Urteil des BVerwG vom 22.02.2012

Anerkennung, Vorzeitige Entlassung, Waffe, Wehrpflicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
BVerwG 6 C 11.11
VG 2 K 216/10.KO
Verkündet
am 22. Februar 2012
Harnisch
als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
auf die mündliche Verhandlung vom 22. Februar 2012
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann
und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge, Dr. Graulich, Dr. Möller
und Hahn
für Recht erkannt:
Das Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom
28. September 2010 wird aufgehoben. Die Sache wird zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an die für
das Recht der Kriegsdienstverweigerung zuständige
Kammer des Verwaltungsgerichts zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfah-
rens bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.
G r ü n d e :
I
Der Kläger ist Oberstabsarzt und Soldat auf Zeit. Die Beteiligten streiten um
seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer.
Der Kläger wurde noch als Schüler mit Bescheid des Bundesamts für den Zivil-
dienst (nunmehr: Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben)
vom 17. Februar 1993 als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Nach dem Er-
werb der allgemeinen Hochschulreife im Juni 1993 leistete er Zivildienst im Ret-
tungsdienst des Deutschen Roten Kreuzes. In der Zeit von 1995 bis 2001 ab-
solvierte er ein Studium der Humanmedizin. Im November 2001 bestand er die
Ärztliche Prüfung, im Oktober 2003 wurde er als Arzt approbiert. Von 2001 bis
zum Frühjahr 2006 war er als Arzt in einem Klinikum tätig.
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Unter dem 22. September 2005 erklärte der Kläger gegenüber dem Personal-
amt der Bundeswehr sein Einverständnis, in das Dienstverhältnis eines Sol-
daten auf Zeit berufen zu werden und verpflichtete sich, sechs Jahre
Wehrdienst zu leisten. Mit Schreiben vom 23. September 2005 bekundete er
gegenüber dem Bundesamt für den Zivildienst, „nach Gewissensgründen nicht
mehr daran gehindert zu sein, den Dienst an der Waffe zu leisten“.
Nach Absolvierung einer Eignungsübung wurde der Kläger mit Wirkung zum
1. Juli 2006 unter Berufung in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit zum
Stabsarzt ernannt. Er wurde - unterbrochen durch Auslandseinsätze von An-
fang Juni bis Mitte Juli 2007 in Kunduz/Afghanistan und von Ende September
bis Anfang November 2008 in Prizren/Kosovo - im Bundeswehrzentralkranken-
haus in Koblenz verwandt. Am 15. Oktober 2008 wurde er zum Oberstabsarzt
befördert.
Unter dem 15. Juni 2009 stellte der Kläger gegenüber dem Kreiswehrersatzamt
Koblenz einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Unter
demselben Datum beantragte er bei dem Personalamt der Bundeswehr, ihn
nach § 55 Abs. 3 SG aus dem Dienstverhältnis als Soldat auf Zeit zu entlassen.
Mit Bescheid vom 14. Juli 2009 lehnte das Bundesamt für den Zivildienst den
Anerkennungsantrag des Klägers mit der Begründung als unzulässig ab, dass
Sanitätsoffizieren, die sich freiwillig zum Dienst in der Bundeswehr verpflichtet
hätten, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts das für die
Durchführung eines Anerkennungsverfahrens erforderliche Rechtsschutzinte-
resse fehle. Den Widerspruch des Klägers wies das Bundesamt mit Wider-
spruchsbescheid vom 4. Februar 2010 zurück. Mit seinem Entlassungsbegeh-
ren blieb der Kläger im Verwaltungsverfahren vor dem Personalamt der Bun-
deswehr und im Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht und dem Ober-
verwaltungsgericht Koblenz erfolglos.
Die Kriegsdienstverweigerung des Klägers ist Gegenstand seiner am 17. Feb-
ruar 2010 erhobenen Klage. In der mündlichen Verhandlung vor dem Verwal-
tungsgericht hat der Kläger geltend gemacht, seine Erklärung vom 23. Septem-
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ber 2005 sei als Verzicht auf seine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer
vom 17. Februar 1993 unwirksam, da sie nicht als actus contrarius eines An-
erkennungsbegehrens formuliert sei. Er hat ferner darauf angetragen, im Ein-
zelnen bezeichnete Zeugen aus dem Sanitätsdienst der Bundeswehr zum Be-
weis der von ihm behaupteten infanteristischen Ausbildung, Bewaffnung und
Verwendung von Sanitätssoldaten - insbesondere im Hinblick auf die Auslands-
einsätze der Bundeswehr - zu vernehmen. Das Verwaltungsgericht hat die Be-
weisanträge mit der Begründung abgelehnt, die unter Beweis gestellten Be-
hauptungen würden als wahr unterstellt.
