Urteil des BVerwG vom 11.06.2010

Verwirkung, Neubewertung, Leistungsanspruch, Gewährleistung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 86.09
OVG 14 A 313/09
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 11. Juni 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Neumann und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bier und Dr. Möller
beschlossen:
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Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für
das Land Nordrhein-Westfalen vom 27. August 2009 wird
zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 7 500 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
gemäß §132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.
Grundsätzlich bedeutsam im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine
Rechtssache, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine
konkrete, fallübergreifende und bislang höchstrichterlich ungeklärte Rechtsfrage
des revisiblen Rechts von Bedeutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren
zu erwarten und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur
Weiterentwicklung des Rechts geboten ist. Gemessen an dem Darlegungser-
fordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO lässt sich der Beschwerdebegründung
keine solche Frage mit Grundsatzbedeutung entnehmen.
Die Klägerin bestand im Jahr 2005 die erste juristische Staatsprüfung in Nord-
rhein-Westfalen nicht. Mit der Zulassung zur Wiederholungsprüfung im März
2006 erließ ihr das beklagte Prüfungsamt antragsgemäß die Anfertigung der im
ersten Prüfungsversuch mit acht Punkten bewerteten häuslichen Arbeit auf der
Grundlage von § 18 Abs. 2 des Gesetzes über die juristischen Staatsprüfungen
und den juristischen Vorbereitungsdienst (Juristenausbildungsgesetz) in der auf
die Klägerin noch anwendbaren Fassung der Bekanntmachung vom 8. Novem-
ber 1993 (GV. NRW. S. 924 - JAG NRW 1993 -; vgl. zu der neuen Struktur der
ersten Prüfung in der ab dem 1. Juli 2003 geltenden Fassung des Gesetzes
vom 11. März 2003 - GV.NRW. S. 135 - : §§ 2 ff. JAG NRW 2003). Das Begeh-
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ren der auch in der Wiederholungsprüfung gescheiterten Klägerin auf eine Ver-
pflichtung des beklagten Prüfungsamtes zur Neubewertung der angerechneten
Hausarbeit hat das Oberverwaltungsgericht unter Verweis auf die (materielle)
Bestandskraft des Bescheides über den ersten Prüfungsversuch der Klägerin
abgelehnt.
Vor diesem Hintergrund hat die Klägerin in ihrer Beschwerdebegründung vom
23. November 2009 als grundsätzlich klärungsbedürftig die Frage formuliert, „ob
einmal angerechnete Prüfungsleistungen nach endgültigem Nichtbestehen der
ersten juristischen Staatsprüfung noch im Rahmen eines unabhängigen Leis-
tungsanspruchs des Prüflings in Bezug auf die Wiederholungsprüfung erneut
bewertet werden müssen.“ In ihren weiteren, allerdings erst nach Ablauf der Be-
schwerdebegründungsfrist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO eingereichten
Schriftsätzen vom 30. März 2010 und vom 3. Juni 2010 hat die Klägerin die Fra-
gestellung präzisiert und den ihrer Ansicht nach bestehenden bundesrechtli-
chen Bezug des im nicht revisiblen Landesrecht wurzelnden Falles beschrie-
ben. Es gehe vor allem um folgende Fragen: „Wann steht einem allgemeinen
Leistungsanspruch auf Vornahme einer Verwaltungshandlung die Bestandskraft
eines Bescheides entgegen, wenn sich dieser Bescheid aus zwei (oder mehre-
ren) Verwaltungshandlungen zusammensetzt und die erste (streitgegenständli-
che) Verwaltungshandlung Bedingung der zweiten ist? Ist ein allgemeiner Leis-
tungsanspruch schon verwirkt, sobald ein - im vorliegenden Fall nicht vorhan-
denes - treuwidriges Verhalten des Anspruchstellers vorliegt oder muss auch
eine zeitliche Komponente gegeben sein?“ Der geltend gemachte Leistungsan-
spruch auf Neubewertung der häuslichen Arbeit ergebe sich aus der Gewähr-
leistung effektiven Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG, den allgemeinen
Rechtsgrundsätzen über die Bestandskraft von Bescheiden und über die Ver-
wirkung von Rechtsschutzansprüchen sowie dem allgemeinen Gleichheits-
grundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG.
Die derart formulierten und erläuterten Fragen rechtfertigen - ungeachtet des
Umstandes, dass die auf die Prüfung der Klägerin noch anwendbaren Bestim-
mungen der §§ 2 ff. JAG NRW 1993 über das erste juristische Examen durch
§§ 2 ff. JAG NRW 2003 grundlegend umgestaltet worden sind und damit ausge-
laufenes Recht darstellen - die Zulassung der Grundsatzrevision nicht.
