Urteil des BVerwG vom 09.03.2012

Tarifvertrag, Bekanntmachung, Arbeitsbedingungen, Form

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 P 27.10
OVG 60 PV 6.09
In der Personalvertretungssache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. März 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge, Dr. Möller, Hahn und
Prof. Dr. Hecker
beschlossen:
Die Rechtsbeschwerde des Beteiligten gegen den Be-
schluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg
- Fachsenat für Personalvertretungssachen des Landes
Berlin - vom 16. September 2010 wird zurückgewiesen.
G r ü n d e :
I
Im Streit steht die Wirksamkeit der von den Verfahrensbeteiligten am 11. Okto-
ber 2007 geschlossenen „Dienstvereinbarung zur Regulierung der Arbeitszeit
unter Berücksichtigung der Notwendigkeit des Anlegens von Dienst- und
Schutzkleidung“.
Diese gilt nach ihrem § 1 für alle Beschäftigten des Beteiligten, die zur Aus-
übung ihrer Tätigkeit Dienst- oder Schutzkleidung anlegen bzw. sie im An-
schluss hieran wieder ablegen müssen.
§ 2 der Vereinbarung hat folgenden Wortlaut:
„Die Arbeitszeit beginnt und endet dort, wo die Mitarbeite-
rin / der Mitarbeiter ihre / seine Arbeitsleistung zu erbrin-
gen hat.
Das Anlegen von Dienst- bzw. Schutzkleidung ist bereits
als Arbeitsleistung anzusehen und gehört zu den arbeits-
vertraglichen Pflichten.
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Unter Berücksichtigung der dadurch anfallenden Zeiten
wird eine durchschnittliche Umkleidezeit von jeweils 6 Mi-
nuten nach Dienstbeginn und vor Dienstende (täglich ins-
gesamt 12 Minuten) vereinbart.
Diese Zeiten sind bei der Dienstplangestaltung / Arbeits-
einsatzplanung zu berücksichtigen.“
Am 18. Dezember 2007 schloss der Beteiligte mit dem Landesbezirk Berlin-
Brandenburg der Gewerkschaft ver.di auf Grundlage bereits am 18. Oktober
2006 vereinbarter Eckpunkte den „Tarifvertrag für die Charité - Universitätsme-
dizin Berlin“ (im folgenden TV-Charité), der ausweislich seines § 39 rückwirkend
zum 1. Januar 2007 in Kraft gesetzt wurde.
Über die Frage der Wirksamkeit der Dienstvereinbarung vom 11. Oktober 2007
kam es zum Streit zwischen den Verfahrensbeteiligten.
Das Verwaltungsgericht hat auf Antrag des Antragstellers festgestellt, dass die
Dienstvereinbarung wirksam ist. Das Oberverwaltungsgericht hat mit Beschluss
vom 16. September 2010 die hiergegen erhobene Beschwerde des Beteiligten
unter Zulassung der Rechtsbeschwerde zurückgewiesen. Zur Begründung hat
es im Wesentlichen ausgeführt: Die Zuständigkeit des Antragstellers für den
Abschluss der Dienstvereinbarung könne nicht ernstlich in Zweifel gezogen
werden, da diese Beschäftigte des Beteiligten aus beiden seiner personalvertre-
tungsrechtlichen Dienststellen im Sinne von § 27 Abs. 1 Satz 1 Berliner Univer-
sitätsmedizingesetz erfasse. Die bislang fehlende Bekanntmachung der Dienst-
vereinbarung stehe ihrer Wirksamkeit nicht entgegen, da die Bekanntmachung
keine Wirksamkeitsvoraussetzung darstelle. Die Dienstvereinbarung weise
auch keine materiell-rechtlichen Fehler auf. Insbesondere schließe § 75 Satz 1
BlnPersVG eine Dienstvereinbarung zu Umkleidezeiten nicht aus, obwohl § 15
Abs. 7 BAT/BAT-O hierzu eine tarifvertragliche Regelung enthalte. § 75 Satz 1
BlnPersVG setze in Bezug auf das Merkmal der tarifvertraglichen Regelung
voraus, dass die Dienststelle an die in Rede stehende tarifvertragliche Rege-
lung tarifgebunden sei, was hier hinsichtlich des Beteiligten nach dem Austritt
seiner Rechtsvorgängerinnen aus den Tarifgemeinschaften der Arbeitgeber
KAV und VAdöD am 10. Januar 2003 und der ersten nachfolgenden Änderung
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von BAT/BAT-O zum 31. Januar 2003 nicht mehr der Fall gewesen sei. Auch
das Merkmal der Tarifüblichkeit komme nicht zum Tragen. Zwar gelte ein ge-
kündigter und gemäß § 4 Abs. 5 TVG nachwirkender Tarifvertrag regelmäßig
weiterhin als tarifüblich. Jedoch sei die Tarifüblichkeit spätestens damit entfal-
len, dass die Tarifvertragsparteien am 18. Oktober 2006 Eckpunkte für einen
Tarifvertrag vereinbart hätten, der keine dem § 15 Abs. 7 BAT/BAT-O ver-
gleichbare Regelung mehr habe enthalten sollen. Hinzukomme, dass in Anbe-
tracht der mit Abschluss von TVöD und TV-L entstandenen Insellage Berlins
das Ende der alten Tarifregelungen und die Angleichung an die neuen Tarifver-
träge jedenfalls mittelfristig absehbar gewesen sei.
