Urteil des BVerwG vom 22.03.2006

Zusammensetzung des Gerichts, Bier, Willkür, Rechtsirrtum

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 PB 5.06
OVG 5 M 17/05
In der Personalvertretungssache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 22. März 2006
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hahn, Büge und
Dr. Bier
beschlossen:
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss
des Oberverwaltungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt
- Fachsenat für Landespersonalvertretungssachen - vom
20. Februar 2006 wird verworfen.
G r ü n d e :
Die vom Antragsteller so genannte außerordentliche Beschwerde ist unzuläs-
sig, weil das Gesetz sie nicht vorsieht. Wie das Bundesarbeitsgericht in Anwen-
dung der - hier gemäß § 78 Abs. 2 SAPersVG entsprechend anwendbaren -
Vorschriften des Arbeitsgerichtsgesetzes bereits entschieden hat, ist nach der
Neufassung des § 78 ArbGG sowie der §§ 567 ff. ZPO durch das Zivilprozess-
reformgesetz vom 27. Juli 2001 (BGBl I S. 1887) die Beschwerde nur noch in
den gesetzlich geregelten Fällen statthaft. Eine außerordentliche Beschwerde
wegen greifbarer Gesetzwidrigkeit neben den im Gesetz genannten Fällen
scheidet damit aus (BAG, Beschluss vom 8. August 2005 - 5 AZB 31/05 - NJW
2005, 3231; ebenso zu § 152 VwGO: BVerwG, Beschlüsse vom 16. Mai 2002
- BVerwG 6 B 28.02 - Buchholz 310 § 152 VwGO Nr. 14 und vom 9. Februar
2005 - BVerwG 1 VR 3.05 - Buchholz 310 § 152 VwGO Nr. 15; a.A. zu § 128
FGO: BFH, Beschluss vom 8. September 2005 - IV B 42/05 - BFHE 210, 225).
Davon abgesehen müsste der Beschwerde aber auch in der Sache der Erfolg
versagt bleiben, weil es an einer greifbaren Gesetzesverletzung fehlt. Der An-
tragsteller rügt einen Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG, weil der Vorsit-
zende des Fachsenats über den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gemäß
§ 944 ZPO wegen besonderer Eilbedürftigkeit allein entschieden hat, obwohl
§ 78 Abs. 2 SAPersVG i.V.m. § 85 Abs. 2 Satz 2 ArbGG die Anwendung dieser
Bestimmung ausschließe. Dem ist nicht zu folgen. Nach ständiger Rechtspre-
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chung des Bundesverfassungsgerichts wird Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht
schon bei jeder irrtümlichen Überschreitung der dem Gericht vom Gesetz gezo-
genen Grenzen verletzt. Eine auf einem „greifbaren“ Gesetzesverstoß beruhen-
de und dementsprechend auch verfassungswidrige Entziehung des gesetzli-
chen Richters liegt in der fehlerhaften Anwendung einer Verfahrensnorm erst
dann, wenn deren Handhabung schlechthin unvertretbar ist und deshalb außer-
halb der Gesetzlichkeit steht (BVerfG, Beschlüsse vom 3. November 1992
- 1 BvR 137/92 - BVerfGE 87, 282 <285> und vom 10. Juni 1997 - 2 BvR
1516/96 - BVerfGE 96, 68 <77>). So liegt der Fall hier erkennbar nicht.
Nicht frei von Zweifeln ist bereits, ob § 85 Abs. 2 Satz 2 ArbGG, der in einstwei-
ligen Verfügungssachen „Entscheidungen durch Beschluss der Kammer“ vor-
sieht, in personalvertretungsrechtlichen Verfahren überhaupt Anwendung findet.
So hat der beschließende Senat - allerdings in Bezug auf seine eigene Beset-
zung in Beschwerdeverfahren - bereits entschieden, dass die Verweisung des
§ 83 Abs. 2 BPersVG und der entsprechenden landespersonalvertretungsrecht-
lichen Bestimmungen auf die Vorschriften des Arbeitsgerichtsgesetzes sich
grundsätzlich nicht auf die Zusammensetzung des Gerichts erstreckt, diese sich
vielmehr, soweit das Personalvertretungsrecht keine speziellen Regelungen
trifft, nach der Verwaltungsgerichtsordnung richtet (Beschluss vom 1. November
2001 - BVerwG 6 P 10.01 - BVerwGE 115, 223 <224 f.> = Buchholz 252 § 52
SBG Nr. 2).
Geht man dennoch von der Anwendbarkeit des § 85 Abs. 2 Satz 2 ArbGG auf
personalvertretungsrechtliche Eilbeschlüsse der Verwaltungs- und Oberverwal-
tungsgerichte aus, besteht über das Verhältnis dieser Norm zu § 944 ZPO, der
in dringenden Fällen außerhalb der mündlichen Verhandlung Eilentscheidungen
des Vorsitzenden erlaubt, keine Einigkeit. Während § 85 Abs. 2 Satz 2 ArbGG
in der Rechtsprechung zum Personalvertretungsrecht teilweise so verstanden
wird, dass er in Eilverfahren stets die volle Spruchkörperbesetzung vorschreibt
(so OVG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 21. November 2001 - 6 B
272/01.PVL - LKV 2003, 103; ähnlich bereits VGH Kassel, Beschluss vom
1. Juni 1994 - TL 864/94 - PersR 1994, 431; s.a. BAG, Beschluss vom 28. Au-
gust 1991 - 7 ABR 72/90 - BAGE 68, 232), halten andere Oberverwaltungsge-
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richte § 944 ZPO unbeschadet der in § 85 Abs. 2 Satz 2 ArbGG getroffenen
Regelung für anwendbar (OVG Münster, Beschluss vom 5. April 1995 - 1 B
580/95.PVL - juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 19. Juni 2003 - 18 MP 7/03 -
PersR 2003, 423).
Vor diesem Hintergrund ist die Auslegung des Verfahrensrechts durch die Vor-
instanz jedenfalls nicht schlechthin unvertretbar. Dasselbe gilt auch für die wei-
tere Annahme des Oberverwaltungsgerichts, im vorliegenden Fall habe eine
besondere, die Vorsitzendenentscheidung gemäß § 944 ZPO rechtfertigende
Eilbedürftigkeit vorgelegen. Selbst wenn die eine oder die andere Einschätzung
nicht frei von Rechtsirrtum sein sollte, wäre sie ersichtlich nicht von Willkür ge-
prägt und somit nicht greifbar gesetzwidrig.
Dr. Hahn
Büge
Dr. Bier
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