Urteil des BVerwG vom 28.04.2010

Beförderung, Befreiung, Restriktive Auslegung, Kirchliche Stiftung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 6 C 6.09
OVG 19 A 467/07
Verkündet
am 28. April 2010
Bech
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 28. April 2010
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge - als Vorsitzender -,
Dr. Graulich, Vormeier, Dr. Bier und Dr. Möller
für Recht erkannt:
Die Urteile des Verwaltungsgerichts Minden vom 14. De-
zember 2006 und des Oberverwaltungsgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen vom 10. Juni 2008 werden ge-
ändert.
Der Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung seines Be-
scheides vom 3. Mai 2005 und seines Widerspruchsbe-
scheides vom 4. Juli 2005 verpflichtet, die Klägerin für
24 Rundfunkgeräte, die sie in Kraftfahrzeugen ihrer Ein-
richtung zur ausschließlichen Beförderung des betreuten
Personenkreises bereithält, ab 1. März 2007 bis 31. März
2008 von der Rundfunkgebührenpflicht zu befreien.
Die weitergehende Revision der Klägerin wird zurückge-
wiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin zu 2/3
und dem Beklagten zu 1/3 auferlegt.
G r ü n d e :
I
Die Klägerin ist eine gemeinnützige kirchliche Stiftung des privaten Rechts mit
Sitz in B., die in sechs Bundesländern Einrichtungen für kranke, behinderte
oder sozial benachteiligte Menschen betreibt. Im Februar 2005 waren in B. auf
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sie 68 Kraftfahrzeuge zugelassen, die ausschließlich der Beförderung von Be-
hinderten dienten.
Auf Antrag gewährte ihr der Beklagte mit Bescheid vom 24. Februar 2005
Rundfunkgebührenbefreiung für die Radios in zunächst 44 Kraftfahrzeugen und
auf Widerspruch mit Bescheid vom 3. Mai 2005 auch Gebührenbefreiung für die
weiteren 24 Kraftfahrzeuge, in der Liste vom 15. Februar 2005 als Fahrzeuge
für „Fahrdienst“ bezeichnet. Die Befreiung wurde befristet bis zum 31. März
2005. Den gegen die Befristung von der Klägerin erhobenen Widerspruch wies
der Beklagte mit Bescheid vom 4. Juli 2005 zurück.
Das Verwaltungsgericht hat den Beklagten unter Aufhebung seiner Bescheide
vom 3. Mai und 4. Juli 2005 verpflichtet, die Klägerin für 24 Rundfunkemp-
fangsgeräte, die sie in Kraftfahrzeugen ihrer Einrichtung ausschließlich zur Be-
förderung des betreuten Personenkreises bereithält, ab April 2005 bis Ende
März 2008 von der Rundfunkgebührenpflicht zu befreien.
Das Oberverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 10. Juni 2008 (OVG 19 A
467/07) das angefochtene Urteil des Verwaltungsgerichts geändert und die
Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, der Befreiungsan-
spruch ergebe sich nicht aus
in der seit dem 1. April 2005 geltenden Fassung des
Art. 5 Nr. 5 des Achten Staatsvertrages zur Änderung rundfunkrechtlicher
Staatsverträge (Bekanntmachung vom 8. März 2005, GV.NRW S. 192). Denn
die Klägerin halte die Rundfunkempfangsgeräte nicht, wie er voraussetze, „in
der Einrichtung“ bereit. Das ergebe sich vor allem aus einer historischen und
genetischen Auslegung desDer Landesge-
setzgeber habe sich mit seiner Zustimmung zum Achten Rundfunkänderungs-
staatsvertrag bewusst gegen die Fortführung der Befreiung von Autoradios in
Fahrzeugen von Behinderteneinrichtungen entschieden. Das Auslegungser-
gebnis stehe auch mit dem Zweck desim
Einklang.
