Urteil des BVerwG vom 01.02.2007

Vorverfahren, Widerspruchsverfahren, Absicht, Urteilsbegründung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 85.06
VG 10 W 1156/06
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 1. Februar 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge
und Dr. Graulich
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Ham-
burg vom 3. Juli 2006 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 546,94 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Die auf die Grundsatz- (1.), Abweichungs- (2.) und Verfahrensrüge (3.) gestütz-
te Beschwerde des Klägers bleibt ohne Erfolg.
1. Die Darlegung eines Zulassungsgrundes in der nach § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO erforderlichen Weise setzt im Hinblick auf den Zulassungsgrund der
rechtsgrundsätzlichen Bedeutung (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) die Formulierung
einer bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsent-
scheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und außerdem die
Angabe voraus, worin die allgemeine, über den Einzelfall hinausgehende Be-
deutung bestehen soll (Beschluss vom 19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 -
Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26). Den maßgeblichen Ausführungen in
der Beschwerdebegründung kann nicht entnommen werden, dass den aufge-
worfenen Fragen grundsätzliche Bedeutung im vorgenannten Sinne zukommt.
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a) Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob im Vorver-
fahren gegen einen Einberufungsbescheid die Zuziehung eines Rechtsanwalts
notwendig ist, „wenn der Wehrpflichtige zuvor mit mehreren Schreiben an das
Kreiswehrersatzamt versucht hat, die Einberufung zu verhindern, dabei alles
vorgetragen hat, was nach seiner Kenntnis der Sach- und Rechtslage erheblich
war, er zudem gegen den belastenden Teil eines Widerspruchsbescheides
Klage erhoben hat, bei diesen Aktivitäten aus verwandtschaftlichen Gründen
von einer Juristin unterstützt wurde und wenn er dann gleichwohl einberufen
wird“. Die Rüge bleibt ohne Erfolg, weil die entscheidungserheblichen Rechts-
fragen in der Rechtsprechung des erkennenden Senats bereits geklärt sind und
es darüber hinaus um Fragen des Einzelfalls ohne grundsätzliche Bedeutung
geht.
Nach der ständigen Rechtsprechung des beschließenden Senats ist gemäß
§ 80 Abs. 2 VwVfG bzw. § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO die Erstattungsfähigkeit
von Anwaltskosten im Vorverfahren - anders als diejenige im gerichtlichen Ver-
fahren (§ 162 Abs. 2 Satz 1 VwGO) - nicht automatisch, sondern je nach Lage
des Einzelfalls nur unter der Voraussetzung der konkreten Notwendigkeit anzu-
erkennen. Die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vor-
verfahren ist unter Würdigung der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt einer
verständigen Partei aus zu beurteilen. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger
Bürger mit gleichem Bildungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen
Sachlage eines Rechtsanwalts oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte.
Notwendig ist die Zuziehung eines Rechtsanwalts nur dann, wenn es der Partei
nach ihren persönlichen Verhältnissen und wegen der Schwierigkeiten der Sa-
che nicht zuzumuten war, das Vorverfahren selbst zu führen (vgl. Urteil vom
17. Dezember 2001 - BVerwG 6 C 19.01 - Buchholz 448.0 § 20b WPflG Nr. 3
S. 8 und Beschluss vom 15. September 2005 - BVerwG 6 B 39.05 - m.w.N.).
Auf die vorgenannte Rechtsprechung hat sich das Verwaltungsgericht bei sei-
ner Beurteilung gestützt. Es hat dabei die maßgeblichen Umstände gewürdigt,
insbesondere dass es dem Kläger in der Zeit vor dem hier in Rede stehenden
Vorgang „- möglicherweise juristisch unterstützt von seiner hierzu bereiten Mut-
ter -“ wiederholt ohne anwaltliche Hilfe gelungen war, durch Einlegung förmli-
cher Rechtsbehelfe und sachgerechtem Vortrag seine Zurückstellung zu errei-
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chen. Es hat daraus den Schluss gezogen, dass es dem Kläger zumutbar war,
auch gegen den Einberufungsbescheid vom 28. Februar 2006 ohne anwaltliche
Hilfe Widerspruch unter Mitteilung seiner gesundheitlichen Beeinträchtigungen
einzulegen. Fragen von über den Einzelfall hinausgehender Bedeutung sind
damit nicht aufgeworfen. Dies wird durch die detailreiche Formulierung der
Grundsatzfrage auf Seite 2 der Beschwerdebegründung bestätigt, die im Übri-
gen auch als solche einer verallgemeinerungsfähigen Beantwortung nicht zu-
gänglich ist.
b) Die aus dem behaupteten Zusammenhang zwischen der Höhe der Rechts-
anwaltsvergütung und der Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Rechtsan-
walts im Vorverfahren abgeleiteten Rechtsfragen aa) und bb) führen ebenfalls
nicht zum Erfolg der Beschwerde.
