Urteil des BVerwG vom 21.03.2002

Überwiegendes Öffentliches Interesse, Wiederherstellung, Öffnung, Vollziehung

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BESCHLUSS
BVerwG 6 VR 4.02
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 21. März 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundesverwal-
tungsgericht Dr. G e r h a r d t und V o r m e i e r
beschlossen:
- 2 -
Der Antrag des Antragstellers auf Wiederher-
stellung der aufschiebenden Wirkung seiner Kla-
ge gegen die Verfügung des Bundesministeriums
des Innern vom 8. Dezember 2001 in dem mit
Schriftsatz vom 29. Januar 2002 bezeichneten
Umfang wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfah-
rens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf
5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Der Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung
der Klage ist nach § 80 Abs. 5 i.V.m. Abs. 2 Nr. 4 VwGO zuläs-
sig. Er ist jedoch nicht begründet. Das öffentliche Interesse
an der sofortigen Vollziehung der Verbotsverfügung überwiegt
das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Voll-
ziehung auch insoweit, als er die Öffnung der im Antrag aufge-
führten Gebetsstätten für die Zeit der täglichen Gebete er-
strebt.
Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen
Vollziehung eines Vereinsverbotes entfällt grundsätzlich dann,
wenn die Klage gegen die Verbotsverfügung nach der im Ausset-
zungsverfahren gebotenen summarischen Prüfung aller Voraus-
sicht nach Erfolg haben wird (stRspr; vgl. Beschluss vom
6. Juli 1994 - BVerwG 1 VR 10.93 - Buchholz 402.45 VereinsG
Nr. 17 S. 2 m.w.N.). Der Streitstand erlaubt dem beschließen-
den Senat keine Prognose über den voraussichtlichen Erfolg der
Klage. Über den Antrag ist hiernach aufgrund einer Abwägung
der widerstreitenden Interessen der Beteiligten zu entscheiden
(vgl. Beschluss vom 6. Juli 1994, a.a.O., S. 12; allgemein
J. Schmidt, in: Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000, § 80,
Rn. 68 ff.).
- 3 -
Das öffentliche Interesse an der uneingeschränkten sofortigen
Vollziehbarkeit der Verbotsverfügung besteht darin, dem Kläger
mit sofortiger Wirkung jede legale Möglichkeit zu nehmen, die
Ziele, die das Verbot rechtfertigen, weiter zu verfolgen. Zwar
mag die Gefahr, dass die Öffnung der Gebetsstätten zu bestimm-
ten Gebetszeiten agitatorisch genutzt wird, auch unter Berück-
sichtigung der notwendigen Vor- und Nachlaufzeiten nicht allzu
hoch einzuschätzen sein. Die angestrebte Öffnung dient jedoch,
wovon ohne weiteres ausgegangen werden kann, dem Zusammenhalt
der verbotenen Vereinigung. Als solche ist sie mit dem Zweck
der Verbotsverfügung unvereinbar.
Der Antragsteller hat sein Interesse an der Wiederherstellung
der aufschiebenden Wirkung ausschließlich damit begründet,
dass den islamischen Gläubigen in den durch die Schließung von
Gebetsstätten betroffenen Städten und Gemeinden die Verrich-
tung der vorgeschriebenen Gebete in einer Moschee zu ermögli-
chen sei, und zwar sowohl den zum Kalifatstaat gehörenden wie
auch anderen Gläubigen, die in der Vergangenheit die Moscheen
des Kalifatstaates besucht hätten. Der Antragsteller hat sich
zwar auf seinen Schutz durch die kollektive und individuelle
Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) berufen, jedoch keine In-
teressen näher bezeichnet, die ihm insoweit als Vereinigung
selbst zustehen und die er in diesem Verfahren durchsetzen
will. Der beschließende Senat lässt die von der Antragsgegne-
rin aufgeworfene Frage unentschieden, inwiefern sich der An-
tragsteller im vorliegenden Verfahren auf religiöse Belange
seiner Mitglieder und evtl. sogar anderer Muslime stützen
kann, und bezieht diese Belange in die Abwägung ein.
Das Interesse der Muslime in den betroffenen Städten und Ge-
meinden an einer Öffnung der Moscheen des Kalifatstaates hat
kein großes Gewicht. An allen in Rede stehenden Orten gibt es
Moscheen - für die von der Antragsgegnerin nicht erwähnte Ge-
meinde Garching gilt dies jedenfalls wegen ihrer unmittelbaren
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Nachbarschaft zu München -, in die die Gläubigen ausweichen
können. Der Antragsteller hat nicht substantiiert dargelegt
- und es ist auch sonst nicht ersichtlich -, dass durch die
Schließung seiner Moscheen Gläubige namentlich bei der Erfül-
lung ihrer Gebetspflichten an Freitagen und Feiertagen unzu-
mutbaren Erschwernissen ausgesetzt werden. Auch wenn - was un-
terstellt werden kann - andere Moscheen nicht in unmittelbarer
Nähe der Moscheen des Antragstellers liegen, besagt dies
nichts über eine zusätzliche Belastung der Gläubigen, die das
Maß erheblich überschritte, auf das sich eine religiöse Min-
derheit gegebenenfalls einzustellen hat.
Aus dem Gesagten folgt für die Abwägung: Der Gefahr der Ver-
festigung einer möglicherweise zu Recht verbotenen Vereinigung
bei Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage
stehen bei Fortdauer der sofortigen Vollziehbarkeit keine
greifbaren Nachteile des Antragstellers selbst und auf Seiten
der mittelbar betroffenen Gläubigen allenfalls mäßige Er-
schwernisse gegenüber, die sich im Rahmen hinnehmbarer Verän-
derungen der Lebensbedingungen halten. Das öffentliche Inte-
resse an vorbeugender Gefahrenabwehr überwiegt die genannten
Nachteile und rechtfertigt die sofortige Vollziehbarkeit der
angefochtenen Verfügung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Der Wert
des Streitgegenstandes folgt aus § 13 Abs. 1 Satz 1, § 20
Abs. 3 GKG.
Bardenhewer Gerhardt Vormeier