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Zur Begründung der vom Bundesverwaltungsgericht zugelassenen Revision
führt die Klägerin u.a. aus, das Tatbestandsmerkmal „in der Einrichtung“ des
§ 5 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 RGebStV erfasse auch Radios in Kraftfahrzeugen, die
ausschließlich der Beförderung der behinderten Bewohner einer bestimmten
Behinderteneinrichtung im Rahmen der Betreuungszwecke dieser Einrichtung
dienten. Nach dieser Vorschrift werde auf Antrag eine Befreiung von der Rund-
funkgebührenpflicht für Rundfunkempfangsgeräte gewährt, die in Einrichtungen
für behinderte Menschen, insbesondere in Heimen, in Ausbildungsstätten und
in Werkstätten für behinderte Menschen für den jeweils betreuten Personen-
kreis ohne besonderes Entgelt bereitgehalten würden. Die Transportfahrzeuge,
die bei der Klägerin ausschließlich zum Transport von behinderten Menschen
eingesetzt würden, gehörten zur „Einrichtung für behinderte Menschen“ im Sin-
ne des zitierten Befreiungstatbestandes.
Die Klägerin beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils des Ober-
verwaltungsgerichts die Berufung des Beklagten gegen
das Urteil des Verwaltungsgerichts zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, bei dem früheren § 3 Abs. 1 Nr. 2 BefrVO NRW sei ebenso
wie nunmehr bei § 5 Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 RGebStV von einem funktionalen Ein-
richtungsbegriff auszugehen, wie er in der Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts zum Sozialrecht vertreten werde. Danach sei unter Einrichtung
eine auf eine gewisse Dauer angelegte Verbindung von sächlichen und persön-
lichen Mitteln zu einem bestimmten Zweck unter der Verantwortung eines Trä-
gers zu verstehen. Ihr Bestand und Charakter müssten vom Wechsel der Per-
sonen, denen sie zu dienen bestimmt sei, weitgehend unabhängig sein. Der
Begriff der Einrichtung in diesem Sinne setze darüber hinaus eine persönliche,
sächliche und räumliche Bezogenheit voraus, weshalb die Bindung dieses Be-
griffs an ein Gebäude oder überhaupt an das Räumliche unerlässlich sei. Le-
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diglich eine räumlich dezentrale Unterbringung von Organisationsteilen sei mit
dem Begriff der Einrichtung in diesem Sinne vereinbar, wenn die Teile der
Rechts- und Organisationssphäre des Einrichtungsträgers so zugeordnet seien,
dass sie als Teile der Gesamteinrichtung anzusehen seien. Dagegen seien
Kraftfahrzeuge, die zum Transport des betreuten Personenkreises dienten,
nicht vom funktionalen Einrichtungsbegriff erfasst.
Der Vertreter des Bundesinteresses beim Bundesverwaltungsgericht beteiligt
sich am Verfahren. Er teilt die im angefochtenen Urteil dargelegte Rechtsauf-
fassung.
II
Die Revision ist zulässig, aber nur begründet, soweit es um die von der Klägerin
begehrte Gebührenbefreiung für die Zeit von März 2007 bis März 2008 geht.
Für diesen Zeitraum steht der Klägerin die begehrte Gebührenbefreiung zu. Für
den davor liegenden Zeitraum ist das Berufungsurteil der Überprüfung durch
den Senat anhand der Bestimmungen des Rundfunkgebührenstaatsvertrages
entzogen.
1. Eine Überprüfung des angefochtenen Urteils für den streitbefangenen Zeit-
raum April 2005 bis März 2008 anhand der Bestimmungen des Rundfunkge-
bührenstaatsvertrages ist dem Senat erst für die Zeit ab 1. März 2007 gestattet.
Erst an diesem Tag ist § 10 RGebStV in der Fassung des Neunten Staatsver-
trages zur Änderung rundfunkrechtlicher Staatsverträge (Bekanntmachung vom
30. Januar 2007, GV.NRW S. 107) in Kraft getreten, der die Revisibilität der
Vorschriften des Rundfunkgebührenstaatsvertrages eingeführt hat.