aa) Der Kläger hält zunächst die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig, „ob
die vom Bundesverwaltungsgericht geübte Rechtsprechung zur Notwendigkeit
der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren, insbesondere wenn
es um Fragen des Wehrpflichtrechts geht, nach Inkrafttreten des Rechtsan-
waltsvergütungsgesetzes unverändert bleibt oder einer Überprüfung zu unter-
ziehen ist“. Die Beschwerde macht nicht deutlich, inwiefern diese Frage für die
Entscheidung des Falles erheblich sein könnte. Fragen des anwaltlichen Ge-
bührenrechts sind nicht Gegenstand des vorliegend einschlägigen Teils der
Kostenlastentscheidung nach § 73 Abs. 3 Satz 3 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 2
VwVfG, sondern des systematisch erst daran anschließenden Kostenfestset-
zungsverfahrens nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwVfG (vgl. Stelkens/Kallerhoff, in:
Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 80 Rn. 3 und 76). Die behaupte-
te rückbezügliche Bedeutung der anwaltlichen Vergütung auf Teile der Kosten-
lastentscheidung ist nicht nachvollziehbar und ihr angeblicher Zusammenhang
in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch nicht dargetan.
bb) Der Kläger stellt weiter die ebenfalls für grundsätzlich klärungsbedürftig ge-
haltene Frage, ob „das Regel-/Ausnahmeverhältnis bei der Frage der Notwen-
digkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren nach Inkraft-
treten des Rechtsanwaltsvergütungsgesetzes unverändert weiter“ gilt. Auch
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dieses Beschwerdevorbringen führt nicht zum Erfolg. Im Kern gilt das vorste-
hend Ausgeführte über die fehlende inhaltliche Abhängigkeit der Kostenlastent-
scheidung von der Entscheidung über die Kostenfestsetzung auch für die man-
gelnde Erheblichkeit der vorliegenden Frage. Die von der Beschwerde offenbar
unterstellte automatische Auswirkung der Änderung des Vergütungsrechts wi-
derspricht im Übrigen dem zentralen Verständnis des Bundesverwaltungsge-
richts von der Entscheidung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines
Rechtsanwalts in § 73 Abs. 3 Satz 3 VwGO i.V.m. § 80 Abs. 2 VwVfG als Ein-
zelfallentscheidung (Urteil vom 17. Dezember 2001 m.w.N.), die sich einem
Automatismus entzieht. Zwar war Hintergrund für die zitierte Rechtsprechung
zu § 80 Abs. 2 VwVfG bzw. § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO, dass die Hinzuziehung
eines Rechtsanwalts durch den Widerspruchsführer Mehrkosten auslöst. Wie
hoch diese Kosten im Einzelnen sind, insbesondere nach welchen Gebüh-
rensätzen sie sich bemessen, hat jedoch für diese Rechtsprechung erkennbar
keine Rolle gespielt. Deswegen erscheint es ausgeschlossen, dass die in der
Beschwerdebegründung aufgezeigte Rechtsänderung im Bereich der Anwalts-
vergütung geeignet ist, die zitierte Rechtsprechung in Frage zu stellen.
2. Im Wege der Abweichungsrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) macht der Kläger
geltend, das angefochtene Urteil weiche von der ständigen Rechtsprechung
des Bundesverwaltungsgerichts zur Selbstvertretung eines Rechtsanwalts im
Vorverfahren ab. Einschlägig sei insbesondere das Urteil vom 16. Oktober 1980
- BVerwG 8 C 10.80 - (BVerwGE 61, 100 = Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 3).
Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts lasse sich insoweit in dem
Satz zusammenfassen: Bei der Frage, ob ein vernünftiger Bürger sich in
vergleichbarer Lage eines Rechtsanwalts bedient hätte, sei nicht darauf abzu-
stellen, ob der Bürger im konkreten Fall selbst Rechtsanwalt sei oder sich der
verwandtschaftlichen Hilfe eines Juristen bedienen könne. Demgegenüber sei
das Verwaltungsgericht von folgendem Rechtssatz ausgegangen: Bei der An-
wendung des Maßstabes, ob sich ein vernünftiger Bürger bei der gegebenen
Sach- und Rechtslage eines Rechtsanwalts bedient hätte, sei auch darauf ab-
zustellen, ob der Bürger im konkreten Fall selbst Rechtsanwalt sei oder sich der
verwandtschaftlichen Hilfe eines Rechtsanwalts bedienen könne. Die Frage sei
auch entscheidungserheblich. Wenn das Verwaltungsgericht erkannt hätte,
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dass es nicht darauf ankommen könne, ob der Kläger das Vorverfahren gerade
mit der juristischen Hilfe seiner Mutter habe führen können, hätte es mögli-
cherweise die Einschaltung eines Rechtsanwalts im Vorverfahren für eine ver-
nünftige Entscheidung des Klägers gehalten und somit für notwendig erachtet.
Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz ist
nur dann i.S.d. § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn die
Beschwerde einen inhaltlich bestimmten, die angefochtene Entscheidung tra-
genden abstrakten Rechtssatz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen die
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden Rechtssatz in An-
wendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen hat (vgl. Beschluss vom
21. Juni 1995 - BVerwG 8 B 61.95 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 18).
Das Aufzeigen einer fehlerhaften oder unterbliebenen Anwendung von Rechts-
sätzen, die das Bundesverwaltungsgericht in seiner Rechtsprechung aufgestellt
hat, genügt weder den Zulässigkeitsanforderungen einer Divergenz- noch de-
nen einer Grundsatzrüge (vgl. Beschlüsse vom 17. Januar 1995 - BVerwG 6 B
39.94 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 342 S. 55 und vom 19. August 1997
- BVerwG 7 B 261.97 - a.a.O.).
