Urteil des BVerwG vom 19.08.2010

Anspruch auf Vertretung, Vertreter, Amt, Zusammenarbeit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 PB 10.10
OVG 16 A 2424/08.PVL
In der Personalvertretungssache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. August 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge und Vormeier
beschlossen:
Die Beschwerde des Beteiligten zu 1 gegen die Nichtzu-
lassung der Rechtsbeschwerde im Beschluss des Fach-
senats für Landespersonalvertretungssachen des Ober-
verwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen
vom 26. April 2010 wird zurückgewiesen.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Beteiligten zu 1 gegen die Nichtzulassung der Rechtsbe-
schwerde durch das Oberverwaltungsgericht gemäß § 79 Abs. 2 Satz 1
NWPersVG i.V.m. § 92a Satz 1 ArbGG hat keinen Erfolg. Die allein erhobene
Grundsatzrüge gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1, § 92 Abs. 1 Satz 2 ArbGG greift nicht
durch. Die in der Beschwerdebegründung aufgeworfenen Rechtsfragen haben
keine grundsätzliche Bedeutung.
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1. Der Beteiligte zu 1 wirft zunächst folgende Frage auf: „Folgt aus § 29
LPVG NRW eine verbindliche Reihenfolge der Wahlgänge, bei deren Durchfüh-
rung in den Fällen, in denen sich bei den Wahlgängen der Gruppenvertreter
nach § 29 Abs. 1 LPVG NRW kein Vertreter der betreffenden Gruppe zur Ver-
fügung stellt, das Wahlrecht auf die andere Gruppe übergeht und die Wahlgän-
ge zum erweiterten Vorstand gemäß § 29 Abs. 4 LPVG NRW erst nach erfolg-
reicher Durchführung der Wahl der geborenen Vorstandsmitglieder durchge-
führt werden dürfen?“ Diese Frage ist anhand des Gesetzeswortlauts und be-
reits vorliegender höchstrichterlicher Rechtsprechung mit dem Oberverwal-
tungsgericht eindeutig zu bejahen, so dass es ihrer Klärung im Rechtsbe-
schwerdeverfahren nicht bedarf.
a) Die Wahl der Gruppenvorstandsmitglieder („Gruppensprecher“) findet vor der
Wahl der Ergänzungsmitglieder statt. Dies drängt sich bereits nach Wortlaut
und Systematik der einschlägigen Bestimmungen in § 29 NWPersVG auf (vgl.
Beschlüsse vom 13. Juni 1957 - BVerwG 2 CO 3.56 - BVerwGE 5, 118 <121> =
Buchholz 238.3 § 31 PersVG Nr. 1 S. 4 und vom 24. Oktober 1957 - BVerwG
2 CO 7.57 - BVerwGE 5, 309 <310 f.> = Buchholz 238.3 § 31 PersVG Nr. 3
S. 8 f.; Altvater/Hamer/Kröll/Lemcke/Peiseler, Bundespersonalvertretungsge-
setz, 6. Aufl. 2008, § 33 Rn. 2; Jacobs, in: Richardi/Dörner/Weber, Personalver-
tretungsrecht, 3. Aufl. 2008, § 32 Rn. 13, § 33 Rn. 9; Fischer/Goeres/Gronimus,
in: GKÖD Bd. V, K § 33 Rn. 5).
Die Grundregelung für jede Vorstandsbildung in einem mehrköpfigen Personal-
rat findet sich in den Bestimmungen des § 29 Abs. 1 NWPersVG. Diese besa-
gen, dass dem Vorstand ein Mitglied jeder im Personalrat vertretenen Gruppe
angehören muss und dass die Vertreter jeder Gruppe das auf sie entfallende
Vorstandsmitglied wählen (§ 29 Abs. 1 Satz 2 und 3 NWPersVG). Für große
Personalräte ab 11 Mitgliedern ist zusätzlich vorgesehen, dass der Personalrat
aus seiner Mitte mit einfacher Stimmenmehrheit zwei weitere Mitglieder in den
Vorstand wählt (§ 29 Abs. 4 Satz 1 NWPersVG). Die Wahl des erweiterten Per-
sonalratsvorstandes vollzieht sich somit in zwei getrennten Verfahrensabschnit-
ten nach jeweils verschiedenen Grundsätzen, wobei der Wahl der ersten beiden
Vorstandsmitglieder („Gruppensprecher“) durch die beiden im Personalrat
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vertretenen Gruppen die Wahl der Ergänzungsmitglieder durch das Personal-
ratsplenum folgt (vgl. Beschluss vom 12. Januar 2009 - BVerwG 6 PB 24.08 -
Buchholz 251.7 § 42 NWPersVG Nr. 6 Rn. 4).