Das Verwaltungsgericht hat die Klage mit dem angefochtenen Urteil abgewie-
sen. Ihr fehle bereits nach dem eigenen Vortrag des Klägers das Rechtsschutz-
interesse, da er die Auffassung vertrete, sein Verzicht auf die Anerkennung als
Kriegsdienstverweigerer sei wegen Formmangels mit der Folge unwirksam,
dass die Anerkennung fortgelte und es der begehrten erneuten Anerkennung
nicht bedürfe. Dies könne indes dahinstehen, da die Klage auch deshalb unzu-
lässig sei, weil nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts frei-
willig in der Bundeswehr dienende Sanitätssoldaten kein Rechtsschutzbedürfnis
für die Stellung eines Antrags auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer
hätten. Da der Sanitätsdienst kein Kriegsdienst mit der Waffe sei, könne den
aktiven Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit, die sich in diesem waffenlosen
Dienst befänden, zugemutet werden, zunächst ihre Entlassung aus dem freiwil-
lig eingegangenen Dienstverhältnis zu betreiben und erst dann den Antrag auf
Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu stellen. Die von dem Kläger zur
Situation der Sanitätssoldaten im Auslandseinsatz aufgestellten Behauptungen
verdeutlichten allenfalls eine Verschärfung der Einsatzbedingungen, nicht aber
eine Änderung der Rolle des Sanitätsdienstes. Der Waffeneinsatz dürfe und
müsse sich an der Bedrohungsintensität ausrichten.
Der Kläger begehrt mit seiner von dem Senat zugelassenen Revision, die Be-
klagte unter Aufhebung der ablehnenden Entscheidungen zu seiner Anerken-
nung als Kriegsdienstverweigerer zu verpflichten. Er macht geltend, das Ver-
waltungsgericht sei im Sinne des § 138 Nr. 1 VwGO nicht vorschriftsmäßig be-
setzt gewesen, weil es über die Klage durch die nach dem Geschäftsvertei-
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lungsplan des Gerichts für das Soldatenrecht zuständige zweite Kammer und
nicht durch die für das Recht der Kriegsdienstverweigerung zuständige siebte
Kammer entschieden habe. Einen weiteren Verfahrensfehler habe das Verwal-
tungsgericht dadurch begangen, dass es sein Klagebegehren nicht vollständig
erfasst und beschieden habe. Dieses sei in interessengerechter Auslegung
nach § 88 VwGO auch ohne entsprechende Bezeichnung mit dem Hauptantrag
auf die Feststellung des Fortbestehens seiner Anerkennung als Kriegsdienst-
verweigerer und lediglich hilfsweise auf die Verpflichtung der Beklagten zu sei-
ner erneuten Anerkennung gerichtet gewesen. In materieller Hinsicht verkenne
die von dem Verwaltungsgericht entscheidungstragend herangezogene Recht-
sprechung des Bundesverwaltungsgerichts, derzufolge Sanitätssoldaten, die
sich als Berufs- oder Zeitsoldaten freiwillig zum Dienst in der Bundeswehr ver-
pflichtet hätten, kein Rechtsschutzbedürfnis für einen Antrag auf Anerkennung
als Kriegsdienstverweigerer zustehe, schon von ihrem Ansatz her den Schutz-
umfang des Art. 4 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 12a Abs. 2 Satz 3 GG. Unabhängig
hiervon sei die Einstufung des Sanitätsdienstes als waffenloser Dienst im Sinne
dieser Rechtsprechung jedenfalls unter der Geltung der von dem Verwaltungs-
gericht als wahr unterstellten Bedingungen im Rahmen der Auslandseinsätze
der Bundeswehr nicht haltbar. Darüber hinaus führe die Verweisung auf eine
vorrangig zu betreibende Dienstentlassung nach § 55 Abs. 3 SG zu einer Ver-
letzung der grundrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 3 Abs. 1 und Art. 19
Abs. 4 GG.
Die Beklagte tritt der Revision mit Ausführungen zu Ausbildung und Bewaffnung
des Sanitätspersonals sowie zu seiner Verwendung im Auslandseinsatz ent-
gegen. Sie sieht keinen Anlass, die Qualifikation des Sanitätsdienstes als
waffenlos aufzugeben.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil ver-
letzt Bundesrecht (§ 137 Abs. 1 VwGO) und stellt sich auch nicht aus anderen
Gründen im Ergebnis als richtig dar (§ 144 Abs. 4 VwGO). Zwar greifen die von
dem Kläger erhobenen Verfahrensrügen nicht durch (1.). Jedoch trifft die Ein-
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schätzung des Verwaltungsgerichts nicht zu, Berufs- und Zeitsoldaten des Sani-
tätsdienstes der Bundeswehr hätten generell kein Rechtsschutzbedürfnis für die
Durchführung eines Verfahrens auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer
(2.). Im Fall des Klägers kann ein solches Rechtsschutzbedürfnis auch nicht
unter Verweis auf eine Fortgeltung seiner Anerkennung als Kriegsdienstverwei-
gerer aus dem Jahr 1993 verneint werden (3.). Eine abschließende Entschei-
dung in der Sache ist dem Senat nicht möglich, da es an tatsächlichen Feststel-
lungen dazu fehlt, ob der Kläger eine Gewissensentscheidung gegen den
Kriegsdienst mit der Waffe getroffen hat. Deshalb ist das angefochtene Urteil
aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
zurückzuverweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 VwGO).
1. Dem verwaltungsgerichtlichen Urteil haften die von dem Kläger gerügten Ver-
fahrensfehler nicht an. Weder kann eine nicht vorschriftsmäßige Besetzung des
Gerichts festgestellt werden (a) noch hat das Verwaltungsgericht das Klagebe-
gehren falsch ausgelegt und teilweise unbeschieden gelassen (b).
a) Der Einwand des Klägers, das Verwaltungsgericht sei bei der Entscheidung
über die von ihm anhängig gemachte Klage mit der nach dem gerichtlichen Ge-
schäftsverteilungsplan für das Soldatenrecht zuständigen zweiten Kammer im
Sinne des § 138 Nr. 1 VwGO nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen, rechtfer-
tigt nicht die Aufhebung des Urteils.
