fehle jede Entschädigungsberechtigung dem Grunde nach. Es
hat vielmehr sinngemäß erklärt, eine solche Annahme verbiete sich wegen der
Rechtskraft des Dresdner Urteils, das eine Entschädigungsberechtigung in Be-
zug auf einen - allerdings noch näher zu bestimmenden - Teil des ehemaligen
Betriebsvermögens festgestellt habe. Verneint hat die Vorinstanz nur die gel-
tend gemachte Berechtigung in Bezug auf die in Ziffer 1 des Klageantrags an-
gegebene Menge von 27,8 Mio. Strickmaschinennadeln, da es aufgrund der
Beweisaufnahme nicht überzeugt war, ein Nadellager dieses Umfangs sei nach
C. verbracht worden. Die dem zugrunde liegende Sachverhalts- und Beweis-
würdigung wird nicht mit substantiierten Rügen nach § 132 Abs. 3 Satz 3 VwGO
angegriffen (vgl. S. 6 f. der Beschwerdebegründung).
2. Dem Beschwerdevorbringen sind auch im Übrigen keine Verfahrensmängel
im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu entnehmen.
Ob die Vorinstanz der Ziffer 1 des Klageantrags als „Minus“ das Begehren einer
Berechtigungsfeststellung in Bezug auf eine geringere Menge Strickmaschi-
nennadeln hätte entnehmen müssen, kann offen bleiben. Die Kläger haben ei-
nen entsprechenden Verstoß gegen § 88 VwGO nicht substantiiert nach § 133
Abs. 3 Satz 3 VwGO gerügt. Sie gehen vielmehr von der Zulässigkeit der vom
Beklagten vorgenommenen Schätzung aus und meinen, das Verwaltungsge-
richt hätte zumindest eine Entschädigungsberechnung auf dieser Grundlage
vornehmen müssen. Dabei übersehen sie, dass bei der Prüfung von Verfah-
rensmängeln von der materiellrechtlichen Rechtsauffassung der Vorinstanz
auszugehen ist und dass diese die Schätzung für unzulässig hielt.
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Entgegen der Auffassung der Kläger hat das Verwaltungsgericht auch keine
„inzidente Anfechtungsklage“ übersehen oder übergangen. Ausweislich des
Tatbestandes des angegriffenen Urteils hat es zutreffend erkannt, dass die Klä-
ger zwar die - inzwischen bestandskräftig - festgesetzte Entschädigungssumme
als Minimum nicht in Frage stellen, aber die Entschädigungsberechnung angrei-
fen und die Festsetzung einer höheren, nach § 2 Satz 8 NS-VEntschG zu ermit-
telnden Entschädigung ohne Abzug von (geschätzten) Betriebsschulden erstre-
ben. Nach der materiellrechtlichen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts
war eine solche Feststellung aber nicht ohne eine Ergänzung der rechtskräfti-
gen Berechtigungsfeststellung durch Präzisierung des zu entschädigenden
Vermögenswerts zu treffen. Die dazu erforderliche Überzeugung vom Verbrin-
gen eines bestimmten, mengenmäßig konkretisierten Lagerbestandes an
Strickmaschinennadeln hat das Verwaltungsgericht aufgrund seiner Sachver-
halts- und Beweiswürdigung nicht gewonnen. Dazu hat die Beschwerde keine
substantiierten Verfahrensrügen erhoben; sie hat auch keinen Aufklärungsman-
gel dargelegt.
Zweifel, ob die geltend gemachte Missachtung der materiellen Rechtskraftbin-
dung nach § 121 VwGO als Verfahrensfehler eingeordnet werden kann (vgl.
Beschluss vom 10. Juli 2003 - BVerwG 1 B 338.02 - Buchholz 310 § 121 VwGO
Nr. 87 S. 18), können dahinstehen. Jedenfalls liegt kein solcher Fehler vor. Die
Vorinstanz hat die materiellrechtliche Bindung durch die Rechtskraft des Urteils
des Verwaltungsgerichts Dresden zur Kenntnis genommen und deren Reich-
weite ermittelt. Seine Annahme, die wegen der Unbestimmtheit des Urteilste-
nors erforderliche Präzisierung ergebe sich nicht aus den Entscheidungsgrün-
den, geht erkennbar davon aus, die dort verwendete Bezeichnung einer Sach-
gesamtheit („Nadellager“) genüge nicht zur Konkretisierung des Schädigungs-
gegenstandes, da es sich um eine unbestimmte, erst durch weitere Aufklärung
zu ermittelnde Menge beweglicher Sachen handele. Deshalb erstrecke sich die
Rechtskraftbindung mangels ausreichender Bestimmtheit der Umschreibung
des Schädigungsgegenstandes - und sei es auch nur im Sinne eines Mindest-
umfangs - nicht auf die Konkretisierung der nach C. verbrachten Lagerbestän-
de. Auf der Grundlage dieser materiellrechtlichen, für die Prüfung eines Verfah-
rensfehlers zugrunde zu legenden Annahmen durfte das Verwaltungsgericht
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durch Zeugenvernehmung Beweis über die Verbringung der Nadeln nach C.
erheben und aufgrund eigener Sachverhalts- und Beweiswürdigung entschei-
den.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung
beruht auf § 47 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3, § 52 GKG.
Prof. Dr. Dr. h.c. Rennert
Dr. von Heimburg
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