Die einzuhaltende Reihenfolge spiegelt den Vorrang des Gruppenprinzips bei
der Vorstandsbildung wider. Zunächst muss feststehen, welche Personalrats-
mitglieder das besondere Vertrauen ihrer Gruppe genießen und daher gemäß
§ 29 Abs. 2 NWPersVG primär für das Amt des Vorsitzenden oder seines Stell-
vertreters in Betracht kommen (vgl. Beschlüsse vom 13. Mai 1966 - BVerwG
7 P 4.66 - Buchholz 238.3 § 31 PersVG Nr. 10 S. 28, vom 16. September 1977
- BVerwG 7 P 1.75 - BVerwGE 54, 323 <326> = Buchholz 238.3 A § 32
BPersVG Nr. 1 S. 3 und vom 7. Juni 1984 - BVerwG 6 P 29.83 - Buchholz
238.3 A § 32 BPersVG Nr. 4 S. 3 f.). Dagegen handelt es sich bei der Bestel-
lung der Ergänzungsmitglieder um eine Zuwahl, die bei großen Personalräten
dem Umfang der diesen übertragenen Aufgaben Rechnung trägt (vgl. Be-
schluss vom 13. Juni 1957 a.a.O. S. 121 bzw. S. 4).
Die beschriebene Reihenfolge ist schließlich mit Blick auf die Minderheiten-
schutzregelung in § 29 Abs. 4 Satz 2 NWPersVG unvermeidlich. Die zweit-
stärkste Liste hat nur dann Anspruch auf eines der beiden Ergänzungsmitglie-
der, wenn sie nicht bereits bei der Wahl der Gruppensprecher berücksichtigt
wurde.
b) Macht eine Gruppe im Personalrat von ihrem Recht, das auf sie entfallende
Vorstandsmitglied zu wählen, keinen Gebrauch, so verliert sie ihren Anspruch
auf Bestellung eines Gruppensprechers. Dies hat das beschließende Gericht
auf der Grundlage des Personalvertretungsgesetzes (PersVG) vom 5. August
1955, BGBl I S. 477, bereits entschieden (vgl. Beschlüsse vom 20. Juni 1958
- BVerwG 7 P 13.57 - BVerwGE 7, 140 <145 f.> = Buchholz 238.3 § 31 PersVG
Nr. 4 S. 14 und vom 1. August 1958 - BVerwG 7 P 21.57 - BVerwGE 7, 197
<198> = Buchholz 238.3 § 31 PersVG Nr. 5 S. 16). Die Bestimmungen jenes
Gesetzes, soweit hier von Bedeutung, unterscheiden sich nicht wesentlich von
den hier einschlägigen Vorschriften des nordrhein-westfälischen Personalver-
tretungsgesetzes, so dass eine abweichende Beurteilung nicht geboten ist. An
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der zitierten Rechtsprechung wird trotz in der Literatur verbreiteter Kritik fest-
gehalten (vgl. Gerhold, in: Lorenzen/Etzel/Gerhold/Schlatmann/Rehak/Faber,
Bundespersonalvertretungsgesetz, § 32 Rn. 12; Altvater u.a., a.a.O. § 32 Rn. 9;
Ilbertz/Widmaier, Bundespersonalvertretungsgesetz, 11. Aufl. 2008, § 32
Rn. 12; Fischer/Goeres/Gronimus, a.a.O. K § 32 Rn. 9; Jacobs, a.a.O. § 32
Rn. 22).
