Urteil des BVerwG vom 27.04.2005

Rechtliches Gehör, Asthma Bronchiale, Eigenes Verschulden, Medizinisches Gutachten

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 76.04
VG 6 K 440/04
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 27. April 2005
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. H a h n , Dr. G r a u l i c h
und V o r m e i e r
beschlossen:
- 2 -
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom
14. September 2004 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 4 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die allein auf die Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) gestützte Beschwerde
bleibt ohne Erfolg. Dies betrifft die geltend gemachte Verletzung des rechtlichen Ge-
hörs (1.) ebenso wie die gerügte Verletzung der Aufklärungspflicht (2.).
1. Die Revision ist nicht wegen Versagung rechtlichen Gehörs (§ 108 Abs. 2 VwGO,
Art. 103 Abs. 1 GG) zuzulassen. Der Kläger sieht seinen Anspruch auf rechtliches
Gehör dadurch als verletzt an, dass er wegen eines ärztlichen Notfalls den dem Urteil
vorausgehenden Termin zur mündlichen Verhandlung am 14. September 2004 nicht
habe wahrnehmen können. Er habe sich wegen akuter Kieferbeschwerden am
13. September 2004 einer Notoperation beim Mund- und Kieferchirurgen unterziehen
müssen. Bei dieser Operation sei er mit starken hochdosierten schmerzmildernden
Mitteln behandelt worden, so dass er ohne eigenes Verschulden den Termin zur
mündlichen Verhandlung versäumt habe. Das Gericht sei noch am Tag der mündli-
chen Verhandlung über die Erkrankung informiert worden. Trotz dieser Information
habe das Gericht einen Tag nach dem Termin das Urteil ausgefertigt. Auf diese
Weise sei das rechtliche Gehör des Klägers verletzt worden. Mit diesem Vorbringen
wird der behauptete Verfahrensverstoß nicht schlüssig dargetan. Voraussetzung ei-
ner begründeten Rüge der Versagung rechtlichen Gehörs ist die erfolglose Aus-
schöpfung sämtlicher verfahrensrechtlich eröffneten Möglichkeiten, sich rechtliches
Gehör zu verschaffen. Eine Partei, die von einer ihr insoweit eingeräumten Möglich-
keit keinen Gebrauch gemacht hat, kann sich später nicht darauf berufen, ihr sei das
rechtliche Gehör versagt worden (stRspr, vgl. z.B. Beschluss vom 30. Januar 2003
- BVerwG 1 B 169.02 - Buchholz 11 Art. 103 Abs. 1 GG Nr. 67 S. 8 m.w.N.). So liegt
es hier. Der Kläger hat versäumt, unter Hinweis darauf, dass ihm die Teilnahme an
der mündlichen Verhandlung vom 14. September 2004 aus gesundheitlichen Grün-
- 3 -
den nicht möglich gewesen sei, einen rechtzeitigen Antrag auf Wiedereröffnung der
mündlichen Verhandlung zu stellen (§ 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO), um im Rahmen der
wiedereröffneten mündlichen Verhandlung rechtliches Gehör zu erlangen.
Zwar kann dem Vermerk vom 14. September 2004 über die fernmündliche Mitteilung
des nunmehrigen Prozessbevollmächtigten des Klägers an die Geschäftsstelle des
Verwaltungsgerichts, er werde "in den nächsten Tagen ein(en) Wiedereinsetzungs-
antrag/Vollmacht schicken", die Ankündigung eines Antrags auf Wiedereröffnung der
mündlichen Verhandlung entnommen werden, der möglicherweise der Absendung
des Urteils am 15. September 2004 entgegenstand. Indessen hat der Prozessbe-
vollmächtigte einen solchen Antrag nachfolgend nicht gestellt. Damit konnte eine
etwaige Verletzung des Gebotes fairen Verfahrens für die Versäumung des Antrags
auf Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung keine Bedeutung erlangen.
2. Im Wege der Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) macht der Kläger geltend, das
Verwaltungsgericht hätte nicht von der weiteren Einholung eines Sachverständigen-
gutachtens zum streitigen Gesundheitszustand des Klägers absehen dürfen. Es hätte
sich vielmehr die Notwendigkeit einer weiteren Sachverhaltsaufklärung aufdrängen
müssen, da der Kläger, der an einer manifesten Asthma bronchiale sowie Heu-
schnupfen leide, in einer für Allergiker unproblematischen Jahreszeit (Oktober) am
Bundeswehrkrankenhaus Ulm untersucht worden sei. Dem Gericht hätte dies spä-
testens bei der Würdigung des Attestes von Dr. S. auffallen müssen, welches aus-
drücklich auf eine seit 15 Jahren ausgeprägte Rhinoconjunctivitis allergica beim Klä-
ger im Zeitraum vom Frühjahr bis in den Sommer hinweise. Ein weiteres Attest vom
12. Februar 2004 dokumentiere ebenfalls schwere Schübe von Pollenasthma, die
durch den Flug von Pollen (Gräser, Kräuter, Getreide) verursacht würden. Das Ge-
richt hätte somit ein weiteres Gutachten zur Sachverhaltsaufklärung in den kritischen
Monaten in Auftrag geben müssen.