Die Revisibilität ist zu verneinen, soweit sich die Bestimmungen des Rundfunk-
gebührenstaatsvertrages auf Sachverhalte beziehen, die vor dem 1. März 2007
ihren Abschluss gefunden haben. Sie ist hingegen zu bejahen, soweit die ge-
bührenrechtliche Beurteilung von Sachverhalten in Rede steht, deren Aus-
gangspunkt in der Zeit nach dem 28. Februar 2007 liegt. Im vorliegenden Fall
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befindet sich indes der Zeitpunkt, in welchem § 10 RGebStV in Kraft getreten
ist, innerhalb des streitbefangenen Zeitraums. In einem solchen Fall sind theo-
retisch drei Lösungen denkbar. Zum ersten kann denkbarerweise auf den Be-
ginn des streitbefangenen Zeitraums abgestellt werden, so dass eine Überprü-
fung der angefochtenen Bescheide anhand der Bestimmungen des Rundfunk-
gebührenstaatsvertrages durch das Revisionsgericht insgesamt nicht stattfin-
den könnte. Zum zweiten ist denkbarerweise ein Abstellen auf den Endzeit-
punkt möglich, so dass dem Revisionsgericht der Zugriff auf den gesamten
streitbefangenen Zeitraum gestattet wäre. Und zum dritten kann denkbarerwei-
se auf denjenigen Zeitpunkt abgehoben werden, zu welchem die Revisibilität
des Rundfunkgebührenstaatsvertrages eingeführt worden ist, also den 1. März
2007, so dass die rechtliche Überprüfung anhand seiner Bestimmungen dem
Revisionsgericht ab dem 1. März 2007 offenstehen würde. Nach der Überzeu-
gung des Senats trifft der dritte Lösungsansatz zu.
Für die Beantwortung der aufgeworfenen Frage kommt es darauf an, auf wel-
che Sach- und Rechtslage das Gericht bei Verpflichtungsklagen auf Befreiung
von der Rundfunkgebührenpflicht nach § 5 Abs. 7 RGebStV abzustellen hat.
Dieser Zeitpunkt bestimmt sich wiederum nach der Sach- und Rechtslage, auf
die es bei der Anfechtung von Gebührenbescheiden ankommt. Maßgeblich da-
für sind die Bestimmungen zum Beginn und zum Ende der Gebührenpflicht
gemäß § 4 Abs. 1 und 2 RGebStV. Daraus ergibt sich, dass es auf die tatsäch-
lichen und rechtlichen Verhältnisse in dem jeweiligen Monat ankommt, für wel-
chen die Gebühr verlangt wird. § 4 Abs. 3 RGebStV steht nicht entgegen; die
Vorschrift regelt lediglich eine Zahlungsmodalität zum Zwecke der Verwal-
tungsvereinfachung, lässt aber den Grundsatz unberührt, dass die materiellen
Voraussetzungen - das Bereithalten des Rundfunkempfangsgeräts zum Emp-
fang - im jeweiligen Bezugsmonat gegeben sein müssen.
Für die Gebührenbefreiung muss schon aus rechtssystematischen Gründen
Entsprechendes gelten. Entscheidend ist deshalb, ob die maßgeblichen Befrei-
ungsvoraussetzungen im jeweiligen Bezugsmonat gegeben sind.
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Diese Schlussfolgerung wird durch die speziellen verfahrensrechtlichen Be-
stimmungen zur Gebührenbefreiung nicht in Frage gestellt, sondern vielmehr
bestätigt. § 5 Abs. 7 Satz 2 RGebStV ordnet an, dass § 6 Abs. 6 RGebStV ent-
sprechend gilt. Die letztgenannte Bestimmung bezieht sich in ihrem unmittelba-
ren Anwendungsbereich auf die Gebührenbefreiung natürlicher Personen nach
§ 6 Abs. 1 RGebStV und die in dieser Hinsicht maßgeblichen Bescheide der
zuständigen Sozialleistungsträger nach § 6 Abs. 2 RGebStV. Der sinngemäßen
Anwendung auf die Fälle des § 5 Abs. 7 Satz 1 RGebStV zugänglich sind die
Regelungen in § 6 Abs. 6 Satz 2 und 4 RGebStV. Danach kann die Befreiung
auf drei Jahre befristet werden, wenn eine Änderung der dafür maßgeblichen
Umstände möglich ist (Satz 2); solche Umstände sind von dem Träger der Ein-
richtung unverzüglich der zuständigen Landesrundfunkanstalt mitzuteilen
(Satz 4). Daraus ergibt sich, dass die tatsächlichen und rechtlichen Vorausset-
zungen der Gebührenbefreiung im jeweiligen Bezugsmonat vorliegen müssen.