Zwar spricht Überwiegendes - insbesondere die Sachbehandlung des Verwal-
tungsgerichts in dem Parallelverfahren zum Aktenzeichen BVerwG 6 C 31.11 -
dafür, dass auf die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gerichtete Verfah-
ren auch dann, wenn sie von Berufs- und Zeitsoldaten betrieben werden, nach
dem Geschäftsverteilungsplan des Verwaltungsgerichts der Zuständigkeit der
siebten Kammer für das Recht der Kriegsdienstverweigerung zuzuordnen sind.
Jedoch rechtfertigt allein die unrichtige Handhabung des Geschäftsverteilungs-
plans nicht die Rüge der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts nach
§ 138 Nr. 1 VwGO (BVerfG, Beschluss des Plenums vom 8. April 1997
- 1 PBvU 1/95 - BVerfGE 95, 322 <333>; BVerwG, Beschluss vom 21. Dezem-
ber 1994 - BVerwG 1 B 176.93 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 1 VwGO Nr. 32 S. 2,
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Urteil vom 25. Juli 2001 - BVerwG 6 C 8.00 - juris Rn. 11, insoweit in BVerwGE
115, 32 und Buchholz 421.2 Hochschulrecht Nr. 158 nicht abgedruckt). Die Be-
setzungsrüge ist vielmehr nur begründet, wenn und soweit in der unrichtigen
Anwendung des Geschäftsverteilungsplans zugleich eine Verletzung des An-
spruchs auf den gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG
liegt, weil das Gericht seine Zuständigkeit auf Grund von willkürlichen Erwä-
gungen angenommen hat. Dass sich die zweite Kammer des Verwaltungsge-
richts auf Grund einer willkürlichen Überdehnung des in dem nicht revisiblen
Geschäftsverteilungsplan enthaltenen Begriffs des Soldatenrechts zu einer Ent-
scheidung in dem Verfahren berufen gesehen hat, vermag der Senat nicht fest-
zustellen. Näher liegt die Annahme, dass die Kammer sich deshalb für zustän-
dig erachtet hat, weil sie neben dem Antrag des Klägers auf Anerkennung als
Kriegsdienstverweigerer auch mit dessen - zu gemeinsamer Verhandlung ver-
bundenen und mit Urteil vom selben Tag entschiedenen - Begehren auf Entlas-
sung aus dem Dienstverhältnis als Soldat auf Zeit befasst war.
Unabhängig hiervon nimmt der Senat die Sachbehandlung des Verwaltungsge-
richts in dem Parallelverfahren zum Aktenzeichen BVerwG 6 C 31.11 zum An-
lass, die Sache im Rahmen der auszusprechenden Zurückverweisung gemäß
§ 173 VwGO i.V.m. § 563 Abs. 1 Satz 2 ZPO der nach dem geltenden Ge-
schäftsverteilungsplan des Verwaltungsgerichts für das Recht der Kriegsdienst-
verweigerung zuständigen Kammer zu überantworten.
b) Fehl geht auch die Rüge der fehlerhaften Auslegung und teilweisen Nichtbe-
scheidung des Klagebegehrens.
Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht
durch Bezugnahme auf die Klageschrift vom 10. Februar 2010 beantragt, den
Bescheid des Bundesamts für den Zivildienst vom 14. Juli 2009 über die Ableh-
nung seines Anerkennungsantrags vom 15. Juni 2009 und den dazu ergange-
nen Widerspruchsbescheid vom 4. Februar 2010 aufzuheben und seine Be-
rechtigung zur Verweigerung des Kriegsdienstes mit der Waffe festzustellen.
Bei sachgemäßer Auslegung dieses Klagebegehrens nach § 88 VwGO musste
das Verwaltungsgericht das Fortbestehen der durch den Bescheid des Bundes-
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amts für den Zivildienst vom 17. Februar 1993 ausgesprochenen Anerkennung
des Klägers als Kriegsdienstverweigerer nicht prüfen.
Zwar war der gestellte Antrag insoweit auslegungsbedürftig und auslegungsfä-
hig, als er entgegen seinem Wortlaut nicht auf eine Feststellung, sondern auf
die Verpflichtung der Beklagten zu der von dem Kläger erstrebten - erneuten -
Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer gerichtet war. Richtige Klageart ist
nämlich nach geltendem Recht die Verpflichtungsklage; sie schließt die Anfech-
tung der vorangegangenen, ablehnenden Verwaltungsentscheidung mit ein und
zugleich gemäß § 43 Abs. 2 Satz 1 VwGO eine allgemeine Feststellungsklage
aus (Urteil vom 29. Juni 1992 - BVerwG 6 C 11.92 - BVerwGE 90, 265 <268 ff.>
= Buchholz 310 § 113 VwGO Nr. 249 S. 95 ff.).