Der Beteiligte hat hiergegen Rechtsbeschwerde eingelegt und begründet diese
im Wesentlichen wie folgt: Die Bekanntmachung sei, wie Wortlaut und systema-
tischer Zusammenhang von § 74 Abs. 1 Satz 2 BlnPersVG ergeben würden,
eine Wirksamkeitsvoraussetzung für die Dienstvereinbarung. Für das Merkmal
der Regelung durch Tarifvertrag im Sinne von § 75 Satz 1 BlnPersVG komme
es auf die Tarifbindung nicht an. Im Lichte des Beschlusses des Bundes-
arbeitsgerichts vom 22. März 2005 (- 1 ABR 64/03 -) sei maßgeblich, dass der
Beteiligte die Möglichkeit gehabt habe, wie das Land Berlin mit den tarifschlie-
ßenden Gewerkschaften die Geltung des § 15 Abs. 7 BAT/BAT-O zu vereinba-
ren; jedenfalls sei der Beteiligte in den fachlichen Geltungsbereich des BAT ge-
fallen. Das Oberverwaltungsgericht habe im Hinblick auf das Merkmal der Tarif-
üblichkeit verkannt, dass die Geltung des § 15 BAT/BAT-O in den Arbeitsver-
trägen der Beschäftigten bestimmt gewesen sei. Aus dem Umstand der rück-
wirkenden Inkraftsetzung des TV-Charité, der keine mit § 15 Abs. 7 BAT/BAT-O
vergleichbare Regelung enthalten habe, sei ein Wegfall der Tarifüblichkeit nicht
abzuleiten. Die Tarifüblichkeit entfalle nur dann, wenn die Tarifvertragsparteien
keinen Tarifvertrag mehr anstreben würden. Dies stehe nicht fest. Derzeit wür-
den Verhandlungen mit den Gewerkschaften ver.di und DBB über Änderungen
und Ergänzungen des TV-Charité stattfinden. Inhalt der Vereinbarungen würde
dabei auch die tarifliche Regelung von Umkleidezeiten sein können.
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Der Beteiligte beantragt,
den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Berlin-
Brandenburg vom 16. September 2010 sowie den Be-
schluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. November
2008 abzuändern und den Antrag zurückzuweisen.
Der Antragsteller hat sich im Rechtsbeschwerdeverfahren nicht geäußert.
II
Die zulässige Rechtsbeschwerde des Beteiligten ist unbegründet. Im Ergebnis
zu Recht hat das Oberverwaltungsgericht die Wirksamkeit der Dienstvereinba-
rung vom 11. Oktober 2007 bejaht.
1. Dienstvereinbarungen im Sinne von § 74 BlnPersVG bedürfen nicht der Be-
kanntmachung, um rechtliche Wirksamkeit zu erlangen. Soweit § 74 Abs. 1
Satz 2 BlnPersVG für die Dienststelle (vgl. § 78 Abs. 1 BlnPersVG) die Pflicht
begründet, Dienstvereinbarungen in geeigneter Weise bekanntzumachen, han-
delt es sich - im Gegensatz zu den am selben Ort normierten Geboten der
schriftlichen Niederlegung und der beiderseitigen Unterzeichnung - nicht um
eine Wirksamkeitsbedingung, sondern um eine bloße Ordnungsvorschrift. Der
Senat schließt sich insoweit der überwiegenden Literaturauffassung zum nahe-
zu wortgleich formulierten § 73 Abs. 1 Satz 2 BPersVG an (Fischer/Goeres/
Gronimus, in: GKÖD, Bd. V, Stand 2011, K § 73 Rn. 14; Rehak, in: Lorenzen/
Etzel/Gerhold/Schlatmann/Rehak/Faber, BPersVG, 170. EL 2012, § 73 Rn. 8;
Altvater, in: Altvater/Baden/Kröll/Lemcke/Peiseler, BPersVG, 7. Aufl. 2011, § 73
Rn. 9; a.A. Ilbertz/Widmaier, Bundespersonalvertretungsgesetz, 11. Aufl. 2008,
§ 73 Rn. 14). Auch der in § 77 Abs. 2 Satz 3 BetrVG vorgeschriebenen Ausle-
gung von Betriebsvereinbarungen wird überwiegend keine konstitutive Bedeu-
tung beigemessen (Fitting, Betriebsverfassungsgesetz, 25. Aufl. 2010, § 77
Rn. 25 m.w.N.).
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Entscheidend gegen ein Verständnis der Bekanntmachung als Wirksamkeits-
bedingung spricht, wie bereits das Oberverwaltungsgericht ausgeführt hat, das
Fehlen gesetzlicher Regelungen über Form und Verfahren der Publikation.
Auch außerhalb des Berliner Personalvertretungsgesetzes existieren keine
rechtlichen Vorgaben - oder auch nur als Standard anerkannte praktische Ge-
pflogenheiten - zur Art und Weise dienststelleninterner Veröffentlichungen. In-
folgedessen wäre bei konstitutiver Bedeutung der Bekanntmachung in vielen
Fällen mit Unsicherheiten behaftet, ob eine Dienstvereinbarung als wirksam
zustande gekommen angesehen werden könnte oder nicht. Dies kann vom Ge-
setzgeber nicht beabsichtigt gewesen sein.
Soweit hiergegen in der Literatur mit Blick auf die Qualität der Dienst- bzw. Be-
triebsvereinbarung als Normenvertrag vereinzelt der rechtsstaatliche Grundsatz
der Normenpublizität angeführt wird (Fischer, BB 2000, 354 <360 f.>), ist an-
zumerken, dass § 74 Abs. 1 Satz 2 BlnPersVG die Bekanntgabe der Vereinba-
rung durchaus vorsieht. Es liegt im eigenen Interesse der Dienststelle, dieser
Vorgabe nachzukommen; die Personalvertretung wird sie hierzu anhalten und
ihrerseits die Beschäftigten regelmäßig über von ihr ausgehandelte Dienstver-
einbarungen informieren.
