Urteil des BVerwG vom 27.06.2013
BVerwG: umweltverträglichkeitsprüfung, vorprüfung, anzeige, ausnahme, genehmigung, sucht, verbandsklage, rechtsverletzung, verfahrensmangel, kunst
BVerwG 4 B 38.12
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 4 B 38.12
VG Halle - 25.08.2009 - AZ: VG 2 A 12/08 HAL
OVG des Landes Sachsen-Anhalt - 25.04.2012 - AZ: OVG 2 L 193/09
In der Verwaltungsstreitsache hat der 4. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. Juni 2013
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Prof. Dr. Rubel
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Petz und Dr. Decker
beschlossen:
Die Beschwerde der Beigeladenen gegen die Nichtzulassung der Revision in dem
Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt vom 25. April 2012
wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 30 000 €
festgesetzt.
Gründe
1 Die auf den Zulassungsgrund nach § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde, über die
der Senat ohne Einbeziehung der neuerlichen Stellungnahme der Klägerin vom 25. Juni 2013
entschieden hat, bleibt ohne Erfolg. Die Rechtssache hat nicht die grundsätzliche Bedeutung (§
132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO), die ihr die Beschwerde beimisst.
2 a) Für rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig hält die Beschwerde die Fragen,
ob ein Verfahren im Sinne des § 5 UmwRG auch dann nach dem 25. Juni 2005 eingeleitet
worden ist, wenn zwar nach diesem Zeitpunkt ein Baugenehmigungsantrag gestellt worden ist,
dieser jedoch Folge einer Freistellungserklärung nach § 15 Abs. 2 Satz 2 BImSchG war, die auf
eine vor diesem Zeitpunkt gestellte Anzeige eines Änderungsvorhabens hin ergangen ist,
und ggf., ob die Regelung des § 5 UmwRG mit Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2003/35/EG vom 26.
Mai 2003 vereinbar ist.
3 Diese Fragen rechtfertigen nicht die Zulassung der Revision.
4 aa) Die Frage, ob hinsichtlich der Stichtagsregelung im Sinne des § 5 Abs. 1 UmwRG auf eine
Anzeige nach § 15 BImSchG abzustellen ist, ist nicht rechtsgrundsätzlich klärungsbedürftig.
5 Rechtsgrundsätzlicher Klärungsbedarf ist schon nicht in einer den Darlegungsanforderungen
des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO genügenden Weise dargelegt. Übergangsregelungen kommt
regelmäßig keine grundsätzliche Bedeutung zu (Beschlüsse vom 10. Juli 1986 - BVerwG 5 B
99.85 - Buchholz 436.36 § 66a BAföG Nr. 1 und vom 9. Juni 2000 - BVerwG 4 B 19.00 - juris
m.w.N.). Gründe für eine Ausnahme von dieser Regel hat die Beschwerde nicht dargetan. Dass
noch Fälle abzuwickeln sind, in denen die Übergangsvorschrift des § 5 Abs. 1 UmwRG noch von
Bedeutung ist, reicht hierfür nicht aus. Erforderlich ist vielmehr, dass sich die aufgeworfene
Rechtsfrage für einen nicht überschaubaren Personenkreis in nicht absehbarer Zukunft weiter
stellen kann (Beschluss vom 8. März 2000 - BVerwG 2 B 64.99 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff.
1 VwGO Nr. 21). Das Vorliegen einer solchen Sachlage muss die Beschwerde genau und im
Einzelnen darlegen. Daran fehlt es hier. Die Beschwerde hat zwar behauptet, dass die Frage
nicht nur wenige auslaufende Fälle betrifft. Sie hat es ferner als ein gängiges Geschehen
bezeichnet, dass je nach dem Ergebnis der nach § 15 BImSchG vorzunehmenden Prüfung ein
an sich UVP-pflichtiges Vorhaben entweder zum Gegenstand eines
Baugenehmigungsverfahrens oder eines immissionsschutzrechtlichen
Genehmigungsverfahrens gemäß § 16 BImSchG gemacht werde. Ausführungen dazu, inwieweit
die aufgeworfene Rechtsfrage für einen nicht überschaubaren Personenkreis auch heute noch
relevant sein könnte, obwohl der in § 5 Abs. 1 UmwRG genannte Stichtag bereits mehr als acht
Jahre zurückliegt, fehlen indes gänzlich. Es ist nicht Aufgabe des Revisionsgerichts, von Amts
wegen aufzuklären, in welchem Umfang eine Revisionsentscheidung insoweit noch
grundsätzlich klärend wirken könnte (vgl. Beschluss vom 13. August 1993 - BVerwG 11 B 65.93 -
MDR 1994, 319). Der unter Bezugnahme auf das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster
vom „8. Dezember 2011“ - 8 D 58/08.AK - (juris Rn. 93
nicht veröffentlicht in NuR 2012, 342>) gegebene Hinweis auf das Scoping-Verfahren nach § 2a
der 9. BImSchV ist insoweit unbehelflich, weil das Oberverwaltungsgericht gerade offen
gelassen hat, ob die Unterrichtung der Genehmigungsbehörde mit dem Ziel der Durchführung
eines Scoping-Verfahrens eine Einleitung des Verfahrens im Sinne des § 5 Abs. 1 UmwRG
darstellt.