Demgegenüber lässt sich ein auf das Fortbestehen der Anerkennungsentschei-
dung vom 17. Februar 1993 bezogenes eigenständiges Klagebegehren dem in
der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht gestellten Klagean-
trag und der umfänglichen Klageschrift vom 10. Februar 2010 auch im Wege
der Auslegung nicht entnehmen. Erst recht fehlt jeder Anhaltspunkt für die von
dem Kläger im Nachhinein reklamierte Stufung in einen Haupt- und einen Hilfs-
antrag. Das schriftliche Klagevorbringen beschäftigt sich vielmehr ausschließ-
lich mit der Zulässigkeit und Begründetheit der Klage gegen die Ablehnung des
neuerlichen Anerkennungsantrags des Klägers durch die Bescheide des Bun-
desamts vom 14. Juli 2009 und vom 4. Februar 2010. Eine Ungültigkeit seiner
Erklärung vom 23. September 2005, die Voraussetzung für ein Fortwirken der
ersten Anerkennung wäre, hat der Kläger erst in der mündlichen Verhandlung
geltend gemacht. Er hat anwaltlich vertreten gleichwohl an seiner in der Klage-
schrift enthaltenen Antragstellung festgehalten.
2. Das angefochtene Urteil verstößt jedoch gegen Bundesrecht, weil das Ver-
waltungsgericht das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers für sein Begehren auf
Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu Unrecht verneint und dadurch die
grundrechtlichen Gewährleistungen aus Art. 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Art. 12a
Abs. 2 Satz 3 GG und Art. 19 Abs. 4 GG sowie den allgemeinen Gleichheitssatz
des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt hat.
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Aus den gesetzlichen Bestimmungen der § 2 Abs. 6 Satz 3 KDVG, § 46 Abs. 2
Satz 1 Nr. 7, § 55 Abs. 1 Satz 1 SG ergibt sich, dass nicht nur gediente und
ungediente Wehrpflichtige, sondern auch Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit
ihre Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer beantragen können. Der Senat
hält an seiner Rechtsprechung nicht fest, derzufolge Berufs- und Zeitsoldaten
im Sanitätsdienst der Bundeswehr aus Rechtsgründen gleichwohl kein Rechts-
schutzbedürfnis für ein auf ihre Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer ge-
richtetes Verfahren zuzubilligen ist (a). Auch für die freiwillig dienenden Ange-
hörigen eines waffenlosen Sanitätsdienstes ist die Rechtsposition nicht nutzlos,
die sie durch einen Antrag auf Anerkennung der Berechtigung, den Kriegsdienst
mit der Waffe zu verweigern, zu gewinnen trachten. Sie müssen sie deshalb
grundsätzlich in gleicher Weise wie alle anderen Wehrpflichtigen und Soldaten
der Bundeswehr erreichen können (b). Eine Rechtfertigung dafür, die im Sani-
tätsdienst tätigen Berufs- und Zeitsoldaten von der Möglichkeit auszunehmen,
jederzeit ein Anerkennungsverfahren durchlaufen zu können, kann nicht in de-
ren freiwilliger Dienstverpflichtung gefunden werden (c). Ebenso wenig können
die Betroffenen auf ein vorrangig zu betreibendes Dienstentlassungsverfahren
verwiesen werden (d).
a) Nach der bisherigen Rechtsprechung des Senats haben Berufs- und Zeitsol-
daten, die sich auf Grund freiwilliger Verpflichtung im aktiven Sanitätsdienst der
Bundeswehr befinden, bis zur Beendigung ihres Dienstverhältnisses kein
Rechtsschutzbedürfnis für eine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Sol-
daten, die auf Grund ihrer Wehrpflicht als Sanitäter Dienst leisten müssen, un-
terliegen dagegen im Hinblick auf die Geltendmachung einer Gewissensent-
scheidung gegen den Kriegsdienst mit der Waffe keinen Einschränkungen.
Der Senat hat mit dieser Rechtsprechung an die in dem Urteil des Bundesver-
fassungsgerichts vom 24. April 1985 - 2 BvF 2/83 u.a. - (BVerfGE 69, 1 <24 f.,
54 ff.>) angelegte Unterscheidung zwischen dem erst geltend gemachten und
dem bereits förmlich festgestellten Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG an-
geknüpft. Während der volle Schutz des förmlich festgestellten Grundrechts
unter Berücksichtigung des Art. 12a Abs. 2 Satz 3 GG das Recht zur Verweige-
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rung auch des waffenlosen Dienstes in der Bundeswehr umfasse, lasse sich
aus dem lediglich geltend gemachten Grundrecht nur eine vorläufige Sicherung
seines Kernbereichs in dem Sinne ableiten, dass zwar eine Heranziehung zum
Kriegsdienst mit der Waffe, nicht aber zum waffenlosen Dienst ausgeschlossen
sei.
Ein den Kernbereich der grundrechtlichen Gewährleistung nicht berührender
waffenloser Dienst sei ein solcher, der objektiv keine Tätigkeiten umfasse, die in
einem nach dem Stand der jeweiligen Waffentechnik unmittelbaren Zusam-
menhang mit dem Einsatz von Kriegswaffen stünden. Dies gelte insbesondere
für den Sanitätsdienst. Auch wenn Sanitätssoldaten an Handfeuerwaffen wie
Pistolen und Gewehren ausgebildet würden, werde ihr Dienst wegen der be-
sonderen völkerrechtlichen Stellung des Sanitätsdienstes nicht zum Kriegs-
dienst mit der Waffe.