2. Der Wirksamkeit der Dienstvereinbarung vom 11. Oktober 2007 steht § 75
Satz 1 BlnPersVG nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift können Arbeitsentgel-
te und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder
üblicherweise geregelt werden, nicht Gegenstand einer Dienstvereinbarung
sein.
Die Dienstvereinbarung vom 11. Oktober 2007 regelt zwar ersichtlich Arbeits-
bedingungen im Sinne von § 75 Satz 1 BlnPersVG. Zweifelhaft ist aber bereits,
ob sie überhaupt dem Anwendungsbereich dieser Vorschrift unterfällt oder nicht
vielmehr anhand von § 85 BlnPersVG zu beurteilen ist (unten a). Die Frage be-
darf indes keiner abschließenden Klärung, weil von der tariflichen Regelung in
§ 15 Abs. 7 BAT/BAT-O, wonach die Arbeitszeit an der Arbeitsstelle bzw. am
Arbeitsplatz beginnt und endet, im vorliegenden Fall jedenfalls keine Sperrwir-
kung im Sinne von § 75 Satz 1 BlnPersVG ausgehen konnte (unten b).
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a) Die Wirksamkeit einer Dienstvereinbarung beurteilt sich dann nicht nach § 75
Satz 1 BlnPersVG, wenn diese Angelegenheiten regelt, die einem Mitbestim-
mungstatbestand nach § 85 Abs. 1 BlnPersVG unterfallen. Dies in Betracht zu
ziehen, gibt der vorliegende Fall Anlass.
aa) § 75 Satz 1 BlnPersVG entspricht § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, der für Ar-
beitsentgelte und sonstige Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt
sind oder üblicherweise geregelt werden, eine Regelung durch Betriebsverein-
barung ausschließt. Eine gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG verstoßende Be-
triebsvereinbarung ist unwirksam (BAG, Urteil vom 26. August 2008 - 1 AZR
354/07 - BAGE 127, 297 <299>; stRspr). § 75 Satz 1 BlnPersVG dient wie § 77
Abs. 3 Satz 1 BetrVG dem Schutz der ausgeübten und aktualisierten Tarifauto-
nomie. Er ist ersichtlich in Anlehnung an diese Vorschrift formuliert und damit
entsprechend auszulegen (vgl. BAG, Urteil vom 27. Juni 2006 - 3 AZR 255/05 -
BAGE 118, 326 <334> zur vergleichbaren Vorschrift des § 70 PersVG NW).
bb) Durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist seit längerem ge-
klärt, dass der Tarifvorbehalt gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG nicht einem
Mitbestimmungsrecht gemäß § 87 Abs. 1 BetrVG - dem § 85 Abs. 1 BlnPersVG
entspricht - entgegensteht und dass dieses Mitbestimmungsrecht auch durch
Abschluss einer Betriebsvereinbarung wahrgenommen werden kann (BAG, Be-
schluss vom 3. Dezember 1991 - GS 2.90 - BAGE 69, 134 <150>; seitdem
stRspr). Zur Prüfung der Wirksamkeit von Betriebsvereinbarungen in Mitbe-
stimmungsangelegenheiten nach § 87 Abs. 1 BetrVG ist § 77 Abs. 3 Satz 1
BetrVG demnach nicht heranzuziehen. Dies gewinnt praktische Bedeutung ins-
besondere in Fällen, in denen der Arbeitgeber nicht tarifgebunden ist. Denn der
Tarifvorrang gemäß dem Eingangssatz in § 87 Abs. 1 BetrVG kommt nur bei
Tarifbindung des Arbeitgebers zum Tragen (BAG, Beschluss vom 10. August
1993 - 1 ABR 21/93 - AP Nr. 12 zu § 87 BetrVG 1972 Auszahlung Bl. 950;
stRspr), der Tarifvorbehalt gemäß § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG hingegen auch
ohne diese (BAG, Urteil vom 26. August 2008 a.a.O. S. 299; stRspr). Auch im
Rahmen von § 85 BlnPersVG greift der dort normierte Tarifvorrang nur bei Ta-
rifbindung des Arbeitgebers (Beschlüsse vom 20. November 2008 - BVerwG
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6 P 17.07 - Buchholz 251.2 § 85 BlnPersVG Nr. 15 S. 8 und vom 2. Februar
2009 - BVerwG 6 P 2.08 - Buchholz 251.2 § 85 BlnPersVG Nr. 16 S. 17).