Weiterhin folgt hieraus, dass die Entscheidung der Rundfunkanstalt zur Gebüh-
renbefreiung in einem etwa vorgesehenen Dreijahreszeitraum teilbar ist. Sie
kann je nach dem Vorliegen der maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen
Voraussetzungen unterschiedlich ausfallen. Dasselbe gilt für die nachgehende
gerichtliche Entscheidung, insbesondere in den Fällen, in welchen diese nach
Ablauf des streitbefangenen Zeitraums ergeht. Angesichts dieser Teilbarkeit ist
es folgerichtig, die Überprüfung anhand der Bestimmungen des Rundfunkge-
bührenstaatsvertrages auf denjenigen Teil des streitbefangenen Zeitraums zu
begrenzen, der mit dem Zeitpunkt der Einführung der Revisibilität zum 1. März
2007 beginnt.
Eine Sichtweise, die es für die Einbeziehung des gesamten streitbefangenen
Zeitraums genügen ließe, wenn nur ein Teil davon bereits in die Zeit nach dem
1. März 2007 hineinragte, würde zu Zufallsergebnissen führen. Sie wäre mit
einer unangemessenen Privilegierung solcher Begehren verbunden, die nur zu
einem geringen Teil die Zeit nach dem 1. März 2007 beträfen. Das Revisions-
gericht wäre unter Umständen gehalten, rundfunkrechtliche Bestimmungen
auszulegen, die nicht mehr zum aktuellen Stand des Rechts zählten. Seine
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Funktion, der Einheit und Fortbildung des geltenden Rechts zu dienen, wäre
damit nicht gewahrt.
Das Senatsurteil vom 11. März 1998 - BVerwG 6 C 12.97 - (BVerwGE 106, 216
<218> = Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 30 S. 19) steht nicht entgegen.
Streitgegenstand war damals ein Dauerverwaltungsakt in Gestalt einer Unter-
sagungsverfügung, die zwar vor Inkrafttreten der Revisibilität des Rundfunk-
staatsvertrages ergangen war, aber über diesen Zeitpunkt hinaus fortwirkte.
Daher war für die Verfügung insgesamt auf die Sach- und Rechtslage im Zeit-
punkt der gerichtlichen Entscheidung abzustellen, welcher nach dem Inkrafttre-
ten der Revisibilität lag.
2. Für den Teilzeitraum März 2007 bis März 2008 führt die Klage zum Erfolg.
Rechtsgrundlage für das Begehren der Klägerin ist § 5 Abs. 7 Satz 1 RGebStV.
Die Vorschrift lautet:
„Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht wird auf An-
trag für Rundfunkempfangsgeräte gewährt, die in folgen-
den Betrieben oder Einrichtungen für den jeweils betreu-
ten Personenkreis ohne besonderes Entgelt bereitgehal-
ten werden:
1. In Krankenhäusern, Krankenanstalten, Heilstätten
sowie in Erholungsheimen für Kriegsbeschädigte
und Hinterbliebene, in Gutachterstationen, die sta-
tionäre Beobachtungen durchführen, in Einrich-
tungen der beruflichen Rehabilitation sowie in
Müttergenesungsheimen;
2. in Einrichtungen für behinderte Menschen, insbe-
sondere in Heimen, in Ausbildungsstätten und in
Werkstätten für behinderte Menschen;
3. in Einrichtungen der Jugendhilfe im Sinne des
Kinder- und Jugendhilfegesetzes (Achtes Buch
des Sozialgesetzbuches);
4. in Einrichtungen für Suchtkranke, der Altenhilfe,
für Nichtsesshafte und in Durchwandererheimen.“
Einschlägig ist hier Nr. 2, deren Voraussetzungen im fraglichen Zeitraum erfüllt
waren.
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a) Bei den in den 24 Kraftfahrzeugen eingebauten Radios handelte es sich um
Rundfunkempfangsgeräte, die in der von der Klägerin unterhaltenen Einrichtung
für behinderte Menschen bereitgehalten wurden.
aa) Der Gesetzeswortlaut lässt es zu, nur Radios in Räumlichkeiten zu erfas-
sen, in welchen die Behinderten untergebracht sind. Es ist aber auch nicht von
vornherein ausgeschlossen, die fraglichen Kraftfahrzeuge als unselbstständige
Teile der Einrichtung zu betrachten.