Da das nach Durchführung des Anerkennungsverfahrens förmlich zuerkannte
Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 GG gemäß Art. 12a Abs. 2 Satz 3 GG das Recht
einschließe, jeglichen Dienst in der Bundeswehr, also auch einen waffenlosen
Dienst einschließlich des Sanitätsdienstes, zu verweigern, hätten Wehrpflichti-
ge, die sich auf das Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG beriefen, einen An-
spruch auf Durchführung des Anerkennungsverfahrens, wenn und solange sie
auf Grund ihrer Wehrpflicht zu irgendeinem Dienst in der Bundeswehr ein-
schließlich des Sanitätsdienstes herangezogen werden könnten. Dagegen sei
ein Anspruch auf Durchführung des Anerkennungsverfahrens zu verneinen,
wenn aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen eine Heranziehung zum
Wehrdienst auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht nicht in Betracht komme, die
betroffenen Wehrpflichtigen den Schutz des Grundrechts also nicht benötigten.
Dies sei auch dann der Fall, wenn und solange sie nicht auf Grund ihrer Wehr-
pflicht, sondern als Folge eigener freiwilliger Verpflichtung waffenlosen Dienst
- insbesondere Sanitätsdienst - leisteten, ihre gesetzliche Wehrpflicht also von
der selbst eingegangenen Verpflichtung zu einem Dienst überlagert werde, der
als waffenloser Dienst vor Tätigkeiten schütze, die den Kernbereich des Art. 4
Abs. 3 Satz 1 GG berührten. Die Betroffenen, die sich der für anerkannte
Kriegsdienstverweigerer durch Art. 12a Abs. 2 Satz 3 GG garantierten Möglich-
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keit, einen Ersatzdienst außerhalb der Bundeswehr zu wählen, durch ihre frei-
willige Verpflichtung zum Sanitätsdienst in der Bundeswehr begeben hätten,
hätten es - wenn ihnen ihr Gewissen auch die Leistung dieses Dienstes verbie-
te - selbst in der Hand, ihr freiwillig eingegangenes Dienstverhältnis mit einem
Entlassungsantrag nach dem Soldatendienstrecht vorzeitig zu beenden. Werde
nach der Entlassung aus dem Soldatenverhältnis die gesetzliche Wehrpflicht
der Betroffenen wieder aktuell, hätten sie ein Rechtsschutzbedürfnis für ein Ver-
fahren auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer. Einem auf § 46 Abs. 6
(§ 46 Abs. 3 Satz 3 a.F.), § 55 Abs. 3 SG gestützten Antrag auf vorzeitige Ent-
lassung aus dem Soldatendienstverhältnis werde stattzugeben sein, wenn da-
durch die Möglichkeit geschaffen werden solle, die Anerkennung als Kriegs-
dienstverweigerer aus Gewissensgründen beantragen zu können. Denn der
Zwang, gegen die Gebote des eigenen Gewissens einen Dienst leisten zu müs-
sen, der jedenfalls im Zusammenhang mit den Verbänden der Streitkräfte ste-
he, sei im Licht des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG nach den genann-
ten soldatenrechtlichen Entlassungsvorschriften als eine schwerwiegende per-
sönliche Härte anzusehen, die ein weiteres Verbleiben im Soldatendienstver-
hältnis unzumutbar mache (vgl. zum Ganzen: Urteile vom 27. November 1985
- BVerwG 6 C 5.85 - BVerwGE 72, 241 <242 ff.> = Buchholz 448.6 § 13 KDVG
Nr. 3 S. 7 ff., vom 22. August 1994 - BVerwG 6 C 14.93 - Buchholz 448.6 § 13
KDVG Nr. 17 S. 2 ff. und vom 28. August 1996 - BVerwG 6 C 2.95 - Buchholz
448.6 § 13 KDVG Nr. 19 S. 7 ff. sowie - im Wesentlichen auf formelle Erwägun-
gen gestützt - Beschluss vom 20. November 2009 - BVerwG 6 B 24.09 -
Buchholz 448.6 § 1 KDVG Nr. 58 Rn. 4 f. - für im Sanitätsdienst befindliche
Zeit- und Berufssoldaten; Urteile vom 17. August 1988 - BVerwG 6 C 36.86 -
BVerwGE 80, 62 <63 ff.> = Buchholz 448.6 § 13 KDVG Nr. 9 S. 5 ff. und
- BVerwG 6 C 27.86 - Buchholz 448.6 § 13 KDVG Nr. 10, vom 20. Dezember
1988 - BVerwG 6 C 38.87 - Buchholz 448.6 § 13 KDVG Nr. 11 S. 17 f., vom
10. Februar 1989 - BVerwG 6 C 9.86 - Buchholz 448.6 § 14 KDVG Nr. 21 S. 12,
vom 26. März 1990 - BVerwG 6 C 24.88 - juris Rn. 7, vom 28. März 1990
- BVerwG 6 C 45.88 - Buchholz 448.6 § 13 KDVG Nr. 16 S. 28 ff. und vom
3. April 1990 - BVerwG 6 C 30.88 - juris Rn. 8 - für wehrpflichtige Sanitätssolda-
ten).
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Soweit nach diesen Rechtsprechungsgrundsätzen freiwillig dienenden Sanitäts-
soldaten der Bundeswehr ein Rechtsschutzbedürfnis für das jederzeitige und
unmittelbare Durchlaufen eines auf die Anerkennung als Kriegsdienstverweige-
rer gerichteten Verfahrens abzusprechen ist, hält der Senat an ihnen nicht fest.
