Urteil des BVerwG vom 29.03.2006

Beendigung, Auflage, Faber, Wahrscheinlichkeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 PB 2.06
OVG 18 LP 17/03
In der Personalvertretungssache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 29. März 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge und
Vormeier
beschlossen:
Die Beschwerde der Beteiligten zu 1 gegen die Nichtzu-
lassung der Rechtsbeschwerde im Beschluss des Nieder-
sächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 30. November
2005 wird zurückgewiesen.
G r ü n d e :
Die Beschwerde der Beteiligten zu 1 gegen die Nichtzulassung der Rechtsbe-
schwerde im Beschluss des Oberverwaltungsgerichts gemäß § 83 Abs. 2
NdsPersVG i.V.m. § 92a Satz 1 ArbGG hat keinen Erfolg. Die allein erhobene
Grundsatzrüge gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1, § 92 Abs. 1 Satz 2 ArbGG greift nicht
durch. Den in der Rechtsbeschwerdebegründung aufgeworfenen Rechtsfragen
kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu.
1. In Abschnitt 1 ihrer Beschwerdebegründung wirft die Beteiligte zu 1 sinnge-
mäß die Frage auf, ob sich die Begründetheit eines Auflösungsbegehrens des
Arbeitgebers nach § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BPersVG nach dem Zeitpunkt der
Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses oder nach dem Zeitpunkt der
letzten Anhörung in der gerichtlichen Tatsacheninstanz beurteilt. Diese Frage
rechtfertigt die Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht, weil sie in der Senats-
rechtsprechung geklärt ist.
Nach ständiger und gefestigter Senatsrechtsprechung ist für die Beurteilung der
Frage, ob dem Arbeitgeber gemäß § 9 Abs. 4 Satz 1 BPersVG unter Berück-
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sichtigung aller Umstände die Weiterbeschäftigung des Jugendvertreters zu-
gemutet werden kann, der Zeitpunkt der Beendigung des Berufsausbildungs-
verhältnisses maßgeblich (vgl. Beschlüsse vom 30. Oktober 1987 - BVerwG 6 P
25.85 - BVerwGE 78, 223 <225 ff.>; vom 2. November 1994 - BVerwG 6 P
39.93 - BVerwGE 97, 68 <75>; vom 2. November 1994 - BVerwG 6 P 48.93 -
Buchholz 250 § 9 BPersVG Nr. 11 S. 14; vom 9. September 1999 - BVerwG 6 P
5.98 - BVerwGE 109, 295 <298>; vom 17. Mai 2000 - BVerwG 6 P 8.99 -
Buchholz 250 § 9 BPersVG Nr. 19 S. 10; vom 1. November 2005 - BVerwG 6 P
3.05 - juris Rn. 21). Diese Rechtsprechung findet in der Kommentarliteratur zum
Bundespersonalvertretungsgesetz einhellige Zustimmung (vgl. Faber, in:
Lorenzen/Etzel/Gerhold/ Schlatmann/Rehak/Faber, Bundespersonalvertre-
tungsgesetz, § 9 Rn. 59; Altvater/Hamer/Ohnesorg/Peiseler, Bundespersonal-
vertretungsgesetz, 5. Auflage 2004, § 9 Rn. 15; Ilbertz/Widmaier, Bundesper-
sonalvertretungsgesetz, 10. Auflage 2004, § 9 Rn. 16; Fischer/Goeres/
Gronimus, in: GKÖD Bd. V K § 9 Rn. 53). Sie steht im Einklang mit der ständi-
gen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur sinngleichen Regelung in