bb) In systematischer Hinsicht ist zugrunde zu legen, dass „Einrichtung“ ein
Oberbegriff ist, der zunächst im Einleitungssatz und sodann in den folgenden
vier Nummern des § 5 Abs. 7 Satz 1 RGebStV verwandt wird. Allen vier Unter-
gliederungen der Vorschrift ist gemein, dass ein hilfebedürftiger Personenkreis
angesprochen ist, der stationär oder teilstationär betreut wird. Dies führt zum
funktionalen Einrichtungsbegriff des Sozialrechts.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 100 Abs. 1
Nr. 1 BSHG a.F. setzte eine „Einrichtung“ eine persönliche, sächliche und
räumliche Bezogenheit voraus, die Bindung dieses Begriffs an ein Gebäude
oder überhaupt an das Räumliche war unerlässlich. Damit war allerdings nicht
gemeint, dass die organisatorische Zusammenfassung sich auch in räumlicher
Hinsicht gewissermaßen „unter einem Dach“ befinden musste. Der Einrich-
tungsbegriff des § 100 Abs. 1 BSHG a.F. war vielmehr funktional zu verstehen.
Eine Einrichtung war danach zu definieren als ein für Hilfen nach dieser Vor-
schrift in einer besonderen Organisationsform unter verantwortlicher Leitung
zusammengefasster Bestand an persönlichen und sächlichen Mitteln, die auf
eine gewisse Dauer angelegt und für einen größeren, wechselnden Personen-
kreis bestimmt ist (Urteile vom 24. Februar 1994 - BVerwG 5 C 13.91 - juris
Rn. 14 und - BVerwG 5 C 42.91 - juris Rn. 13).
Eine dem § 100 Abs. 1 Nr. 1 BSHG a.F. vergleichbare Bestimmung findet sich
seit 1. Juli 2005 im Sozialhilferecht nicht mehr. Doch wird der Einrichtungsbe-
griff weiterhin verwandt, insbesondere auch im Zusammenhang mit der Einglie-
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derungshilfe für behinderte Menschen (vgl. §§ 13, 55 SGB XII). Es bestehen
keine Bedenken, weiterhin auf das Begriffsverständnis zurückzugreifen, wel-
ches in der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelt
worden ist (vgl. Lippert, in: Mergler/Zink, SGB XII, § 13 Rn. 38 ff.). Entspre-
chendes gilt für die Einrichtungen der Jugendhilfe, für welche § 5 Abs. 7 Satz 1
Nr. 3 RGebStV ausdrücklich auf das Achte Buch des Sozialgesetzbuches
(SGB VIII) verweist (vgl. Happe/Schimke, in: Jans/Happe/Saurbier/Maas, Ju-
gendhilferecht, 3. Aufl. 2007, § 45 Rn. 14 ff.). Der funktionale Einrichtungsbe-
griff gestattet es, die fraglichen Fahrzeuge als Bestandteile der Einrichtung und
die Beförderung des betreuten Personenkreises als Teil des Einrichtungsbe-
triebes zu begreifen.
Vergleichbare systematische Überlegungen können mit Bezug auf den Be-
triebsbegriff angestellt werden, der im Einleitungssatz des § 5 Abs. 7 Satz 1
RGebStV als zweiter Oberbegriff verwandt wird. Im Betriebsverfassungsrecht
wird unter Betrieb eine organisatorische Einheit verstanden, innerhalb derer ein
Arbeitgeber allein oder mit seinen Arbeitnehmern mithilfe technischer und im-
materieller Mittel bestimmte arbeitstechnische Zwecke verfolgt (vgl. Beschluss
vom 10. Januar 2008 - BVerwG 6 P 4.07 - Buchholz 251.4 § 88 HmbPersVG
Nr. 2 Rn. 26 m.w.N.). Betriebliche Tätigkeit ist auch außerhalb der Betriebsstät-
te möglich (vgl. Fitting/Engels/Schmidt/Trebinger/Linsenmaier, Betriebsverfas-
sungsgesetz, 25. Aufl. 2010, § 1 Rn. 75). „Arbeitstechnischer“ Zweck ist im vor-
liegenden Zusammenhang die Betreuung der hilfebedürftigen Personen. Diese
findet außerhalb der Betriebsstätte statt, soweit die Personen im Rahmen des
Betreuungszwecks befördert werden. Diese Sichtweise ist auch und erst recht
geboten, wenn man von der arbeitsrechtlichen Beziehung abstrahiert und statt-
dessen die sozialrechtliche Beziehung zum betreuten Personenkreis in den
Vordergrund stellt. Die Beförderung ist Teil der sozialrechtlichen Zweckverfol-
gung.