Im zitierten Beschluss vom 20. Juni 1958 wurde § 13 Abs. 1 Satz 3 PersVG
analog angewandt. Die damit vergleichbare Bestimmung ist § 14 Abs. 1 Satz 3
NWPersVG, wonach eine Gruppe ihren Anspruch auf Vertretung im Personalrat
verliert, wenn sie von ihrem Recht, im Personalrat vertreten zu sein, keinen
Gebrauch macht. Die Regelung knüpft an die zwingende Vorgabe in § 14
Abs. 1 Satz 1 NWPersVG an, wonach beide Gruppen - soweit in der Dienststel-
le vorhanden - im Personalrat vertreten sein müssen, und gewährleistet die Bil-
dung eines Personalrats auch in dem Fall, in welchem eine Gruppe ihre Mitwir-
kung verweigert. Der Analogieschluss stützt sich darauf, dass die Vorstandsbe-
stellung nur eine weitere Stufe innerhalb der Vertretung von Gruppeninteressen
im Personalrat darstellt und dass die Interessen der durch die verweigerte Mit-
wirkung ihrer Vertreter von einer Beteiligung im Vorstand ausgeschaltete Grup-
pe hinter dem Interesse der Gesamtheit der Beschäftigten an einem aktionsfä-
higen Personalrat zurücktreten müssen (vgl. Beschluss vom 20. Juni 1958
a.a.O. S. 145 f. bzw. S. 14).
Die analoge Anwendung von § 14 Abs. 1 Satz 3 NWPersVG bedeutet zugleich,
dass das Recht zur Wahl des zweiten Gruppensprechers auf die andere Grup-
pe übergeht. Demgemäß wurde im zitierten Beschluss vom 20. Juni 1958 eine
Vorstandswahl bestätigt, in welcher statt eines Vertreters der Beamtengruppe
ein zweiter Vertreter der Arbeitergruppe gewählt worden war (a.a.O. S. 141
bzw. S. 10).
Gegen diese Rechtsprechung kann nicht eingewandt werden, der fragliche
Gruppensprecherposten könne einstweilen frei bleiben und später jederzeit von
den Gruppenvertretern im Personalrat besetzt werden. Die Regelungen zur Be-
stellung des Personalratsvorstandes in § 29 Abs. 1 und 4 NWPersVG sind
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- ebenso wie die gleichlautenden Bestimmungen in § 32 Abs. 1 und § 33
BPersVG - zwingendes Recht. Sie stehen nicht zur Disposition des Personal-
rats und seiner Mitglieder. Die Frage ihrer strikten, vollständigen und zeitge-
rechten Anwendung folgt insbesondere nicht der Logik wahltaktischer oder ver-
bandspolitischer Motive. Die zitierten Bestimmungen besagen eindeutig, dass
ein großer, aus beiden Gruppen zusammengesetzter Personalrat einen vier-
köpfigen Vorstand hat, der in der konstituierenden Sitzung des neu gewählten
Personalrats zu wählen ist (§ 30 Abs. 1 NWPersVG). Die entsprechende He-
ranziehung der Regelung in § 14 Abs. 1 Satz 3 NWPersVG stellt für den Regel-
fall sicher, dass der Personalratsvorstand jene Größe erreicht, den der Gesetz-
geber im Interesse eines aktionsfähigen Personalrats für geboten hält. Sie ist
zudem geeignet, auf die Gruppenvertreter im Personalrat Druck dahin auszu-
üben, bei Vermeidung eines Rechtsverlustes Blockadehaltungen zu überwinden
und zu konstruktiver Zusammenarbeit zurückzufinden; insoweit dient sie auch
der Effektivität des Gruppenprinzips. Das Recht des Personalratsplenums, bei
der Wahl der Ergänzungsmitglieder nach § 29 Abs. 4 NWPersVG auf
Personalratsmitglieder aus beiden Gruppen zurückzugreifen, bleibt unberührt.
2. Die zweite in der Beschwerdebegründung formulierte Frage stützt sich auf
die Annahme, die Mitglieder der zweitstärksten Liste missbrauchten ihre
Rechtsposition aus § 29 Abs. 4 Satz 2 NWPersVG, wenn sie nicht auf „Ange-
bote“ der Personalratsmehrheit eingingen. Diese Annahme geht offensichtlich
fehl, wie sich aus einschlägiger Senatsrechtsprechung ergibt.