§ 78a Abs. 4 BetrVG (vgl. Urteile vom 16. Januar 1979 - 6 AZR 153/77 - AP
Nr. 5 zu § 78a BetrVG 1972 Bl. 180 R, 181; vom 15. Januar 1980 - 6 AZR
361/79 - BAGE 32, 285 <290>; Beschlüsse vom 29. November 1989 - 7 ABR
67/88 - BAGE 63, 319 <325>; vom 24. Juli 1991 - 7 ABR 68/90 - BAGE 68, 187
<194>; vom 16. August 1995 - 7 ABR 52/94 - AP Nr. 25 zu § 78a BetrVG 1972
Bl. 876; vom 6. November 1996 - 7 ABR 54/95 - BAGE 84, 294 <296>; vom
12. November 1997 - 7 ABR 63/96 - BAGE 87, 105 <107>).
Die vorbezeichnete Rechtsprechung beruht im Wesentlichen auf der Erwägung,
dass sowohl der Feststellungsantrag nach § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 BPersVG als
auch der Auflösungsantrag nach § 9 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BPersVG an densel-
ben Vorgang anknüpfen, nämlich die Überleitung des Jugendvertreters vom Be-
rufsausbildungsverhältnis in das durch die gesetzliche Fiktion des § 9 Abs. 2
BPersVG begründete Arbeitsverhältnis, und übereinstimmend darauf abzielen,
den Arbeitgeber von der Erfüllung des Weiterbeschäftigungsanspruchs von
vornherein, jedenfalls aber alsbald freizustellen, wenn ihm die Weiterbeschäfti-
gung nicht zuzumuten ist. Deswegen kann maßgeblich für die Unzumutbar-
keitsfrage nur der Zeitpunkt sein, zu dem das Arbeitsverhältnis nach § 9 Abs. 2
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oder 3 BPersVG begründet werden soll (vgl. Beschluss vom 30. Oktober 1987
a.a.O. S. 225; BAG, Beschluss vom 29. November 1989 a.a.O. S. 325).
Die Ausführungen in der Beschwerdebegründung gebieten es nicht, die vorbe-
zeichnete Frage erneut als klärungsbedürftig zu betrachten. Sie stützen sich im
Wesentlichen auf die Anmerkung von Strieder (BB 1983, 579) zum Urteil des
Bundesarbeitsgerichts vom 15. Januar 1980 (a.a.O.) und auf den Beschluss
des Landesarbeitsgerichts Hamm vom 30. März 1988 - 3 TaBV 100/87
(DB 1988, 2057). Die dort vorgenommene Kritik an der Rechtsprechung des
Bundesarbeitsgerichts ist überholt. Sie bezog sich darauf, dass das Bundesar-
beitsgericht damals noch im Feststellungsbegehren nach § 78a Abs. 4 Satz 1
Nr. 1 BetrVG und im Auflösungsbegehren nach § 78a Abs. 4 Satz 1 Nr. 2
BetrVG unterschiedliche Streitgegenstände gesehen hatte, von denen das ers-
tere Begehren auch nach Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses den
Eintritt der Fiktion nach § 78a Abs. 2 BetrVG hindern sollte. Diese Rechtspre-
chung hat das Bundesarbeitsgericht aber bereits in seinem Beschluss vom
29. November 1989 aufgegeben (a.a.O. S. 324 ff.). Seitdem gilt: Wird über ei-
nen Feststellungsantrag bis zur Beendigung des Berufsausbildungsverhältnis-
ses nicht rechtskräftig entschieden, so gilt beim Vorliegen der Voraussetzungen
des § 78a Abs. 2 oder 3 BetrVG ein Arbeitsverhältnis als begründet. In einem
solchen Fall bedarf es keiner förmlichen Antragsänderung; vielmehr wandelt
sich der Feststellungsantrag seinem Gegenstand nach ohne Weiteres in einen
Auflösungsantrag um (a.a.O. S. 329). Zu einem entsprechenden Ergebnis war
mit im Wesentlichen übereinstimmender Begründung der Senat bereits zuvor in
seiner Rechtsprechung zu § 9 BPersVG gelangt; er hatte sich dabei auch mit
der entgegenstehenden Auffassung von Strieder auseinander gesetzt (vgl. Be-
schluss vom 30. Oktober 1987 a.a.O. S. 225 ff.).