cc) Das Verhältnis zwischen § 75 Satz 1 BlnPersVG und § 85 Abs. 1
BlnPersVG ist entsprechend dem Verhältnis zwischen § 77 Abs. 3 Satz 1
BetrVG und § 87 Abs. 1 BetrVG zu bestimmen. Es sind keine Gründe ersicht-
lich, die an dieser Stelle Abweichungen zwischen der betriebsverfassungsrecht-
lichen und der personalvertretungsrechtlichen Normauslegung gebieten wür-
den. Das Bundesarbeitsgericht hat die Unanwendbarkeit des § 77 Abs. 3 Satz 1
BetrVG im Bereich der zwingenden Mitbestimmung des § 87 Abs. 1 BetrVG im
Kern darauf gestützt, dass ein Interessensschutz der Beschäftigten bei bloßer
Tarifüblichkeit bzw. bei Fehlen einer bindenden tarifvertraglichen Vereinbarung
- also in Konstellationen, in denen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG dennoch zu einer
Regelungssperre für die Betriebsparteien führen könnte - nicht bereits herge-
stellt ist und es vor diesem Hintergrund zweckwidrig wäre, die Mitbestimmung
durch Abschluss von Betriebsvereinbarungen auszuschließen und die Parteien
hierzu auf formlose Regelungsabsprachen zu beschränken (BAG, Beschluss
vom 3. Dezember 1991 a.a.O. S. 152). Diese Erwägung erscheint im personal-
vertretungsrechtlichen Kontext gleichermaßen überzeugend. § 75 Satz 1
BlnPersVG muss daher als Maßstab für die rechtliche Beurteilung solcher
Dienstvereinbarungen ausscheiden, die Mitbestimmungsangelegenheiten nach
§ 85 Abs. 1 BlnPersVG regeln. Regelt eine Dienstvereinbarung hingegen Ange-
legenheiten jenseits der zwingenden gesetzlichen Beteiligungstatbestände, was
nach dem Berliner Personalvertretungsgesetz anders als nach dem Bundes-
personalvertretungsgesetz zulässig ist (vgl. Beschluss vom 6. Oktober 2010
- BVerwG 6 PB 11.10 - juris Rn. 8), so kommt der Maßstab des § 75 Satz 1
BlnPersVG zur Anwendung. Anders als das Oberverwaltungsgericht ange-
nommen hat, setzt diese Vorschrift ebenso wenig wie § 77 Abs. 3 Satz 1
BetrVG die Tarifbindung des Arbeitgebers voraus (so bereits für § 83 Abs. 1
Satz 2 HmbPersVG, der § 75 Satz 1 BlnPersVG entspricht: BAG, Urteil vom
23. Mai 2007 - 10 AZR 403/06 - juris Rn. 26).
dd) Bei Abschluss der Dienstvereinbarung vom 11. Oktober 2007 unterlag der
Beteiligte keiner Tarifbindung. Seine Rechtsvorgängerinnen waren am 10. Ja-
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nuar 2003 aus den Tarifgemeinschaften der Arbeitgeber KAV und VAdöD aus-
getreten, so dass die Nachbindung an den BAT/BAT-O im Sinne von § 3 Abs. 3
TVG mit der ersten nachfolgenden Änderung zum 31. Januar 2003 (78. Tarif-
vertrag zur Änderung des BAT und 13. Tarifvertrag zur Änderung des BAT-O)
endete (vgl. Beschluss vom 20. November 2008 a.a.O. S. 8; allgemein: BAG,
Urteil vom 7. November 2001 - 4 AZR 703/00 - AP Nr. 11 zu § 3 TVG Ver-
bandsaustritt Bl. 786). Unterfiele die Dienstvereinbarung einem der Mitbestim-
mungstatbestände des § 85 Abs. 1 BlnPersVG, stünde folglich der dort normier-
te Tarifvorrang ihrer Wirksamkeit nicht entgegen.
ee) Ob die Dienstvereinbarung vom 11. Oktober 2007 dem - hier allein in Frage
kommenden - Mitbestimmungstatbestand des § 85 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
BlnPersVG unterfällt, ist zweifelhaft.
(1) Indem die Dienstvereinbarung das Anlegen der Dienst- und Schutzkleidung
der geschuldeten Arbeitszeit der Bediensteten zuordnet und hierfür eine Zeit-
spanne von sechs Minuten als Rechengröße für die Dienstplangestaltung bzw.
Arbeitszeitplanung festlegt, erfüllt ihr Regelungsgegenstand das Merkmal der
„Arbeitszeit“ im Sinne von § 85 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BlnPersVG. In der Recht-
sprechung des Bundesarbeitsgerichts ist geklärt, dass Umkleidezeiten dann zur
Arbeitszeit im Sinne der Parallelvorschrift in § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG zählen,
wenn sie einem fremden Bedürfnis dienen und nicht zugleich ein eigenes Be-
dürfnis erfüllen (BAG, Beschluss vom 10. November 2009 - 1 ABR 54/08 - AP
Nr. 125 zu § 87 BetrVG 1972 Arbeitszeit Rn. 15). Nichts anderes kann im per-
sonalvertretungsrechtlichen Zusammenhang gelten. Die Fremdnützigkeit der
hier in Rede stehenden Dienst- und Schutzkleidung ergibt sich aus dem Um-
stand, dass sie in erster Linie hygienischen Zwecken und damit der Erfüllung
der betrieblichen Pflichten des Beteiligten dient.
(2) Weniger eindeutig beantwortet sich demgegenüber die Frage, ob die
Dienstvereinbarung darüber hinaus auch eine Regelung zu „Beginn und Ende“
der Arbeitszeit im Sinne von § 85 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BlnPersVG trifft. Hieran
ließe sich deshalb zweifeln, weil sie keine entsprechenden Zeitpunkte fixiert,
was aber nach der Rechtsprechung erforderlich wäre, um den fraglichen Mitbe-
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stimmungstatbestand zu erfüllen (vgl. Beschluss vom 23. August 2007
- BVerwG 6 P 7.06 - Buchholz 251.4 § 86 HmbPersVG Nr. 13 S. 14). Allerdings
hat das Bundesarbeitsgericht in einer neueren Entscheidung in der umgekehr-
ten Konstellation einer arbeitgeberseitig angewiesenen Nichtanrechnung von
Umkleidezeiten auf die Arbeitszeit den parallelen Mitbestimmungstatbestand
des § 87 Abs. 1 Nr. 2 BetrVG als erfüllt angesehen (BAG, Beschluss vom
10. November 2009 a.a.O. Rn. 16 ff.). Aus den nachstehend dargelegten Grün-
den bedarf indes keiner abschließenden Klärung, ob im Lichte dieser Entschei-
dung die in der Rechtsprechung des Senats bislang entwickelten Maßgaben zur
Auslegung von § 85 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BlnPersVG oder vergleichbarer Nor-
men in anderen Personalvertretungsgesetzen der Fortentwicklung bedürfen.