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a) Soweit sich die Klägerin im Hinblick auf eine Grundsatzbedeutung der von ihr
bezeichneten Fragestellung auf die in diesem Zusammenhang zu klärende
Reichweite des allgemeinen Rechtsgrundsatzes der Bestandskraft von Verwal-
tungsakten beruft, ist ihr entgegenzuhalten, dass allgemeine Rechtsgrundsätze,
die zur Ergänzung von landesrechtlichen Prüfungsbestimmungen herangezo-
gen werden, regelmäßig ebenfalls dem nach § 137 Abs. 1 Satz 1 VwGO irrevi-
siblen Landesrecht angehören (Urteil vom 17. Februar 1984 - BVerwG 7 C
67.82 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 195 S. 180; Beschluss vom 26. Mai
1999 - BVerwG 6 B 75.98 - juris Rn. 3).
Abgesehen hiervon ist nicht zweifelhaft und bedarf deshalb keiner weiteren Klä-
rung, dass Prüfungsbescheide, auch wenn sie in einem fehlerhaften Prüfungs-
verfahren ergangen sind, mit ihrer Unanfechtbarkeit bestandskräftig werden,
dass ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens grundsätzlich nur unter
den Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 VwVfG besteht, dass die Behörde im
Übrigen über die Frage des Wiederaufgreifens gemäß § 48 Abs. 1 Satz 1
VwVfG nach ihrem pflichtgemäßen Ermessen zu befinden hat und dass der
Ermessensspielraum sich nur ausnahmsweise derart reduziert, dass eine ande-
re Entscheidung als das Wiederaufgreifen nicht in Frage kommt. Jenseits dieser
Grundsätze bestimmt sich die Reichweite der Bestandskraft eines ergangenen
Prüfungsbescheides zum einen nach den jeweiligen irrevisiblen landesrechtli-
chen Prüfungsnormen, auf die er gestützt ist, und zum anderen nach seinem
konkreten Inhalt im Einzelfall und ist deshalb in einem Revisionsverfahren nicht
allgemein klärungsfähig.
b) Hieraus folgt zugleich, dass auch der Verweis der Klägerin auf die Rechts-
schutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG den von ihr aufgeworfenen Fragen keine
grundsätzliche Bedeutung verleiht. Dass das Institut der Bestandskraft von Ver-
waltungsakten, dessen Reichweite aus Anlass des zur Entscheidung stehenden
Falles keiner weiteren allgemeinen Klärung zugeführt werden kann, dem
Schutzzweck der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des effektiven
Rechtsschutzes nicht widerstreitet, ist in der Rechtsprechung des Bundesver-
fassungsgerichts (Beschluss vom 20. April 1982 - 2 BvL 26/81 - BVerfGE 60,
253, S. 269) geklärt.
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c) Eine Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragen ergibt sich aus dem
Beschwerdevorbringen ferner nicht im Hinblick auf den allgemeinen Gleich-
heitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG bzw. den daraus ableitbaren Grundsatz der
Chancengleichheit im Prüfungswettbewerb (vgl. dazu: Urteil vom 28. April 1978
- BVerwG 7 C 50.75 - BVerwGE 55, 355 <358 und 360> = Buchholz 421.0 Prü-
fungswesen Nr. 90 S. 91 und 93). Soweit sich die Klägerin in diesem Zusam-
menhang darauf beruft, das Oberverwaltungsgericht habe ein sog. Blockversa-
gen in Form einer sehr schlecht bewerteten häuslichen Arbeit (vgl. dazu § 15
Abs. 2 und 3 JAG NRW 1993) zur Voraussetzung für einen Anspruch auf eine
Neubewertung der angerechneten häuslichen Arbeit erhoben, wogegen gerade
bei besseren Arbeiten die Aussicht auf eine noch günstigere Bewertung und
damit auf ein Bestehen der Prüfung bestehe, missversteht sie die Erwägungen
des Berufungsgerichts. Denn dieses hat das sog. Blockversagen lediglich zur
Abgrenzung gegenüber dem einer früheren Entscheidung (OVG Münster, Urteil
vom 30. März 1998 - 22 A 4551/95 - NWVBl 1998, 403 ff.) zu Grunde liegenden
Sachverhalt in den Blick genommen und ausgeführt, dass in einer solchen
Konstellation eine der Bestandskraft fähige Gesamtnote, in die auch die Bewer-
tung der häuslichen Arbeit einfließe, nicht errechnet werde (UA S. 9 f.). Die Art
des sog. Blockversagens und die erzielte Note der häuslichen Arbeit haben für
diese vergleichende Betrachtung demgegenüber ersichtlich keine Rolle ge-
spielt. Eine Rechtsfrage, die sich für die Vorinstanz nicht gestellt oder auf die
diese nicht entscheidend abgehoben hat, kann aber regelmäßig und so auch
hier nicht die Zulassung der Revision zur Folge haben (Beschlüsse vom 14.
November 2008 - BVerwG 6 B 61.08 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 47 S.