Die zur Stützung ihrer Auffassung von der Beteiligten zu 1 weiter angeführten
Meinungsäußerungen aktueller betriebsverfassungsrechtlicher Kommentierun-
gen (Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, Betriebsverfassungsgesetz,
23. Auflage 2006, § 78a Rn. 44; Kittner, in: Däubler/Kittner/Klebe, Betriebsver-
fassungsgesetz, 8. Auflage 2002, § 78a Rn. 39; aber in Abweichung von der
Vorauflage bereits Übereinstimmung mit BAG: Kreutz, in: GK-BetrVG,
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5. Auflage 1995, § 78a Rn. 96; ebenso jetzt: Oetker, in: GK-BetrVG, 8. Auflage
2005, § 78a Rn. 127) enthalten keine neuen, in der zitierten höchstrichterlichen
Rechtsprechung noch nicht bedachten Gesichtspunkte. Insbesondere sind da-
nach für das Abstellen auf das Ausbildungsende als maßgeblichen Zeitpunkt
- jedenfalls seit dem Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom 29. November
1989 (a.a.O.) und dem Senatsbeschluss vom 30. Oktober 1987 (a.a.O.) - nicht
Kündigungsschutzgesichtspunkte wesentlich, sondern der systematische Zu-
sammenhang zwischen dem Auflösungsbegehren des Arbeitgebers nach § 9
Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BPersVG und dem Beginn des gesetzlich fingierten Arbeits-
verhältnisses nach § 9 Abs. 2 BPersVG. Angesichts dessen bedeutet es auch
keinen immanenten Widerspruch, wenn nach dieser Rechtsprechung die Un-
zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung erst mit Rechtskraft der gerichtlichen
Auflösungsentscheidung zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses führt (vgl.
BAG, Beschluss vom 29. November 1989 a.a.O. S. 330; Beschluss vom
12. November 1997 - 7 ABR 73/96 - BAGE 87, 110 <114>).
2. In Abschnitt 2 der Beschwerdebegründung wird die Frage aufgeworfen, ob
dem Arbeitgeber die Weiterbeschäftigung einer Jugendvertreterin dann zuzu-
muten ist, wenn zwar nicht im Zeitpunkt der Beendigung des Ausbildungsver-
hältnisses, wohl aber wenige Wochen später eine Stelle frei wird. Diese Frage
ist entgegen der Auffassung der Beteiligten zu 1 bereits durch die unter 1. zi-
tierte ständige höchstrichterliche Rechtsprechung beantwortet, wonach die Zu-
mutbarkeit der Weiterbeschäftigung sich nach den Verhältnissen im Zeitpunkt
der Beendigung des Berufsausbildungsverhältnisses beurteilt. Es kommt daher
darauf an, ob zu diesem Zeitpunkt ein ausbildungsadäquater Vollzeitdauerar-
beitsplatz vorhanden ist. Die Berücksichtigung eines später frei werdenden Ar-
beitsplatzes ist daher ausgeschlossen, und zwar unabhängig davon, wie sicher
die Prognose ist.
Abweichendes ergibt sich nicht aus dem in der Beschwerdebegründung zitier-
ten Senatsbeschluss vom 2. November 1994 - BVerwG 6 P 48.93 - (a.a.O.
S. 14). In dieser Entscheidung ist der Senat der Auffassung der Vorinstanz ent-
gegengetreten, welche die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung von einer
Prognose über den voraussichtlichen weiteren Arbeitsanfall beim Arbeitgeber
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abhängig machen wollte. Der Senat hat demgegenüber klargestellt, dass allein
darauf abzustellen ist, ob im Zeitpunkt der Beendigung des Berufsausbildungs-
verhältnisses Arbeitsplätze vorhanden waren. Die weiteren Ausführungen be-
kräftigen, dass die Bezugnahme auf diesen Zeitpunkt eine sichere Entschei-
dungsgrundlage vermittelt, die Personalbedarfprognosen wegen der damit typi-
scherweise verbundenen Unsicherheit vorzuziehen ist. Sie besagen nicht, dass
Entwicklungen nach Ausbildungsende je nach dem Grad der Wahrscheinlichkeit
oder dem Ausmaß des zeitlichen Abstandes berücksichtigt werden könnten,
und sie lassen eine derartige Möglichkeit auch nicht offen.