6 Im Übrigen lässt sich die aufgeworfene Rechtsfrage mit Hilfe der üblichen Regeln
sachgerechter Gesetzesinterpretation auch ohne Weiteres beantworten (vgl. z.B. Beschluss vom
28. Mai 1997 - BVerwG 4 B 91.97 - NVwZ 1998, 172). Der Gesetzeswortlaut ist eindeutig: Die
Stichtagsregelung des § 5 Abs. 1 UmwRG gilt für „Verfahren nach § 1 Absatz 1 Satz 1“, mithin für
Entscheidungen im Sinne von § 2 Abs. 3 des UVPG über die Zulässigkeit von Vorhaben (§ 2
Abs. 1 Satz 1 UVPG), für die eine Pflicht zur Durchführung einer Umweltverträglichkeitsprüfung
bestehen kann. Nach der Legaldefinition des § 2 Abs. 3 Nr. 1 UVPG sind „Entscheidungen“ -
neben den vorliegend nicht relevanten Linienbestimmungen und Entscheidungen im
vorgelagerten Verfahren nach den §§ 15 und 16 Abs. 1 bis 3 UVPG (Nr. 2) sowie
Satzungsbeschlüsse über Bebauungspläne (Nr. 3) - „Bewilligung, Erlaubnis, Genehmigung,
Planfeststellungsbeschluss und sonstige behördliche Entscheidungen über die Zulässigkeit von
Vorhaben, die in einem Verwaltungsverfahren getroffen werden, mit Ausnahme von
Anzeigeverfahren“. Ein Anzeigeverfahren nach § 15 BImSchG, das nicht auf eine behördliche
Entscheidung über die Zulässigkeit eines Vorhabens, sondern auf eine Entscheidung über
dessen immissionsschutzrechtliche Genehmigungsbedürftigkeit gerichtet ist, fällt damit bereits
nach dem Wortlaut der Vorschrift nicht hierunter. Anzeigeverfahren und
Baugenehmigungsverfahren sind auch nicht Teile eines einheitlichen verfahrensrechtlichen
Geschehensablaufs, wie etwa der Umstand, dass die Freistellungserklärung nach § 15 Abs. 2
Satz 2 BImSchG etwaige nach anderen Fachgesetzen bestehende Genehmigungserfordernisse,
wie z.B. die Notwendigkeit einer Baugenehmigung, unberührt lässt (Urteil vom 7. August 2012 -
BVerwG 7 C 7.11 - juris Rn. 19), und das selbständige Antragserfordernis für das
Baugenehmigungsverfahren belegen. Es unterliegt deshalb keinen Zweifeln, dass es
hinsichtlich der Stichtagsregelung des § 5 Abs. 1 UmwRG allein auf den Zeitpunkt der
Bauantragstellung und nicht auf die Anzeige nach § 15 BImSchG ankommt.
7 bb) Die weitere von der Beschwerde aufgeworfene Frage, ob § 5 UmwRG mit Art. 6 Abs. 1 der
Richtlinie 2003/35/EG vom 26. Mai 2003 vereinbar ist, ist ausdrücklich nur unter der - soeben
verneinten - Prämisse formuliert, dass bereits in der Änderungsanzeige nach § 15 BImSchG eine
Einleitung des Verfahrens im Sinne des § 5 Abs. 1 UmwRG zu sehen wäre.
8 b) Rechtsgrundsätzliche Bedeutung misst die Beschwerde ferner der Frage bei,
ob eine Genehmigungsentscheidung, die ohne Durchführung einer erforderlichen
Umweltverträglichkeitsprüfung erteilt worden ist, auf die Klage eines Dritten hin nach § 4 Abs. 3
i.V.m. Abs. 1 UmwRG allein deswegen aufzuheben ist oder nur dann, wenn nach den
Umständen des Falles die konkrete Möglichkeit besteht, dass die angegriffene Entscheidung
ohne den Verfahrensfehler anders ausgefallen wäre, und wenn durch den Verfahrensfehler
zudem zugleich eine dem Kläger zustehende materielle Rechtsposition betroffen ist.
9 Auch diese Frage rechtfertigt nicht die Zulassung der Revision. Sie lässt sich ebenfalls mit
Hilfe der üblichen Regeln sachgerechter Gesetzesinterpretation beantworten und ist in der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteile vom 20. Dezember 2011 - BVerwG 9 A
30.10 - Buchholz 310 § 42 Abs. 2 VwGO Nr. 33 Rn. 21 f. und - BVerwG 9 A 31.10 - BVerwGE
141, 282 Rn. 34) überdies bereits beantwortet worden:
10 Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 UmwRG kann die Aufhebung einer Entscheidung über die
Zulässigkeit eines Vorhabens nach § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UmwRG verlangt werden, wenn eine
erforderliche Umweltverträglichkeitsprüfung oder UVP-Vorprüfung nicht durchgeführt und nicht
nachgeholt worden ist. Anknüpfungspunkt für die Rechtsfolge einer Aufhebung der
Zulassungsentscheidung ist mithin eine fehlerhaft unterbliebene UVP oder UVP-Vorprüfung.