b) Die Wirksamkeit der Dienstvereinbarung vom 11. Oktober 2007 folgt jeden-
falls daraus, dass von § 15 Abs. 7 BAT/BAT-O im vorliegenden Fall keine
Sperrwirkung im Sinne von § 75 Satz 1 BlnPersVG ausgeht. Indem § 15 Abs. 7
BAT/BAT-O bestimmt, dass die Arbeitszeit an der Arbeitsstelle bzw. am Ar-
beitsplatz beginnt und endet, trifft er zwar eine inhaltlich abschließende Rege-
lung zu demjenigen Gegenstand, der Inhalt der Dienstvereinbarung vom
11. Oktober 2007 geworden ist. § 15 Abs. 7 BAT/BAT-O hat zunächst auch
- und zwar über das Ende der Tarifbindung des Beteiligten hinaus - eine Sperr-
wirkung entfaltet. Zumindest dadurch jedoch, dass der mit Rückwirkung auf den
1. Januar 2007 in Kraft gesetzte TV-Charité zu diesem Gegenstand keine Vor-
gaben enthält und damit die Regelungsprärogative der Tarifvertragsparteien
bewusst aufgegeben hat, ist diese Sperrwirkung entfallen.
aa) Durch die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist geklärt, dass Ar-
beitsbedingungen dann im Sinne von § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG durch Tarifver-
trag geregelt sind, wenn über sie ein Tarifvertrag abgeschlossen ist und der
fragliche Betrieb in den räumlichen, betrieblichen, fachlichen und persönlichen
Geltungsbereich des Vertrages fällt (BAG, Beschlüsse vom 21. Januar 2003
- 1 ABR 9/02 - AP Nr. 1 zu § 21a BetrVG 1972 Bl. 727 und vom 22. März 2005
- 1 ABR 64/03 - BAGE 114, 162 <170>). Besteht für einen Betrieb bei Ab-
schluss einer Betriebsvereinbarung kein den gleichen Gegenstand regelnder
Tarifvertrag, kommt es darauf an, ob die betreffende Angelegenheit im Sinne
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von § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG üblicherweise tariflich geregelt wird. Ob dies der
Fall ist, beurteilt sich anhand der einschlägigen Tarifpraxis (BAG, Urteil vom
26. August 2008 a.a.O. S. 299; Beschluss vom 22. März 2005 a.a.O. S. 170).
bb) Nach diesen auf das Personalvertretungsrecht zu übertragenden Maßstä-
ben führte der Fortfall der Tarifbindung an § 15 Abs. 7 BAT/BAT-O am 31. Ja-
nuar 2003 schon deshalb nicht zum Entfallen der Regelungssperre im Sinne
von § 75 Satz 1 BlnPersVG, weil der Beteiligte bzw. seine Rechtsvorgängerin-
nen über diesen Zeitpunkt hinaus weiterhin dem Geltungsbereich des
BAT/BAT-O unterfielen. Dies gilt unbeschadet des Umstandes, dass der
BAT/BAT-O keinen branchenspezifisch definierten Geltungsbereich aufweist,
dem der Beteiligte schon kraft der Eigenart seines Betätigungsfeldes zugeord-
net werden könnte. Legt ein Tarifvertrag seinen Geltungsbereich nicht an fach-
lich-betrieblichen Kriterien, sondern - wie der BAT/BAT-O - ausschließlich an
der Mitgliedschaft des Arbeitgebers im tarifschließenden Verband aus, so kann
sich dieser über die aktuellen Mitglieder hinaus auch auf die potentiellen Mit-
glieder dieses Verbandes erstrecken, die ihm - erstmalig oder wieder - beitreten
können (BAG, Urteil vom 23. März 2011 - 4 AZR 268/09 - juris Rn. 37 ff.; Be-
schluss vom 22. März 2005 a.a.O. S. 172 ff.). Ob dies der Fall ist, ist durch Aus-
legung zu ermitteln, wobei die übereinstimmende Interessenslage der Tarifver-
tragsparteien typischerweise dahin geht, den Geltungsbereich des Tarifvertra-
ges wie bei einer fachlichen Umschreibung auf diejenigen Unternehmen zu er-
strecken, die durch Beitritt zum Arbeitgeberverband eine Tarifbindung herbei-
führen könnten. Ohne deutliche Anhaltspunkte im Tarifvertrag selbst kann nicht
angenommen werden, dass die Tarifvertragsparteien durch die mitgliedschafts-
bezogene Festlegung des Geltungsbereichs den Geltungsanspruch des Tarif-
vertrages und ihre Tarifautonomie beschränken wollen (BAG, Urteil vom
23. März 2011 a.a.O. Rn. 39). In Bezug auf den BAT-Zuwendungstarifvertrag
hat das Bundesarbeitsgericht einen entsprechend weit gefassten tariflichen
Geltungsanspruch ohne weiteres bejaht (BAG, Urteil vom 23. Mai 2007 a.a.O.
Rn. 26). In Bezug auf den BAT-Manteltarifvertrag kann nichts anderes ange-
nommen werden, so dass im Ergebnis § 15 Abs. 7 BAT/BAT-O in Bezug auf
den Beteiligten - der der zuständigen Tarifgemeinschaft der Arbeitgeber wieder
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hätte beitreten können - Sperrwirkung auch über denjenigen Zeitpunkt hinaus
entfaltete, in dem seine Bindung an diesen Tarifvertrag endete.