Das Verwaltungsgericht hat ohne Verstoß gegen die in der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts zum Wehrrecht aufgestellten Anforderungen auf die
Einholung eines neutralen Sachverständigengutachtens verzichtet. Insbesondere
steht das Urteil in Übereinstimmung mit dem Beschluss vom 3. Juni 2002 - BVerwG
6 B 6.02 - (Buchholz 448.0 § 8 a WPflG Nr. 68 = NVwZ-RR 2002, 759 - 761). Dort ist
- 4 -
ausgeführt, dass nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts (vgl. Beschluss vom 18. Dezember 1998 - BVerwG 6 B 108.98 - Buchholz
448.0 § 8 a WPflG Nr. 64 m.w.N.) die Zuordnung ärztlich festgestellter körperlicher
Fehler oder Leiden zu den Fehlernummern und Gradationen der Tauglichkeitsbe-
stimmungen der ZDv 46/1 dann nicht ohne besondere medizinische Sachkunde
möglich ist, wenn in dem zu beurteilenden Einzelfall aufgrund des Inhalts der vor-
handenen ärztlichen Atteste und Stellungnahmen sowie der medizinischen Erfah-
rungssätze der ZDv 46/1 Anlass zu Abgrenzungszweifeln besteht, die ohne fachkun-
dige Erläuterung nicht ausgeräumt werden können; das treffe insbesondere in Fällen
zu, in denen nach der sachkundigen Einschätzung der wehrmedizinischen Verfasser
der ZDv 46/1 eine gebietsärztliche Untersuchung des Wehrpflichtigen erforderlich
oder angezeigt sei (vgl. Beschluss vom 17. Januar 1995 - BVerwG 8 B 149.94 -
Buchholz 448.0 § 8 a WPflG Nr. 56 m.w.N.). In solchen Fällen muss das Tatsachen-
gericht in Ermangelung der erforderlichen eigenen besonderen Sachkunde gerichtli-
chen Sachverständigenbeweis erheben, um den entscheidungserheblichen Sach-
verhalt pflichtgemäß vollständig aufzuklären. Da auch eine im verwaltungsgerichtli-
chen Verfahren abgegebene ergänzende Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes der
Wehrbereichsverwaltung ein tatrichterlich nachvollziehbares und eigenverantwortlich
überprüfbares medizinisches Gutachten nicht ersetzen kann, darf das Verwaltungs-
gericht auf die Einholung eines solchen Gutachtens nicht ohne weiteres verzichten.
Insbesondere ist dies dann nicht der Fall, wenn der fachwissenschaftlichen Äußerung
des Ärztlichen Dienstes der Beklagten vom Kläger ein privatärztliches Attest
entgegengestellt wird, welches dem Wehrpflichtigen eine dauerhafte deutliche Ein-
schränkung der Belastbarkeit bescheinigt (Beschluss vom 23. September 2003
- BVerwG 6 B 27.03 - NVwZ-RR 2004, 114).
Davon unterscheidet sich der vom Verwaltungsgericht entschiedene Sachverhalt in
wesentlicher Hinsicht. Dem privatärztlichen Attest von Dr. Sch. ist zu entnehmen, der
Kläger leide seit seinem 5. Lebensjahr an einer schweren Pollinose mit Conjunctivitis,
Rhinitis und teilweise schweren Schüben von Pollenasthma. Damit weitgehend
übereinstimmend hat in seinem privatärztlichen Attest über den Kläger Dr. S. be-
scheinigt, bei diesem bestehe seit ca. 15 Jahren eine ausgeprägte Rhinoconjunctivi-
tis allergica vom frühen Frühjahr an bis in den Spätsommer hinein. Beide Atteste sind
für Zwecke der wehrrechtlichen Tauglichkeitsbeurteilung nicht brauchbar, weil ihre
- 5 -
diagnostischen Feststellungen nicht an den Anforderungen nach der ZDv 46/1
ausgerichtet sind. Soweit es um den Heuschnupfen wegen Pollenallergie geht, ist
dieser Umstand mit Gesundheitsziffer II 45 im Rahmen der Tauglichkeitsbeurteilung
von der Beklagten bereits berücksichtigt worden. Die danach erstellten privatärztli-
chen Gutachten beziehen diese Bewertung in ihr fachliches Urteil nicht ein und ent-
halten sich im Übrigen einer Einordnung der Beschwerden nach den Kriterien der
ZDv 46/1. Dies gilt im Ergebnis ebenso für die von Dr. Schaedel diagnostizierte Asth-
ma bronchiale allergica. Er enthält sich jeder nachvollziehbaren Aussage über den
Einfluss dieser Diagnose auf die Wehrtauglichkeit des Klägers. Das Verwaltungsge-
richt befand sich daher nicht in einer Situation, angesichts von zwei einander in der
Beurteilung der Wehrtauglichkeit widersprechenden fachärztlichen Gutachten eine
dritte gutachtliche Stellungnahme als Grundlage für die eigene Entscheidung einho-
len zu müssen. Zu Recht hat es in den Urteilsgründen im Einzelnen auseinander
gesetzt, auf welchen Ableitungen die wehrmedizinischen Beurteilungen der Beklag-
ten beruhen und inwiefern der Kläger diesen Erhebungen auch mit den vorgelegten
privatärztlichen Gutachten nichts entgegengesetzt hat.
Die Kosten des Verfahrens hat der Kläger zu tragen, weil er unterlegen ist (§ 154
Abs. 2 VwGO). Der Streitwert bestimmt sich nach § 52 Abs. 2 GKG.
Hahn
Graulich
Vormeier