Die den Grundsätzen insoweit zu Grunde liegenden Annahmen haben sich als
nicht tragfähig erwiesen.
b) Das Rechtsschutzbedürfnis im Verwaltungsprozess - und in Entsprechung
dazu das Sachbescheidungsinteresse im Verwaltungsverfahren - ist im Regel-
fall zu bejahen und bedarf nur in besonderen Fällen der Begründung (Urteile
vom 17. Januar 1989 - BVerwG 9 C 44.87 - BVerwGE 81, 164 <165 f.> =
Buchholz 402.25 § 2 AsylVfG Nr. 9 S. 19 f. und vom 29. April 2004 - BVerwG
3 C 25.03 - BVerwGE 121, 1 <3> = Buchholz 451.74 § 9 KHG Nr. 9 S. 5). Von
den Fallgruppen, in denen diese Voraussetzung für eine Sachentscheidung feh-
len kann (vgl. dazu: Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO,
Bd. 1, Stand: September 2011, Vorbemerkung § 40 Rn. 81 ff.), kommt hier nur
diejenige der Nutzlosigkeit der begehrten Entscheidung in Betracht. Nutzlos ist
eine Entscheidung indes nur dann, wenn sie demjenigen, der sie erstrebt, of-
fensichtlich keinerlei rechtliche oder tatsächliche Vorteile bringen kann (Urteil
vom 29. April 2004 a.a.O. S. 3 bzw. S. 5).
Die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer, die am Ende eines erfolgreich
durchlaufenen Anerkennungsverfahrens steht, ist für die Berufs- und Zeitsolda-
ten im aktiven Sanitätsdienst der Bundeswehr nicht in dem beschriebenen Sin-
ne offensichtlich ohne jeglichen Nutzen. Dies gilt auch dann, wenn man davon
ausgeht, dass die betroffenen Soldaten in Gestalt des Sanitätsdienstes einen
waffenlosen Dienst versehen und deshalb dauerhaft in dem Kernbereich ihres
Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG geschützt sind, weil sie vor dem
Zwang bewahrt werden, entgegen den Geboten ihres Gewissens in einer
Kriegshandlung einen anderen töten bzw. Tätigkeiten ausführen zu müssen, die
in einem nach dem Stand der jeweiligen Waffentechnik unmittelbaren Zusam-
menhang mit dem Einsatz von Kriegswaffen stehen (vgl. dazu: BVerfG, Be-
schlüsse vom 26. Mai 1970 - 1 BvR 83/69 u.a. - BVerfGE 28, 243 <262> und
vom 12. Oktober 1971 - 2 BvR 65/71 - BVerfGE 32, 40 <46>, Urteile vom
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13. April 1978 - 2 BvF 1/77 u.a. - BVerfGE 48, 127 <163 f.> und vom 24. April
1985 a.a.O. S. 54, 56, Beschluss vom 11. Juli 1989 - 2 BvL 11/88 - BVerfGE
80, 354 <358>). Denn mit einer Sicherung des bloßen Kernbereichs des Grund-
rechts aus Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG müssen sich anerkannte Kriegsdienstver-
weigerer nicht begnügen.
Auf den Kernbereich des Grundrechts auf Kriegsdienstverweigerung hat das
Bundesverfassungsgericht nur im Zusammenhang mit der Frage abgestellt,
welche Dienstpflichten Soldaten in der Übergangszeit zwischen der Einreichung
eines Antrags auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer und dem Ab-
schluss des Anerkennungsverfahrens erfüllen müssen. Da einerseits der Kern-
bereich des Grundrechts durch den Waffendienst im Frieden nicht berührt wird
und andererseits auch der Einrichtung und der Funktionsfähigkeit der Bundes-
wehr Verfassungsrang zukommt, ist es den Betroffenen in Friedenszeiten zu-
mutbar, den bisher geleisteten Dienst für die Dauer des mit möglichster Be-
schleunigung zu führenden Anerkennungsverfahrens fortzusetzen (BVerfG, Be-
schlüsse vom 26. Mai 1970 a.a.O. S. 262 und vom 12. Oktober 1971 a.a.O.
S. 45 ff.). Im Spannungs- und Verteidigungsfall bleibt jedenfalls die Heranzie-
hung zu einem waffenlosen Dienst zulässig, bis endgültig feststeht, dass das
Grundrecht aus Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG zu Recht in Anspruch genommen wird
(BVerfG, Urteil vom 24. April 1985 a.a.O. S. 56 f.).
Jenseits der durch das Anerkennungsverfahren bedingten zeitlichen Über-
gangsphase geht bei einem für den jeweiligen Antragsteller erfolgreichen Ab-
schluss dieses Verfahrens der Gewährleistungsgehalt des Rechts auf Kriegs-
dienstverweigerung indes über den beschriebenen Kernbereich hinaus. Dies
gibt das Grundgesetz durch die in Art. 12a Abs. 2 GG erteilte Ermächtigung, auf
gesetzlichem Wege eine Ersatzdienstpflicht einzuführen, allgemein zu erkennen
(vgl. im Hinblick auf das Recht zur Kriegsdienstverweigerung bereits im Frie-
den: BVerfG, Urteil vom 13. April 1978 a.a.O. S. 164, Beschluss vom 11. Juli
1989 a.a.O.). Speziell der Regelung des Art. 12a Abs. 2 Satz 3 GG kann
- hieran hält der Senat fest - entnommen werden, dass ein anerkannter Kriegs-
dienstverweigerer das Recht hat, jeglichen Dienst in der Bundeswehr, also auch
einen waffenlosen Dienst einschließlich des Sanitätsdienstes zu verweigern.