Diese Fehler sind erheblich, ohne dass es darauf ankommt, ob die verletzten
Verfahrensvorschriften der Gewährleistung eines materiellen subjektiven Rechts dienen und ob
die Fehler die Sachentscheidung beeinflusst haben können, wie es § 46 VwVfG sonst
voraussetzt. Mit dieser Regelung wollte der Gesetzgeber (vgl. Begründung des
Gesetzesentwurfs, BTDrucks 16/2495 S. 14) der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs (Urteil vom 7. Januar 2004 - Rs. C-201/02, Wells - Slg. 2004, I-723 Rn. 54 ff.)
Rechnung tragen, der das fehlerhafte Unterbleiben einer UVP vor Genehmigungserteilung als
wesentlichen Verfahrensfehler behandelt hat, auf den sich der von der Genehmigung Betroffene
ohne Weiteres berufen kann. Die Fehlerfolgenregelung des § 4 Abs. 1 UmwRG gilt in erster
Linie für die umweltrechtliche Verbandsklage, ist aber gemäß § 4 Abs. 3 UmwRG auf
Rechtsbehelfe von Beteiligten nach § 61 Nr. 1 und 2 VwGO entsprechend anwendbar mit der
Folge, dass die genannten Verfahrensfehler auch insoweit unabhängig von den sonst geltenden
einschränkenden Maßgaben (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO) zur Begründetheit der Klage
führen. Darin erschöpft sich allerdings der Regelungsgehalt der Bezugnahme. Weder der
Gesetzeswortlaut noch die Stellung der Vorschrift im Gesetz deuten darauf hin, dass die
Berufung auf die in Rede stehenden Verfahrensfehler weitergehend auch solchen Personen
eröffnet werden sollte, die nicht schon aufgrund einer möglichen Betroffenheit in einem
materiellen Recht klagebefugt im Sinne von § 42 Abs. 2 VwGO sind. Die von der Beschwerde
aufgeworfene Frage lässt sich daher ohne Weiteres dahingehend beantworten, dass eine
Genehmigungsentscheidung, die ohne UVP erteilt worden ist, auf die Klage eines klagebefugten
Dritten nach § 4 Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 UmwRG allein wegen dieses Fehlers aufzuheben ist.
11 Entgegen der Behauptung der Beschwerde hat der 7. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
in seinem Vorabentscheidungsersuchen vom 10. Januar 2012 - BVerwG 7 C 20.11 - (NVwZ
2012, 448) diese Frage weder offen gelassen noch sich gar der zitierten Rechtsprechung des 9.
Senats widersetzt. Der 7. Senat hat die Bestimmung des § 4 Abs. 1 UmwRG vielmehr ebenfalls
als eindeutig angesehen und ausdrücklich bestätigt, dass im Fall einer nicht durchgeführten
UVP oder UVP-Vorprüfung ohne Weiteres ein Aufhebungsanspruch besteht (Beschluss vom 10.
Januar 2012 a.a.O. Rn. 31). Soweit die Beschwerde Gegenteiliges aus Rn. 39 des
Vorlagebeschlusses herzuleiten sucht, verkennt sie, dass sich die dort niedergelegten
Ausführungen auf den Fall einer zwar durchgeführten, aber fehlerhaften UVP beziehen.
Ausschließlich für diesen Fall hat der 7. Senat den Europäischen Gerichtshof im Wege der
Vorabentscheidung um Klärung der Frage gebeten, ob Unionsrecht die Mitgliedstaaten
verpflichtet, die Rechtsfolgenregelung des § 4 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 UmwRG hierauf zu erstrecken
(Beschluss vom 10. Januar 2012 a.a.O. Vorlagefrage 2). Nur auf diesen - hier nicht
streitgegenständlichen - Fall einer fehlerhaft durchgeführten UVP bezieht sich die Formulierung
des 7. Senats (Beschluss vom 10. Januar 2012 a.a.O. Rn. 39 m.w.N.), dass nach der bisherigen
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts eine Rechtsverletzung nur vorliegen kann,
wenn die konkrete Möglichkeit besteht, dass die angefochtene Entscheidung ohne den
Verfahrensmangel anders ausgefallen wäre. Von unterschiedlichen Aussagen zweier Senate
des Bundesverwaltungsgerichts zu derselben Norm aufgrund gleicher Sachverhalte kann
deshalb keine Rede sein.
12 Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestsetzung stützt sich
auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Prof. Dr. Rubel
Petz
Dr. Decker