Eine Pflicht zur Annahme eines Vorstandsamtes besteht für die Personalrats-
mitglieder nicht. Lehnen alle Mitglieder der zweitstärksten Liste mit Ausnahme
eines Mitgliedes das Amt des Vorstandsmitgliedes ab, dann bleibt dem Perso-
nalrat keine andere Wahl, als dieses Mitglied in den erweiterten Vorstand auf-
zunehmen. Die „Wahl“ beschränkt sich in diesem Fall auf die schlichte Auf-
nahme dieses einen Mitglieds in den erweiterten Vorstand, ohne dass es dazu
einer Mehrheitsentscheidung des Personalrats bedarf. Der Gesetzgeber wollte
durch die Regelung in § 29 Abs. 4 Satz 2 NWPersVG unter allen Umständen
sicherstellen, dass starke Wählerminderheiten durch ein Personalratsmitglied
im Vorstand vertreten sind. Diesem Gesetzeszweck entspricht es, dass die Min-
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derheit einen Kandidaten durchsetzen kann, der nicht das Vertrauen der Per-
sonalratsmehrheit besitzt. Es ist nicht sachwidrig, wenn die Minderheit, die ge-
schützt werden soll, einen gewissen Einfluss hat und dadurch ein Personal-
ratsmitglied ihres Vertrauens in den Vorstand bringen kann (so zur gleich lau-
tenden Regelung in § 33 Satz 2 BPersVG: Beschluss vom 28. Februar 1979
- BVerwG 6 P 81.78 - Buchholz 238.3 A § 33 BPersVG Nr. 2 S. 6 f.).
Wie sich aus § 29 Abs. 1 und 4 NWPersVG ergibt, kann die Mehrheitsliste im
Regelfall mindestens drei der vier Sitze des erweiterten Personalratsvorstandes
besetzen. Die zweitstärkste Liste kann unter der Voraussetzung, dass auf sie
mindestens ein Drittel der abgegebenen Stellen entfallen sind, einen Sitz bean-
spruchen. Mehr kann sie auch dann nicht verlangen, wenn der Abstand zur
Mehrheitsliste nur knapp ist. Der Minderheitenschutz ist effektiv, wenn die Min-
derheitenliste den einen ihr zustehenden Vorstandsposten mit einer Kandidatin
besetzen kann, die sie in besonderem Maße für geeignet hält, ihre dienststel-
lenbezogenen und verbandspolitischen Vorstellungen in die Vorstandsarbeit
einzubringen (vgl. in diesem Zusammenhang: Beschluss vom 12. Juni 1984
- BVerwG 6 P 13.83 - BVerwGE 69, 311 <312> = Buchholz 238.3 A § 33
BPersVG Nr. 3 S. 2). Sie handelt nicht missbräuchlich, wenn sie das Angebot
der Mehrheit, ihr das Amt des Gruppensprechers der Beamten zu verschaffen,
nicht annimmt, weil sie sich von einem bestimmten ihr zugehörigen Personal-
ratsmitglied der Arbeitnehmergruppe die nachhaltigste Vertretung ihrer Vorstel-
lungen im Vorstand verspricht. Die Mehrheit kann dies nicht mit der Begrün-
dung verweigern, mit der von der Minderheit gewünschten Vertreterin sei eine
Zusammenarbeit nicht möglich (vgl. den Schriftsatz des Beteiligten zu 1 vom
19. Oktober 2009 an die Antragsteller). Es versteht sich, dass die Vertreterin
der Minderheit im Personalratsvorstand dort keine Obstruktionspolitik betreiben
darf; davor ist die Mehrheit geschützt (§ 25 Abs. 1 NWPersVG).
Neumann
Büge
Vormeier
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Personalvertretungsrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
NWPersVG § 29
Stichworte:
Wahl des Personalratsvorstandes; Gruppensprecher und Ergänzungsmitglie-
der; Verlust des Rechts auf Wahl eines Gruppensprechers; Recht der zweit-
stärksten Liste auf Besetzung eines Vorstandspostens.
Leitsätze:
1. Die Wahl der Gruppenvorstandsmitglieder des Personalrats findet vor der
Wahl der Ergänzungsmitglieder statt.
2. Macht eine Gruppe im Personalrat von ihrem Recht, das auf sie entfallende
Vorstandsmitglied zu wählen, keinen Gebrauch, so verliert sie ihren Anspruch
auf Bestellung eines Gruppensprechers.
3. Die Personalratsmitglieder der zweitstärksten Liste missbrauchen nicht ihre
Rechtsposition aus § 29 Abs. 4 Satz 2 NWPersVG, wenn sie das Angebot der
Mehrheit, ihnen das Amt des Gruppensprechers der Beamten zu verschaffen,
nicht annehmen, sondern darauf beharren, dass eine Arbeitnehmervertreterin
oder ein –vertreter aus ihren Reihen in den Vorstand aufgenommen wird.
Beschluss des 6. Senats vom 19. August 2010 - BVerwG 6 PB 10.10
I. VG Köln
vom 06.08.2008 - Az.: VG 34 K 3976/08.PVL -
II. OVG Münster vom 26.04.2010 - Az.: OVG 16 A 2424/08.PVL -