Die Beteiligte zu 1 übersieht zudem, dass die Zulassung von - wie auch immer
gesicherten - Prognosen nicht nur zugunsten der Jugendvertreterin wirken
könnte, sondern auch zugunsten des Arbeitgebers erfolgen müsste. Letzteres
wäre aber schon im Ansatz mit dem Schutzzweck der Norm nicht vereinbar. Die
Kontinuität der Amtsführung eines personalvertretungsrechtlichen Organs wür-
de in erheblichem Maße beeinträchtigt, wenn eine Jugendvertreterin nur wegen
eines künftig erst auftretenden Ereignisses an der Fortsetzung ihrer Amtstätig-
keit gehindert würde (vgl. BAG, Beschluss vom 16. August 1995 a.a.O.
Bl. 876 R).
Die Maßgeblichkeit des Ausbildungsendes für die gerichtliche Entscheidung
nach § 9 Abs. 4 BPersVG erschöpft sich gleichwohl nicht in einer strengen
Stichtagsregelung. Dem Arbeitgeber kann es nämlich im Einzelfall zumutbar
sein, den Jugendvertreter auf Dauer in einem Arbeitsverhältnis zu beschäftigen,
weil er einen kurz vor der Beendigung der Berufsausbildung freigewordenen
Arbeitsplatz wiederbesetzt hat, statt ihn für einen nach § 9 BPersVG geschütz-
ten Auszubildenden freizuhalten. Das gilt regelmäßig bei einer Besetzung, die
innerhalb von drei Monaten vor dem vereinbarten Ende des Ausbildungsver-
hältnisses vorgenommen wird. Der Arbeitgeber muss nämlich innerhalb des
Dreimonats-Zeitraumes des § 9 Abs. 2 BPersVG mit einem Übernahmeverlan-
gen rechnen (vgl. Beschluss vom 1. November 2005 a.a.O. Rn. 39; BAG, Be-
schluss vom 12. November 1997 - 7 ABR 63/96 - a.a.O. S. 108). Die Effektivität
des durch § 9 BPersVG gewährleisteten qualifizierten Diskriminierungsschutzes
wird somit nicht durch Berücksichtigung jenseits des Ausbildungsendes liegen-
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der Entwicklungen hergestellt, sondern durch die Einbeziehung tatsächlicher
Vorgänge vor diesem Zeitpunkt mit Blick auf die in § 9 Abs. 2 BPersVG getrof-
fene Fristenregelung.
Dr. Bardenhewer
Büge
Vormeier
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Personalvertretungsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquelle:
BPersVG
§ 9
Stichworte:
Weiterbeschäftigung des Jugendvertreters; maßgeblicher Zeitpunkt für die Be-
urteilung der Zumutbarkeit.
Leitsatz:
Die Zumutbarkeit der Weiterbeschäftigung des Jugendvertreters beurteilt sich
nach den Verhältnissen im Zeitpunkt der Beendigung des Berufsausbildungs-
verhältnisses; nach diesem Zeitpunkt frei werdende Arbeitsplätze sind nicht zu
berücksichtigen.
Beschluss des 6. Senats vom 29. März 2006 - BVerwG 6 PB 2.06
I. VG Braunschweig vom 19.08.2003 - Az: VG 10 A 7/03 -
II. OVG Lüneburg vom 30.11.2005 - Az.: OVG 18 LP 17/03 -