Unabhängig davon blieb der BAT/BAT-O für den öffentlichen Dienst und damit
auch für den Beteiligten zunächst weiterhin tarifüblich im Sinne von § 75 Satz 1
BlnPersVG.
cc) Die Dauer des Fortbestands einer Sperrwirkung gemäß § 75 Satz 1
BlnPersVG hängt davon ab, inwieweit Sinn und Zweck der Vorschrift im Lichte
der weiteren Entwicklung auf tariflicher Ebene den Ausschluss von Dienstver-
einbarungen zu dem in Frage stehenden Regelungsgegenstand noch gebieten.
Danach hat jedenfalls der rückwirkende Abschluss des TV-Charité die aus § 75
Satz 1 BlnPersVG resultierenden Wirksamkeitshindernisse gegen die Dienst-
vereinbarung vom 11. Oktober 2007 beseitigt.
(1) § 75 Satz 1 BlnPersVG soll verhindern, dass Gegenstände, derer sich die
Tarifvertragsparteien angenommen haben, konkurrierend durch Dienstvereinba-
rung geregelt werden. Er räumt den Tarifvertragsparteien den Vorrang bei der
Regelung von Arbeitsbedingungen ein und schützt hierdurch die Funktionsfä-
higkeit der Tarifautonomie. Diese wird auch dann gestört, wenn nicht tarifge-
bundene Arbeitgeber kollektivrechtliche Konkurrenzregelungen in Form von
Dienstvereinbarungen treffen können. Der Tarifvorbehalt bildet keine Kollisions-
norm, sondern eine Zuständigkeitsabgrenzung (vgl. BAG, Beschluss vom
22. März 2005 a.a.O. S. 170; Urteil vom 12. März 2008 - 4 AZR 616/06 - AP
Nr. 18 zu § 1 TVG Tarifverträge: Chemie Rn. 28, jeweils zu § 77 Abs. 3 Satz 1
BetrVG). Dem entsprechend führt nach der Rechtsprechung des Bundes-
arbeitsgerichts zu § 77 Abs. 3 BetrVG selbst das Auslaufen eines Tarifvertrages
nicht automatisch zum Entfallen der Sperrwirkung gegenüber den Betriebspar-
teien. Das Bundesarbeitsgericht prüft in solchen Fällen unter dem Gesichts-
punkt der Tarifüblichkeit, ob die Tarifvertragsparteien endgültig den Willen zur
Regelung des in Frage stehenden Gegenstandes aufgegeben haben (BAG,
Beschlüsse vom 24. Februar 1987 - 1 ABR 18/85 - BAGE 54, 191 <199> und
vom 21. Januar 2003 a.a.O. Bl. 729; ähnlich Fitting, a.a.O. § 77 Rn. 93). Erst
bei Vorliegen eines solchen Willens eröffnet sich demnach hier die betriebliche
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Regelungszuständigkeit. In Bezug auf Dienstvereinbarungen im Sinne von § 74
Abs. 1 BlnPersVG muss entsprechendes gelten.
(2) Vor diesem Hintergrund kann sich aus dem reinen Zeitablauf kein Entfallen
der einmal entstandenen Sperrwirkung aufgrund von § 15 BAT/BAT-O begrün-
den. Maßgeblich kann allein sein, ob sich auf der tariflichen Ebene zwischen-
zeitlich Änderungen ergeben haben, in deren Lichte sich der Abschluss der
Dienstvereinbarung vom 11. Oktober 2007 nicht länger als Eingriff in die tarifli-
che Regelungsprärogative darstellen konnte, insbesondere weil ein Wille der
Tarifvertragsparteien erkennbar geworden war, zukünftig auf eine eigene Rege-
lung zu verzichten. Dies ist hier, wie das Oberverwaltungsgericht im Ergebnis
zu Recht angenommen hat, der Fall.
Aus Sicht des beschließenden Senats bestehen allerdings Zweifel am Begrün-
dungsweg, den das Oberverwaltungsgericht eingeschlagen hat. Die zum einen
angesprochene tarifpolitische Gesamtentwicklung im öffentlichen Dienst, die für
Bund, Kommunen und die Mehrzahl der Länder zur Ablösung des BAT durch
den TVöD am 1. Oktober 2005 bzw. den TV-L am 1. November 2006 führte,
änderte für den hier fraglichen Zeitraum nichts an der weiteren tariflichen Prä-
gewirkung von BAT/BAT-O für den öffentlichen Dienst im Land Berlin. Wesent-
liche Bestimmungen des BAT/BAT-O, darunter auch dessen § 15 Abs. 7, blie-
ben durch die Inbezugnahme in § 2 Abs. 1 des Tarifvertrags vom 31. Juli 2003
zur Anwendung von Tarifverträgen des öffentlichen Dienstes zwischen dem
Land Berlin und den Gewerkschaften ver.di, GEW, GdP und IG Bauen Agrar
Umwelt weiterhin anwendbar. Dies spricht dafür, dass § 15 Abs. 7 BAT/BAT-O
im Land Berlin - und folglich ungeachtet seiner fehlenden eigenen Bindung an
den Tarifvertrag vom 31. Juli 2003 auch gegenüber dem Beteiligten - über das
Jahr 2006 hinaus zumindest weiter als tarifübliche Regelung im Sinne von § 75
Satz 1 BlnPersVG anzusehen war. Auf die von dem Beteiligten in seiner
Rechtsbeschwerdebegründung aufgeworfene Frage, ob mit Blick auf seine
Möglichkeit, selbst einen vergleichbaren Anwendungstarifvertrag zu schließen,
nach Maßgabe der Grundsätze des Beschlusses des Bundesarbeitsgerichts
vom 22. März 2005 (a.a.O.) zudem auch das Tatbestandsmerkmal der tarifli-
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chen Regelung im Sinne von § 75 Satz 1 BlnPersVG weiterhin erfüllt war, dürfte
es insofern nicht entscheidend ankommen.