cc) Das Ergebnis der historischen Auslegung steht nicht entgegen. In der Be-
gründung zu Art. 5 Nr. 5 des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrages (ab-
gedruckt bei Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Steltner, Kommentar zum Rundfunk-
staatsvertrag, Bd. I, Stand: März 2010, A 2.6) wird hervorgehoben, dass mit der
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Regelung in § 5 Abs. 7 RGebStV eine materielle Änderung im Vergleich zu der
Regelung in § 3 Abs. 1 der bisherigen Befreiungsverordnungen nicht verbunden
sei. In § 3 Abs. 1 Satz 2 der nordrhein-westfälischen Verordnung über die
Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht in seiner durch Art. 8 Nr. 3 des Ge-
setzes zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung und zur Änderung
anderer Gesetze vom 16. Dezember 2003 (GV.NRW S. 766) eingeführten und
vom 1. Januar 2004 bis zum 31. März 2005 geltenden Fassung war ausdrück-
lich geregelt, dass die Gebührenbefreiung auch für Fahrzeuge der in Rede ste-
henden Betriebe oder Einrichtungen galt, die zur ausschließlichen Beförderung
des betreuten Personenkreises bestimmt waren. Aber auch für die Zeit vor dem
1. Januar 2004 ist das Oberverwaltungsgericht Münster bereits von einer ver-
gleichbaren Rechtslage ausgegangen (Urteil vom 18. August 2004 - 19 A
2349/02 -). Entgegen der Ansicht der Klägerin kann hieraus allerdings nicht
ohne Weiteres gefolgert werden, dass die Aufrechterhaltung dieses Rechtszu-
standes vom Normgeber des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrages ge-
wünscht ist. Andererseits kann aus dem Umstand allein, dass in § 5 Abs. 7
RGebStV eine § 3 Abs. 1 Satz 2 der nordrhein-westfälischen Befreiungsverord-
nung vergleichbare Regelung nicht aufgenommen wurde, auch nicht gefolgert
werden, der Gesetzgeber habe eine dahin gehende Auslegung der neuen, ein-
heitlich geltenden Bestimmung ausschließen wollen.
Mit der Regelung in § 5 Abs. 7 RGebStV verfolgte der Gesetzgeber ausweislich
der Begründung zu Art. 5 Nr. 5 des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrages
die Absicht, materielle Einheitlichkeit der Bestimmungen in allen Ländern si-
cherzustellen. Diese Absicht hat der Gesetzgeber sodann durch die Einführung
der Revisibilität des Rundfunkgebührenstaatsvertrages im Neunten Rundfunk-
änderungsstaatsvertrag in verfahrensrechtlicher Hinsicht untermauert. Dies ge-
schah nach der Begründung zu Art. 7 Nr. 3 des Neunten Rundfunkänderungs-
staatsvertrages (abgedruckt bei: Hartstein/Ring/Kreile/Dörr/Steltner, a.a.O.,
A 2.7) in dem Bewusstsein, dass in dem Bereich der Gebührenbefreiungen und
gerade zu dem hier in Rede stehenden Problemkreis divergierende Entschei-
dungen der Oberverwaltungsgerichte vorlagen (vgl. OVG Münster, Urteil vom
18. August 2004 - 19 A 2394/02 - und OVG Lüneburg, Urteil vom
21. September 1999 - 10 L 2704/99 - einerseits sowie OVG Koblenz, Urteil vom
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28. März 2002 - 12 A 11623/01 -, VGH Mannheim, Urteil vom 11. Dezember
2003 - 2 S 963/03 - und VGH München, Urteil vom 18. April 2002 - 7 B
01.2382 - andererseits). Vor diesem Hintergrund kann der Umstand, dass der
Gesetzgeber die Frage nicht ausdrücklich geregelt hat, seine einfache Erklä-
rung darin finden, dass der Gesetzgeber die Lösung der Rechtsprechung über-
lassen wollte. Dies gilt umso mehr, als der Gesetzgeber die Grundentscheidung
getroffen hat, für Rundfunkgeräte in den fraglichen Einrichtungen und Betrieben
Gebührenbefreiung vorzusehen, so dass die hier zu behandelnde Frage
- Radios in Kraftfahrzeugen - als typisches von der Rechtsanwendung zu lö-
sendes Detailproblem erscheint. Durch die Rechtsprechung des Bundesverwal-
tungsgerichts soll daher eine Rechtseinheit hergestellt werden, die bislang we-
gen divergierender obergerichtlicher Entscheidungen und wegen Sonderent-
wicklungen im normgebenden Bereich nicht gewährleistet war.