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Vor diesem verfassungsrechtlichen Hintergrund bestimmt das einfache Recht in
§ 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, § 55 Abs. 1 Satz 1 SG, dass Berufs- und Zeitsoldaten
im Falle ihrer Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer zu entlassen sind. Dies
entspricht der Regelung, die § 29 Abs. 1 Satz 3 Nr. 6 WPflG für als Kriegs-
dienstverweigerer anerkannte Wehrpflichtige trifft.
Sind mit der Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer derartige, über die bloße
Sicherung des Kernbereichs des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG hi-
nausgehende Gewährleistungen verbunden, muss den Berufs- und Zeitsolda-
ten des Sanitätsdienstes wie allen Wehrpflichtigen und Soldaten der Bundes-
wehr grundsätzlich die Möglichkeit zugestanden werden, diese Rechtsposition
jederzeit und unmittelbar durch das Durchlaufen des für die Anerkennung erfor-
derlichen Verfahrens zu erreichen.
c) Dem Sanitätspersonal im Status von Berufs- und Zeitsoldaten ein beachtli-
ches Bedürfnis hierfür abzusprechen, kann entgegen der bisherigen Einschät-
zung des Senats nicht durch die Erwägung gerechtfertigt werden, dass die nach
§ 1 Abs. 2 Satz 1 SG eingegangene freiwillige Dienstverpflichtung der Betroffe-
nen deren Wehrpflicht überlagere und diese sich hierdurch des durch Art. 12a
Abs. 2 Satz 3 GG garantierten Rechts zur Ableistung eines Ersatzdienstes au-
ßerhalb der Bundeswehr begeben hätten.
Denn zum einen ist das Recht der Kriegsdienstverweigerung ausweislich der
einfachgesetzlichen Regelung in § 2 Abs. 6 Satz 3 KDVG, § 46 Abs. 2 Satz 1
Nr. 7, § 55 Abs. 1 Satz 1 SG nicht an die gesetzliche Wehrpflicht gekoppelt.
Zum anderen ist mit den Begriffen des Überlagerns und des Sich-Begebens im
Ergebnis die Annahme verbunden, die Betroffenen verzichteten bei Abgabe
ihrer Dienstverpflichtung mit Wirkung für die gesamte Dauer ihres jahrelangen
Dienstes unwiderruflich darauf, das Recht der Kriegsdienstverweigerung aus
Gewissensgründen in seinem vollen Gewährleistungsgehalt wahrzunehmen.
Ein derartiger Verzicht erfasste mithin nicht nur bereits getroffene, sondern
auch erst im Laufe der Jahre entstehende Gewissensentscheidungen. Ein sol-
cher Gehalt kann der von den Betroffenen abgegebenen Dienstverpflichtung
rechtlich und tatsächlich keinesfalls zukommen.
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d) Entgegen der bisherigen Annahme des Senats stellt für die Berufs- und Zeit-
soldaten des Sanitätsdienstes auch die Möglichkeit, unter Verweis auf einen
beabsichtigten Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer ihre vorzei-
tige Entlassung aus dem Soldatendienstverhältnis auf der Grundlage der Härte-
fallklauseln der § 46 Abs. 6 (§ 46 Abs. 3 Satz 3 a.F.), § 55 Abs. 3 SG zu betrei-
ben und im Erfolgsfall gegebenenfalls in das Anerkennungsverfahren überzu-
wechseln, keine Alternative dar, die das unmittelbare Durchlaufen eines An-
erkennungsverfahrens als überflüssig erscheinen lassen könnte.
Hierfür spricht bereits, dass der Entlassungsgrund der persönlichen Härte eines
Verbleibens im Dienst einer Inanspruchnahme durch sämtliche Berufs- und
Zeitsoldaten der Bundeswehr und nicht nur durch diejenigen des Sanitätsdiens-
tes offen steht, ohne dass indes allgemein das Dienstentlassungsverfahren als
vorrangig gegenüber einem Verfahren auf Anerkennung als Kriegsdienstver-
weigerer begriffen und die damit verbundene zusätzliche Verfahrenslast als hin-
nehmbar erachtet würde.
Hinzu kommt, dass das von dem Senat bisher befürwortete Verhältnis von An-
erkennungsverfahren und Dienstentlassungsverfahren in den einschlägigen
Verfahrensvorschriften nicht angelegt ist. Vielmehr hat das Kriegsdienstverwei-
gerungsgesetz in allen seinen bisherigen Fassungen die Entscheidung über
Anträge auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer Stellen außerhalb der
Wehrverwaltung bzw. ihrer Weisungsbefugnis überantwortet. Zudem hat bei
einer Kriegsdienstverweigerung von Berufs- oder Zeitsoldaten das von diesen
Stellen durchzuführende Anerkennungsverfahren nach der Vorstellung des Ge-
setzgebers einem Dienstentlassungsverfahren voranzugehen. Dies ergibt sich
aus den bereits genannten Vorschriften der § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7, § 55
Abs. 1 Satz 1 SG, die die Entlassung aus dem Dienst als Rechtsfolge einer An-
erkennung als Kriegsdienstverweigerer ausgestalten.