Zweifelhaft erscheint dem Senat auch der Ansatz des Oberverwaltungsgerichts,
eine Aufgabe des tariflichen Regelungswillens zum hier fraglichen Gegenstand
aus der Eckpunktevereinbarung vom 18. Oktober 2006 abzuleiten, denn diese
stand ausweislich ihrer Ziffer 10 unter dem Vorbehalt der Gesamteinigung und
besaß daher nur vorläufigen Charakter.
Zu diesen Punkten bedarf es aber letztlich keiner Entscheidung, weil jedenfalls
mit dem Abschluss des TV-Charité, der zur Frage des Beginns der Arbeitszeit-
messung keine Regelung trifft, eine Sperrwirkung im Sinne von § 75 Satz 1
BlnPersVG endete. Die (nunmehr maßgeblich gewordenen) Tarifvertragspartei-
en haben hiermit bindend zum Ausdruck gebracht, dass der Regelung dieser
Frage auf Ebene der Dienststelle fortan keine kollektivrechtlichen Hindernisse
entgegenstehen sollten. Unschädlich ist hierbei, dass der TV-Charité erst am
18. Dezember 2007, also mehr als zwei Monate nach der Dienstvereinbarung
vom 11. Oktober 2007 abgeschlossen wurde. Denn der Abschluss geschah mit
Rückwirkung auf den 1. Januar 2007 und hat damit eine etwaige Sperrwirkung
im Sinne von § 75 Satz 1 BlnPersVG nachträglich aufgehoben.
Der Annahme einer nachträglichen Aufhebung der Sperrwirkung stehen rechtli-
che Bedenken nicht entgegen. Eine gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG versto-
ßende Betriebsvereinbarung ist nicht nichtig, sondern schwebend unwirksam
(vgl. BAG, Urteile vom 20. April 1999 - 1 AZR 631/98 - BAGE 91, 244 <257 f.>
und vom 29. Oktober 2002 - 1 AZR 573/01 - BAGE 103, 187 <191>). Das Bun-
desarbeitsgericht hat dies damit begründet, dass § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG als
kompetenzausgestaltende Norm nicht ohne weiteres einer Verbotsnorm im Sin-
ne des § 134 BGB gleichzusetzen sei (Urteil vom 20. April 1999 a.a.O. S. 257).
Ungeachtet der Frage, ob diese Begründung in ihrem rechtsdogmatischen An-
satz auf Dienstvereinbarungen zu übertragen ist, kann für diese jedenfalls im
Ergebnis nichts anderes gelten (a.A. Germelmann, in: Germelmann/Binkert/
Germelmann, Personalvertretungsgesetz Berlin, 3. Aufl. 2010, § 75 Rn. 17).
Hierfür sprechen insbesondere die weiteren rechtlichen Konsequenzen, die sich
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nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts an die fehlende Nichtig-
keitsfolge eines Verstoßes gegen § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG knüpfen können.
Hierdurch wird es den Tarifvertragsparteien nämlich ermöglicht, die aus einem
solchen Verstoß folgende Sperrwirkung nachträglich durch eine rückwirkende
Tariföffnungsklausel im Sinne von § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG zu beseitigen
(BAG, Urteile vom 20. April 1999 a.a.O. S. 258 und vom 29. Oktober 2002
a.a.O. S. 191). Die ausdrückliche Zulassung von Tariföffnungsklauseln in § 77
Abs. 3 Satz 2 BetrVG macht deutlich, dass es den Tarifvertragsparteien vorbe-
halten bleibt, ob sie abweichende Betriebsvereinbarungen zulassen wollen oder
nicht. Der Schutzzweck der Norm ist auch dann gewahrt, wenn die Tarifver-
tragsparteien nachträglich über die Billigung einer tarifvorbehaltswidrigen Be-
triebsvereinbarung durch entsprechende Öffnungsklausel entscheiden (BAG,
Urteil vom 20. April 1999 a.a.O. S. 258). Im Rahmen von § 75 BlnPersVG, der
in Satz 2 gleichfalls eine Rechtsgrundlage für Tariföffnungsklauseln normiert,
muss eine solche Gestaltungsoption gleichermaßen bestehen. Es sind keine
Gründe dafür ersichtlich, warum den Tarifvertragsparteien in Bezug auf tarifvor-
behaltswidrige Dienstvereinbarungen nicht dasjenige möglich sein sollte, was
ihnen in Bezug auf tarifvorbehaltswidrige Betriebsvereinbarungen nach der
Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts möglich ist, nämlich ihnen nach-
träglich zur Wirksamkeit zu verhelfen. Soweit ausnahmsweise Gesichtspunkte
des Vertrauensschutzes entgegenstehen sollten, kann diesen im personalver-
tretungsrechtlichen ebenso wie im betriebsverfassungsrechtlichen Zusammen-
hang durch eine fallweise Begrenzung der Rückwirkung angemessen Rech-
nung getragen werden (vgl. hierzu BAG, Urteil vom 20. April 1999 a.a.O.