Beachtlich ist allerdings die weitere Aussage in der Begründung zu Art. 5 Nr. 5
des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertrages, dass es sich in allen in § 5
Abs. 7 Satz 1 RGebStV abschließend aufgezählten Fällen um Betriebe bzw.
Einrichtungen mit anstalts- bzw. heimmäßiger Unterbringung und Betreuung
handele und damit von der Befreiungsmöglichkeit diejenigen Rundfunkemp-
fangsgeräte erfasst würden, die in derartigen Betrieben bzw. Einrichtungen sta-
tionär bereitgehalten würden. Diese Aussage nötigt freilich aus den nachfol-
genden Erwägungen nicht zu der Annahme, dass der Gesetzgeber die Gebüh-
renbefreiung für Radios in Kraftfahrzeugen umgekehrt hat ausschließen wollen,
soweit die Beförderung des betreuten Personenkreises notwendiger Bestandteil
der Betreuungsleistung ist.
dd) Gegen ein enges Verständnis sprechen der Sinn und Zweck der Regelung,
den der Gesetzgeber an gleicher Stelle verdeutlicht hat. Danach soll dem be-
treuten Personenkreis, der sich in den fraglichen Betrieben und Einrichtungen
regelmäßig über einen längeren zusammenhängenden Zeitraum aufhält, durch
die damit eröffnete Gelegenheit zur kostenlosen Teilnahme am Rundfunk Er-
satz für die nicht mehr mögliche Teilnahme am öffentlichen, sozialen und kultu-
rellen Leben geschaffen werden. Die hier in Rede stehenden Fahrten sind aus
der Sicht des betreuten Personenkreises Teil seiner Unterbringung und damit
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der ihm gewährten stationären Hilfe. Diese ist insgesamt durch mangelnde Teil-
nahme am öffentlichen Leben geprägt. Für die Beförderungsvorgänge gilt nichts
anderes als für das Leben und Arbeiten in den Räumlichkeiten, die Ziel des
Transports sind. Dies lässt sich an dem Tatbestand nach § 5 Abs. 7 Satz 1 Nr.
2 RGebStV gut darstellen. Danach sind die Rundfunkgeräte in Behinder-
tenwohnheimen gebührenbefreit, soweit sie für die Behinderten kostenlos be-
reitgehalten werden. Gleiches gilt für die Behindertenwerkstätten. Dass für die
Beförderung der behinderten Menschen zwischen Wohnheim und Werkstatt
Abweichendes geboten sein soll, will nicht einleuchten. Namentlich kann das
durch die Unterbringung ausgelöste strukturelle Kommunikationsdefizit wäh-
rend der Beförderung nicht als aufgehoben gelten. Eine in dieser Hinsicht an-
zustellende ganzheitliche Betrachtungsweise entspricht einem modernen Ver-
ständnis stationärer Hilfe. Dieses ist nicht durch die Abschottung in „Anstalten“
geprägt, sondern durch eine möglichst weitgehende Kommunikation nach au-
ßen: z.B. durch die Arbeit in Werkstätten, den Besuch von Ausbildungsstätten,
aber auch durch Ausflüge in die Umgebung. All dies ist Teil der Therapie für
einen speziell hilfebedürftigen Personenkreis.
Eine strikt restriktive Auslegung ist nicht geboten. Der Gesetzgeber des Rund-
funkgebührenstaatsvertrages hat sich nicht nur in § 5 Abs. 7 RGebStV, sondern
auch in § 6 Abs. 1 RGebStV sozialen Erwägungen in weitem Umfang zugäng-
lich gezeigt. Angesichts dessen bleibt es möglich, die Befreiungstatbestände
auf der Grundlage üblicher Auslegungsmethoden auf Sachverhalte auszudeh-
nen, die vom Normzweck erfasst werden. So liegt es hier, wie sich aus oben-
stehenden Ausführungen ergibt.
b) Die Radios in den fraglichen Kraftfahrzeugen wurden von der Klägerin un-
entgeltlich für die betreuten behinderten Menschen bereitgehalten.
