Urteil des BVerwG vom 09.07.2003

Systematische Auslegung, Zustellung, Empfehlung, Rechtsmittelbelehrung

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BESCHLUSS
BVerwG 6 PB 4.03
VGH PL 15 S 643/02
In der Personalvertretungssache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. Juli 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. B a r d e n h e w e r
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. G e r h a r d t und V o r m e i e r
beschlossen:
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Die Entscheidung über die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde in
dem Beschluss des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg
- Fachsenat für Personalvertretungssachen - vom 11. März 2003 wird
aufgehoben.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat Erfolg.
1. Die Beschwerde ist zulässig. Soweit der Antragsteller die Einlegungsfrist gemäß § 86
Abs. 2 BaWüPersVG, § 92 a Satz 2, § 72 a Abs. 2 Satz 1 ArbGG versäumt hat, ist ihm Wie-
dereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 233 ZPO). Der Antragsteller hat glaub-
haft dargelegt, dass er die Einlegungsfrist ohne Verschulden seines Bevollmächtigten ver-
säumt hat. Insbesondere durfte er darauf vertrauen, dass der Beschwerdeschriftsatz bei re-
gelmäßigem Betriebsablauf rechtzeitig beim Bundesverwaltungsgericht eingehen werde (vgl.
BVerfG NJW 1992, 1952).
2. Die Beschwerde ist begründet. Die angefochtene Entscheidung weicht, wie der Antragstel-
ler zutreffend dargelegt hat, von den Beschlüssen des Bundesverwaltungsgerichts vom
24. April 2002 - BVerwG 6 P 4.01 - (Buchholz 251.4 § 86 HmbPersVG Nr. 9) und vom
18. Juni 2002 - BVerwG 6 P 12.01 - (Buchholz 251.7 § 72 NWPersVG Nr. 28) ab. Dies führt
zur Zulassung der Rechtsbeschwerde (§ 86 Abs. 2 BaWüPersVG, § 92 a, § 72 Abs. 2 Nr. 2
ArbGG).
Die angefochtene Entscheidung beruht, wie sich insbesondere aus der Bezugnahme u.a. auf
den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. Januar 1996 - BVerwG 6 P 2.93 -
(Buchholz 250 § 69 BPersVG Nr. 29) ergibt, auf dem abstrakten Rechtssatz, dass in den
Fällen des § 104 Satz 3 BPersVG ein Mitbestimmungsrecht des Personalrats ganz ausge-
schlossen ist, wenn der jeweilige Landesgesetzgeber verfassungsrechtlich gebotene Ein-
schränkungen des Mitbestimmungsrechts nicht normiert hat. Diesen Rechtssatz hat der be-
schließende Senat in den erwähnten Entscheidungen sowie im Beschluss vom 24. April
2002 - BVerwG 6 P 3.01 - (BVerwGE 116, 216) aufgegeben. Er hält es nunmehr für geboten,
die Möglichkeiten einer verfassungskonformen Auslegung des jeweiligen Personalvertre-
tungsgesetzes auszuloten, die den gesetzlich vorgesehenen Katalog von Mitbestimmungs-
tatbeständen mit der Maßgabe bestehen lässt, dass der Beschluss der Einigungsstelle als
Empfehlung gilt. Indem der Verwaltungsgerichtshof seiner Entscheidung einen Rechtssatz
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zugrunde gelegt hat, der in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu Gunsten
eines anderen Rechtssatzes aufgegeben worden ist, ist er von diesem nunmehr geltenden
Rechtssatz abgewichen. Entgegen der Auffassung des Beteiligten kann der Beschwerde
nicht unter Hinweis auf den Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 28. April 1998
(- 9 AZN 227/98 - BAGE 88, 296 <297>) der Erfolg versagt werden. Diese Entscheidung
bezieht sich nicht auf den hier vorliegenden Fall, dass sich das Beschwerdegericht einen
fallübergreifenden Rechtssatz aus der Rechtsprechung des Rechtsbeschwerdegerichts zu
Eigen gemacht hat, der von dem Rechtsbeschwerdegericht in seiner nachfolgenden Recht-
sprechung aufgegeben wurde.
Der Beteiligte hält die Beschwerde darüber hinaus auch deshalb für unbegründet, weil eine
Abweichung voraussetze, dass die angefochtene und die als divergierend bezeichnete Ent-
scheidung entweder auf der Grundlage derselben Vorschrift oder auf der Grundlage wörtlich
übereinstimmender und in einem für die systematische Auslegung bedeutsamen gleicharti-
gen Regelungszusammenhang stehender Vorschriften ergangen seien, und diese Voraus-
setzung hier nicht erfüllt sei. Der Einwand greift nicht durch. Der Rechtssatz, von dem der
Verwaltungsgerichtshof abweicht, ist vom beschließenden Senat zwar in Verfahren, denen
das Hamburgische bzw. das Nordrhein-Westfälische Personalvertretungsgesetz zugrunde zu
legen war, formuliert worden, er greift aber über Einzelheiten des jeweiligen Personalvertre-
tungsgesetzes hinaus und ist jedenfalls dann divergenzfähig, wenn das anzuwendende Per-
sonalvertretungsrecht in seinen die eingeschränkte Mitbestimmung betreffenden Regelungen
strukturell mit den genannten Personalvertretungsgesetzen übereinstimmt. Dies ist hier der
Fall. Der Beschluss der Einigungsstelle bindet gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 BaWüPersVG die
Beteiligten. Dies gilt nicht für die Mitbestimmung in Personalangelegenheiten der Beamten
(§ 75 BaWüPersVG) und in den in § 79 Abs. 3 BaWüPersVG genannten mitbestimmungs-
pflichtigen Angelegenheiten; in diesen Fällen beschließt die Einigungsstelle eine Empfehlung
(§ 71 Abs. 5 Satz 2, § 69 Abs. 4 Satz 3 BaWüPersVG). Das baden-württembergische Perso-
nalvertretungsrecht entspricht, soweit hier von Belang, damit in seiner Grundstruktur dem
hamburgischen und dem nordrhein-westfälischen Recht, nach dem die Beschlüsse der Eini-
gungsstelle grundsätzlich verbindlich sind, aber für bestimmte Mitbestimmungstatbestände
als Empfehlungen gelten (vgl. § 81 Abs. 5 und 6 HmbPersVG; § 67 Abs. 6 Satz 2, § 66
Abs. 7 Satz 4 NWPersVG). Im Rechtsbeschwerdeverfahren wird zu klären sein, welche Be-
deutung die vom Beteiligten hervorgehobenen Unterschiede, namentlich in der Entwicklung
der Gesetzeslage in Baden-Württemberg, für die Möglichkeit einer verfassungskonformen
Auslegung haben.
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Rechtsmittelbelehrung
Die Rechtsbeschwerde muss innerhalb eines Monats nach Zustellung dieses Beschlusses
beim Bundesverwaltungsgericht, Simsonplatz 1, 04107 Leipzig, schriftlich eingelegt und in-
nerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Beschlusses schriftlich begründet werden.
Die Rechtsbeschwerdeschrift und die Rechtsbeschwerdebegründung müssen von einem
Rechtsanwalt unterzeichnet sein.
Bardenhewer Gerhardt Vormeier