Die vom Kläger in Bezug genommenen beiden Wendungen im verwaltungsge-
richtlichen Urteil - „möglicherweise unterstützt von seiner hierzu bereiten Mutter“
(Urteil S. 6) und „auch mit juristischer Hilfe seiner Mutter“ (Urteil S. 7) - sind
keine abstrakten Rechtssätze, sondern befinden sich im Subsumtionsteil der
Entscheidungsgründe. Schon deshalb scheiden sie als Ansatzpunkt für die Ab-
weichung von einem abstrakten Rechtssatz in der Rechtsprechung des Bun-
desverwaltungsgerichts aus. Im Übrigen wird auf die Mitwirkung der Mutter aber
auch nicht als tragend abgestellt. In der ersten Wendung (Urteil S. 6) wird der
Umstand der Unterstützung bereits dem Grunde nach offengelassen („mögli-
cherweise“), und in der zweiten Wendung wird sie wegen des zeitlichen Ablaufs
des Heranziehungsverfahrens - „dass ein Zurückstellungsanspruch noch nicht
bestand“ (Urteil S. 7) - als unerheblich eingestuft. Überhaupt hat es das Verwal-
tungsgericht als unerheblich angesehen, ob die in der Vergangenheit zutage
getretene Fähigkeit des Klägers, seine Interessen im Widerspruchsverfahren
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gegenüber der Beklagten sachgerecht wahrzunehmen, auf eigenen Rechts-
kenntnissen oder denen seiner Mutter beruhte. In dieser Hinsicht wollte es
- entgegen der ihm in der Beschwerdebegründung unterstellten Absicht - gera-
de nicht differenzieren. Damit befindet es sich im Einklang mit dem zitierten Ur-
teil des beschließenden Gerichts vom 16. Oktober 1980, wonach ein sich im
Widerspruchsverfahren selbst vertretender Rechtsanwalt ebenso zu behandeln
ist wie „ein zufällig spezialkundiger Bürger“ (a.a.O. S. 102 bzw. S. 7).
3. Im Wege der Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) bringt der Kläger
vor, das Urteil beruhe i.S.v. § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO auf einem Fehler in der
Urteilsbegründung. Das Verwaltungsgericht stelle die Dinge auf den Kopf, wenn
es meine, weil seine Mutter Juristin sei, hätte es der Einschaltung eines
Rechtsanwalts nicht bedurft. Im Gegenteil habe der Kläger gerade auf den ju-
ristischen Rat seiner Mutter hin einen auf dem Gebiet des Wehrrechts erfahre-
nen Rechtsanwalt eingeschaltet. Der Verstoß sei auch entscheidungserheblich.
Wenn das Verwaltungsgericht sich auf diese Erwägung eingelassen hätte, hätte
es möglicherweise der Klage stattgegeben.
Auch die Verfahrensrüge bleibt ohne Erfolg. Gemäß § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO
sind in jedem verwaltungsgerichtlichen Urteil diejenigen Entscheidungsgründe
schriftlich niederzulegen, welche für die richterliche Überzeugungsbildung lei-
tend gewesen sind, damit zum einen die Beteiligten über die dem Urteil
zugrunde liegenden tatsächlichen und rechtlichen Erwägungen unterrichtet
werden und zum anderen dem Rechtsmittelgericht die Nachprüfung der Ent-
scheidung auf ihre inhaltliche Richtigkeit in prozessrechtlicher und materiell-
rechtlicher Hinsicht ermöglicht wird (vgl. Beschluss vom 5. Juni 1998 - BVerwG
9 B 412.98 - Buchholz 310 § 138 Ziff. 6 VwGO Nr. 32). Nach diesem Maßstab
liegt der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht vor. Das Verwaltungsgericht
hatte als gesetzlichen Maßstab nicht die „Nützlichkeit“, sondern die „Not-
wendigkeit“ der Hinzuziehung eines Rechtsanwalts im Vorverfahren zu prüfen.
Es hat den Sachverhalt an diesen vergleichsweise hohen Anforderungen ge-
messen und die „Notwendigkeit“ verneint. Dabei hat es sich auch mit den mög-
lichen, aber aus seiner Sicht letztlich nicht entscheidungserheblichen Beiträgen
der juristisch vorgebildeten Mutter des Klägers für den Erfolg im isolierten Vor-
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verfahren auseinandergesetzt. Mit der dabei gezogenen Schlussfolgerung
stimmt der Kläger nicht überein. In dieser rechtlichen Differenz zwischen seiner
Rechtsauffassung und derjenigen des erstinstanzlichen Urteils liegt aber kein
Mangel i.S.v. § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO.
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Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, diejenige
über den Streitwert auf § 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Bardenhewer Büge Dr. Graulich
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