In der Begründung zu Art. 5 Nr. 5 des Achten Rundfunkänderungsstaatsvertra-
ges ist festgehalten, dass die zu befreienden Rundfunkempfangsgeräte „aus-
schließlich“ für den betreuten Personenkreis bereitgehalten werden müssen.
Dieses Merkmal ist zwar nicht Teil des Normtextes geworden. Doch hat der
Gesetzgeber an dieser Stelle hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht,
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dass der Schutzzweck der Norm allein dem in der Einrichtung betreuten Perso-
nenkreis gilt, nicht aber anderen Personen wie etwa den Beschäftigten des Ein-
richtungsträgers. Dem hat die Auslegung der Vorschrift Rechnung zu tragen.
Für die hier in Rede stehenden Kraftfahrzeuge bedeutet dies, dass ihr Einsatz
für den hilfebedürftigen Personenkreis feststehen muss und dass „Mischnut-
zungen“ von der rundfunkgebührenrechtlichen Privilegierung ausgenommen
sind. Die in der Massenverwaltung unvermeidliche typisierende Betrachtungs-
weise ist auch hier zulässig. Sind die fraglichen Kraftfahrzeuge ihrer Art nach
auf den Transport des betreuten Personenkreises zugeschnitten, so ist in aller
Regel der Schluss erlaubt, dass die eingebauten Radios zu seinen Gunsten
bereitgehalten werden. Der Einrichtungsträger kann dies durch seine Wei-
sungsbefugnis dem Fahrer gegenüber jederzeit sicherstellen.
Im vorliegenden Fall hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass die frag-
lichen 24 Fahrzeuge, die in einer von der Klägerin überreichten Liste vom
15. Februar 2005 als Fahrzeuge für den „Fahrdienst“ bezeichnet waren, aus-
schließlich der Beförderung von Behinderten dienten.
3. Für den Zeitraum April 2005 bis Februar 2007 verbleibt es bei der Klageab-
weisung durch das Oberverwaltungsgericht. Höherrangiges Recht gebietet kei-
ne Korrektur des angefochtenen Urteils. Insbesondere ist dem Klagebegehren
nicht bereits unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG statt-
zugeben, wonach niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden
darf. Zwar kann Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG unter Umständen kompensatorische
Fördermaßnahmen zugunsten behinderter Menschen gebieten (vgl. BVerfG,
Beschluss vom 8. Oktober 1997 - 1 BvR 9/97 - BVerfGE 96, 288 <303>). Im
vorliegenden Zusammenhang ist jedoch die Gebührenbefreiung für Radios in
Kraftfahrzeugen, mit denen behinderte Menschen transportiert werden, nicht die
einzige in Betracht zu ziehende Möglichkeit.
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4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Büge
Dr. Graulich
Vormeier
Dr. Bier
Dr. Möller
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Revisionsverfahren auf
4 769,28 € festgesetzt (§ 47 Abs. 1, § 52 Abs. 3 GKG).
Büge
Dr. Graulich
Dr. Möller
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Sachgebiet:
BVerwGE:
nein
Rundfunkrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquelle:
RGebStV
§ 5 Abs. 7
Stichworte:
Revisibilität, Rundfunkgebühren, Befreiung, Autoradio, Behinderteneinrichtung.
Leitsätze:
1. Die revisionsgerichtliche Überprüfung anhand der Bestimmungen des Rund-
funkgebührenstaatsvertrages ist auf denjenigen Teil des streitbefangenen Zeit-
raums begrenzt, der mit dem Zeitpunkt der Einführung der Revisibilität zum
1. März 2007 beginnt.
2. Die Befreiung von der Gebührenpflicht für Rundfunkempfangsgeräte in Ein-
richtungen erstreckt sich auf Radios in Kraftfahrzeugen des Einrichtungsträgers,
die ausschließlich dem Transport der betreuten behinderten Menschen dienen.
Urteil des 6. Senats vom 28. April 2010 - BVerwG 6 C 6.09
I. VG Minden vom 14.12.2006 - Az.: VG 9 K 1549/05 -
II. OVG Münster vom 10.06.2008 - Az.: OVG 19 A 467/07 -