Diese im Sinne des Gesetzes liegende Zuständigkeitsverteilung und Entschei-
dungsabfolge ist durch die bisherige Rechtsprechung des Senats zur Kriegs-
dienstverweigerung, derzufolge zunächst die Wehrverwaltung über einen An-
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trag von freiwillig dienenden Sanitätssoldaten auf Dienstentlassung wegen be-
sonderer Härte zu entscheiden hat, bevor diese gegebenenfalls ein Verfahren
auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer betreiben können, praktisch ab-
geändert bzw. umgekehrt worden. Hierdurch wird in jedem Fall die Beschleuni-
gungsmaxime, der das Anerkennungsverfahren unterliegt, in vermeidbarer Wei-
se eingeschränkt. Es kann darüber hinaus zu einer nicht hinnehmbaren Kompli-
zierung der Verfahrensabläufe kommen. Denn es ist einerseits grundsätzlich
möglich, dass ein Betroffener im Hinblick auf einen beabsichtigten Antrag auf
Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus dem Dienst entlassen, später
jedoch nicht anerkannt wird. Dann stellt sich die Frage einer Aufhebung der
Entlassungsverfügung nach §§ 48, 49 VwVfG. Andererseits kann nicht ausge-
schlossen werden, dass ein Sanitätssoldat, der tatsächlich eine Gewissensent-
scheidung im Sinne des Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG getroffen hat, in dem für die
Feststellung dieser Entscheidung nicht geschaffenen Dienstentlassungsverfah-
ren scheitert und mit ihr dann über eine lange Zeit kein Gehör mehr findet.
3. Das verwaltungsgerichtliche Urteil stellt sich schließlich nicht deshalb nach
§ 144 Abs. 4 VwGO im Ergebnis als richtig dar, weil davon ausgegangen wer-
den müsste, dass der Kläger wegen einer nach wie vor gegebenen Wirksamkeit
des Anerkennungsbescheids vom 17. Februar 1993 bereits anerkannter Kriegs-
dienstverweigerer ist und deshalb für die Klage, mit der er seine erneute An-
erkennung erstrebt, kein Rechtsschutzbedürfnis hat. Denn auf seine erstmalige
Anerkennung hat der Kläger durch die unter dem 23. September 2005 abgege-
bene Erklärung verzichtet, aus Gewissensgründen nicht mehr daran gehindert
zu sein, den Dienst an der Waffe zu leisten.
Der Senat hat den Gehalt der Erklärung des Klägers vom 23. September 2005
nach den Auslegungsregeln der §§ 133, 157 BGB zu ermitteln, obwohl es sich
insoweit um eine Tatsachenfeststellung handelt. Die Vorschrift des § 137 Abs. 2
VwGO, die das Revisionsgericht grundsätzlich an die tatsächlichen Feststellun-
gen der Vorinstanz bindet, bezieht sich nicht auf Tatsachen, die für das Vorlie-
gen von Sachurteilsvoraussetzungen - hier in Gestalt des Rechtsschutzbedürf-
nisses für die erhobene Klage - erheblich sind. Über das Vorliegen dieser Tat-
sachen hat vielmehr das Revisionsgericht von Amts wegen zu entscheiden.
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Die Erklärung des Klägers vom 23. September 2005 kann objektiv nur als Ver-
zicht auf die Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer vom 17. Februar 1993
verstanden werden. Die Zulässigkeit eines solchen Verzichts unterliegt in Anbe-
tracht der Vorschriften des § 7 Abs. 2 WPflG und des § 43 Abs. 1 Nr. 10 ZDG
keinen Bedenken. Der Kläger hatte ein erkennbares Interesse daran, den Ver-
zicht auszusprechen, da er als anerkannter Kriegsdienstverweigerer einen Ent-
lassungsgrund erfüllte und deshalb nicht die für die Berufung in das Dienstver-
hältnis eines Soldaten auf Zeit erforderliche Eignung besaß. Die Ausräumung
dieses Berufungshindernisses war nur in der Form des Verzichts auf die An-
erkennung als Kriegsdienstverweigerer möglich.
4. Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens ist der Schluss-
entscheidung vorzubehalten.
Neumann
Büge
Dr. Graulich
Dr. Möller
Hahn
B e s c h l u s s
Der Wert des Streitgegenstands wird für das Revisionsverfahren auf 5 000 €
festgesetzt (§ 47 Abs. 1, § 52 Abs. 2 GKG).
Neumann
Büge
Dr. Graulich
Dr. Möller
Hahn
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Sachgebiet:
BVerwGE: ja
Recht der Kriegsdienstverweigerung
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
GG
Art. 3 Abs. 1, Art. 4 Abs. 3, Art. 12a Abs. 2, Art. 19 Abs. 4
KDVG
§ 2 Abs. 6
SG
§ 1 Abs. 2, § 46 Abs. 2 und 6, § 55 Abs. 1 und 3
WPflG
§ 7 Abs. 2, § 29 Abs. 1
Stichworte:
Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer; Auslegung des Klagebegehrens;
Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit im Sanitätsdienst; Besetzungsrüge; waf-
fenloser Dienst; Dienstverpflichtung; Entlassung; Rechtsschutzbedürfnis; Ver-
zicht.
Leitsatz:
Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit im Sanitätsdienst der Bundeswehr haben
auch vor Beendigung ihres Dienstverhältnisses ein Rechtsschutzbedürfnis für
ein Verfahren auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer (Aufgabe der stän-
digen Rechtsprechung seit dem Urteil vom 27. November 1985 - BVerwG
6 C 5.85 - BVerwGE 72, 241 = Buchholz 448.6 § 13 KDVG Nr. 3).
Urteil des 6. Senats vom 22. Februar 2012 - BVerwG 6 C 11.11
VG Koblenz vom 28.09.2010 - Az.: VG 2 K 216/10.KO -