17 und vom 5. Oktober 2009 - BVerwG 6 B 17.09 - juris Rn. 7).
d) Schließlich führt die Bezugnahme Klägerin auf den aus dem Grundsatz von
Treu und Gauben gemäß § 242 BGB ableitbaren Rechtsgedanken der Verwir-
kung nicht auf eine grundsätzliche Bedeutung der von ihr bezeichneten Frage-
stellung. Dieser ohne weitere verfassungsrechtliche Verankerung auch im Ver-
waltungsrecht zu beachtende Grundsatz würde im Falle seiner Anwendung die
landesrechtlichen Prüfungsbestimmungen ergänzen und wäre deshalb nach
den obigen Darlegungen (unter 1.a)) seinerseits dem irrevisiblen Landesrecht
zuzuordnen (Beschlüsse vom 29. Oktober 1997 - BVerwG 8 B 194.97 - Buch-
holz 406.11 § 127 BauGB Nr. 88 S. 50 f. und vom 26. Mai 1999 a.a.O. Rn.3).
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Abgesehen davon kam es aufgrund der Annahme des Oberverwaltungsge-
richts, ein Anspruch der Klägerin auf eine Neubewertung der angerechneten
Hausarbeit sei aus Gründen der (materiellen) Bestandskraft des Bescheides
über den ersten Prüfungsversuch der Klägerin ausgeschlossen, auf die Prob-
lematik der Verwirkung des Klagerechts nicht mehr an.
2. Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz -
hier im Hinblick auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Mai
1999 - BVerwG 6 B 75.98 - (a.a.O.) - lässt sich dem Beschwerdevorbringen
ebenfalls nicht entnehmen.
Eine solche Abweichung wäre nur dann im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die Beschwerde einen inhaltlich bestimm-
ten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz benannt
hätte, mit dem die Vorinstanz einem in dem Beschluss des Bundesverwal-
tungsgerichts aufgestellten, diesen Beschluss tragenden Rechtssatz in Anwen-
dung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hätte. Diese Voraussetzungen
sind nicht erfüllt.
Die Beschwerde will der Sache nach aus dem genannten Beschluss herleiten,
dass die Zulässigkeit einer Klage auf Neubewertung einer angerechneten häus-
lichen Arbeit aus einem ersten Prüfungsversuch nach nicht bestandener Wie-
derholungsprüfung nicht wegen der entgegenstehenden (materiellen) Be-
standskraft des ersten Prüfungsbescheids und des deshalb fehlenden Rechts-
schutzbedürfnisses, sondern allenfalls unter dem Gesichtspunkt einer Verwir-
kung des Klagerechts verneint werden könne. Der Beschluss des Bundesver-
waltungsgerichts ist indes, soweit er sich mit der Thematik der Verwirkung be-
fasst, tragend nur auf die Erwägung gestützt, dass die hierzu in jenem Verfah-
ren gestellte Grundsatzfrage eine solche des nicht revisiblen Landesrechts sei,
jedenfalls aber keine klärungsbedürftigen Fragen aufwerfe. Die von der Klägerin
gezogenen weitergehenden Folgerungen sind der Entscheidung nicht zu ent-
nehmen. Ein inhaltlicher Widerspruch zwischen den Ausführungen zur Verwir-
kung in dem Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts und dem angefochte-
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nen Urteil scheidet aus, weil das Oberverwaltungsgericht die Frage der Verwir-
kung mangels Entscheidungserheblichkeit nicht erörtert hat.
3. Mit der Verfahrensrüge nackann die Klägerin die
Revisionszulassung nicht erreichen, weil sie sich auf einen Begründungsman-
gel der angefochtenen Entscheidung und auf eine Verletzung rechtlichen Ge-
hörs erstmals in ihrem Schriftsatz vom 30. März 2010 und damit nach Ablauf
der Beschwerdebegründungsfrist des § 133 Abs. 3 Satz 1 VwGO berufen hat.
4. Soweit die Klägerin schließlich in ihrer Beschwerdebegründungsschrift vom
23. November 2009 und vertiefend in ihren Schriftsätzen vom 30. März 2010
und vom 3. Juni 2010 ernsthafte Zweifel an der angefochtenen Entscheidung
zum Ausdruck bringt bzw. deren Rechtswidrigkeit in der Art der Begründung
einer bereits zugelassenen Revision - insbesondere unter Bezugnahme auf das
Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster vom 30. März 1998 - 22 A 4551/95
- und den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 26. Mai 1999 -
BVerwG 6 B 75.98 - (jeweils a.a.O.) - geltend macht, bezeichnet sie bereits im
Ansatz keinen der in § 132 Abs. 2 aufgeführten Revisionszulassungsgründe.
Namentlich rechtfertigen ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der vorinstanzli-
chen Entscheidung zwar gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO die Zulassung der
Berufung, einen entsprechenden gesetzlichen Grund für die Zulassung der Re-
vision gibt es hingegen nicht.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52
Abs. 1 GKG.
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