S. 259).
Bestehen demnach gegen eine nachträgliche tarifvertragliche Aufhebung der
Sperrwirkung keine prinzipiellen Bedenken, so bestehen sie auch nicht speziell
gegen die Annahme, dass dies durch die Anordnung des rückwirkenden Inkraft-
tretens des gesamten Tarifvertrags statt durch Vereinbarung punktuell rückwir-
kender Tariföffnungsklauseln geschehen könne. Mit Blick auf den Wortlaut des
§ 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG fordert das Bundesarbeitsgericht in Bezug auf Tarif-
öffnungsklauseln zwar, dass die Zulassung einer Regelung durch die Betriebs-
parteien deutlich zum Ausdruck kommen muss (Urteil vom 29. Oktober 2002
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a.a.O. S. 191). In Bezug auf Tariföffnungsklauseln, die sich auf § 75 Satz 2
BlnPersVG stützen, dürfen trotz des in Teilen abweichenden Wortlauts dieser
Vorschrift keine geringeren Anforderungen gelten. Sie werden durch die hier in
Rede stehende Dienstvereinbarung vom 11. Oktober 2007 insofern unterschrit-
ten, als diese sich zur Frage des Beginns der Arbeitszeitmessung gänzlich aus-
schweigt. Das Deutlichkeitsgebot erhält indes seinen Sinn dadurch, dass mit
der Tariföffnung im Sinne von § 77 Abs. 3 Satz 2 BetrVG bzw. § 75 Satz 2
BlnPersVG ausnahmsweise eine Regelungsbefugnis auf Ebene des Betriebes
bzw. der Dienststelle in einem Regelungsfeld eröffnet wird, das vom Grundsatz
her tarifvertraglich belegt ist. Daher ist es schon aus Gründen der rechtsklaren
Zuordnung beider Regelungsebenen geboten, für eine entsprechende Öffnung
vorauszusetzen, dass sie unzweideutig zum Ausdruck gebracht wird; erst recht
muss dies gelten, soweit Öffnungen nachträglich erfolgen und damit Rechtsver-
hältnisse in der Vergangenheit gestaltet werden sollen. In der hier vorliegenden
Konstellation eines insgesamt rückwirkenden Inkrafttretens eines Tarifvertra-
ges, der wie der TV-Charité das in Frage stehende Regelungsfeld vollständig
ausspart, liegen die Dinge jedoch anders. Dieser stellt nachträglich eine tarifver-
tragliche Lage her, die, hätte sie von Beginn an bestanden, ohne weiteres einen
sofort wirksamen Abschluss der Dienstvereinbarung ermöglicht hätte. Wegen
der vollständigen Aussparung des fraglichen Regelungsfeldes auf tarifvertragli-
cher Ebene können anders als im Falle punktueller Tariföffnungsklauseln im
Sinne von § 75 Satz 2 BlnPersVG Schwierigkeiten in der (nachträglichen) Zu-
ordnung der Regelungsebenen von vorneherein nicht auftreten. Daher ist es
unbedenklich, die Befugnis der Tarifvertragsparteien zur nachträglichen Besei-
tigung von Wirksamkeitshemmnissen gegen Dienstvereinbarungen nicht davon
abhängig zu machen, dass deren Regelungsgegenstand ausdrücklich im Tarif-
vertrag bezeichnet wird. Den Tarifvertragsparteien steht es im Übrigen jederzeit
frei, das betreffende Regelungsfeld wieder selbst durch tarifvertragliche Normie-
rung zu belegen und hierdurch die Wirksamkeit der Dienstvereinbarung zu be-
enden (vgl. Fitting, a.a.O. § 77 Rn. 83).
Neumann
Büge
Dr. Möller
Hahn
Prof. Dr. Hecker
Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Personalvertretungsrecht
Fachpresse:
ja
Rechtsquelle:
BlnPersVG
§ 75
Stichworte:
Personalvertretungsrecht; Wirksamkeit einer Dienstvereinbarung; Formelle Wirk-
samkeitserfordernisse; Bekanntmachung kein Wirksamkeitserfordernis; Tarifvor-
behalt jenseits zwingender Mitbestimmungsangelegenheiten; Verhältnis von Tarif-
vorbehalt und Tarifvorrang; Merkmal der tarifvertraglichen Regelung i.S.v. § 75
Satz 1 BlnPersVG; Merkmal der Tarifüblichkeit i.S.v. § 75 Satz 1 BlnPersVG;
nachträgliche Aufhebung der Sperrwirkung gemäß § 75 Satz 1 BlnPersVG.
Leitsätze:
1. Dienstvereinbarungen im Sinne von § 74 BlnPersVG bedürfen nicht der Be-
kanntmachung, um rechtliche Wirksamkeit zu erlangen.
2. Die Wirksamkeit von Dienstvereinbarungen in Angelegenheiten der zwingen-
den Mitbestimmung nach § 85 BlnPersVG bestimmt sich nicht nach § 75
BlnPersVG.
3. Der Tarifvorbehalt gemäß § 75 Satz 1 BlnPersVG greift auch in Bezug auf
Tarifverträge, an welche die Dienststelle nicht gebunden ist.
4. Eine der Sperrwirkung nach § 75 Satz 1 BlnPersVG unterfallende Dienstver-
einbarung ist nicht nichtig, sondern schwebend unwirksam. Die Sperrwirkung
kann nachträglich durch einen rückwirkenden Tarifvertrag aufgehoben werden.
Beschluss des 6. Senats vom 9. März 2012 - BVerwG 6 P 27.10
I. VG Berlin vom 06.11.2008 - Az.: VG 60 A 11.08 -
II. OVG Berlin-Brandenburg vom 16.09.2010 - Az.: OVG 60 PV 6.09 -