Urteil des BVerwG vom 09.02.2005

Ablauf der Frist, Eigenes Verschulden, Umdeutung, Verfahrensmangel

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 75.04
VGH 8 UE 2251/04
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. Februar 2005
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. H a h n und Dr. G r a u l i c h
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Beschluss des Hessischen Verwaltungs-
gerichtshofs vom 2. September 2004 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 15 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
1. Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
Nach § 132 Abs. 2 VwGO kann die Revision nur zugelassen werden, wenn die
Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Berufungsentscheidung von
einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der
obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht
und auf dieser Abweichung beruht oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird
und vorliegt, auf dem die Berufungsentscheidung beruhen kann. Wird wie hier die
Nichtzulassung der Revision mit der Beschwerde angefochten, muss in der Be-
schwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung dargelegt oder die Entschei-
dung, von der die Berufungsentscheidung abweicht, oder der Verfahrensmangel be-
zeichnet werden (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Die Prüfung des beschließenden Se-
nats ist demgemäß auf fristgerecht geltend gemachte Beschwerdegründe im Sinne
des § 132 Abs. 2 VwGO beschränkt.
Der von der Beschwerde allein geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO) liegt nicht vor.
Der Verwaltungsgerichtshof hat die vom Kläger ohne Zulassung eingelegte Berufung
zu Recht als unzulässig verworfen.
War die Berufung lediglich bedingt durch die Gewährung von Wiedereinsetzung er-
hoben, wie der Kläger mit Schriftsatz vom 30. August 2004 ausgeführt hat, so war sie
allein deswegen unzulässig, wie das Berufungsgericht mit Recht ausgeführt hat. Un-
ter diesen Umständen könnte auch eine Umdeutung des Rechtsmittels in einen An-
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trag auf Zulassung der Berufung nicht zu einem zulässigen Antrag führen, da auch
dieser Antrag bedingungsfeindlich ist. Selbst in dem Schriftsatz vom 30. August 2004
ist der dort formulierte Antrag auf Zulassung der Berufung noch von dem Erfolg des
Wiedereinsetzungsgesuchs abhängig gemacht worden.
Geht man dennoch zu Gunsten des Klägers davon aus, dass er im Einklang mit der
Vorschrift des § 60 Abs. 2 Satz 3 VwGO mit dem Wiedereinsetzungsantrag zugleich
die versäumte Rechtshandlung - unbedingt - nachgeholt hat, so hat der Verwal-
tungsgerichtshof das Rechtsmittel ebenfalls mit Recht als unzulässig verworfen.
Er hat zutreffend angenommen, dass unter den hier gegebenen Umständen in dem
Schriftsatz vom 16. Juli 2004 kein Antrag auf Zulassung der Berufung nach § 124 a
Abs. 4 VwGO gesehen werden kann.
Der Kläger weist zutreffend darauf hin, dass die Prozesshandlungen der Beteiligten
eines Rechtsstreits der Auslegung unterliegen, zu der auch das Revisionsgericht oh-
ne Einschränkung befugt ist. Die Auslegung hat den Willen des Erklärenden zu ermit-
teln. Dabei kommt es nicht auf den inneren, sondern auf den erklärten Willen an. Die
Auslegung darf nicht am Wortlaut der Erklärung haften. Der maßgebende objektive
Erklärungswert bestimmt sich danach, wie der Empfänger nach den Umständen, ins-
besondere der recht verstandenen Interessenlage, die Erklärung verstehen muss
(Beschluss vom 3. Dezember 1998 - BVerwG 1 B 110.98 - Buchholz 310 § 124 a
VwGO Nr. 6 = NVwZ 1999, 405).
Nach diesen Maßstäben ist nicht zweifelhaft, dass der Kläger Berufung eingelegt hat.
Das ergibt sich aus den folgenden Umständen.
Das aufgrund mündlicher Verhandlung vom 28. Mai 2004 ergangene, am selben Ta-
ge verkündete Urteil des Verwaltungsgerichts wurde den bevollmächtigten Rechts-
anwälten des Klägers am 15. Juni 2004 zugestellt. Aus der dem Urteil beigefügten
ordnungsgemäßen Rechtsmittelbelehrung ergab sich eindeutig, dass als Rechtsbe-
helf nur der Antrag auf Zulassung der Berufung gegeben war. Die Prozessbevoll-
mächtigten des Klägers haben mit Schriftsatz vom 16. Juli 2004, der die hervorgeho-
bene Überschrift "Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und Berufung"
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trägt, "Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" beantragt und ausgeführt: "Nach
Wiedereinsetzung legen wir … gegen das … Urteil des Verwaltungsgerichts Wiesba-
den BERUFUNG ein." Die Begründung der Berufung sollte einem weiteren Schrift-
satz vorbehalten bleiben. Sodann haben die Prozessbevollmächtigten den Wieder-
einsetzungsantrag begründet. Der in diesem Schriftsatz enthaltene Antrag auf Wie-
dereinsetzung und die Ankündigung der Berufung enthalten keinen Hinweis darauf,
dass die Zulassung der Berufung beantragt werden sollte. Die einzelnen Zulas-
sungsvoraussetzungen des § 124 Abs. 2 VwGO werden weder genannt noch unter
dem Gesichtspunkt der Zulassung erörtert. Vielmehr werden in dem Schriftsatz die
"Frist zur Einlegung der Berufung" und ein Mandat zur "fristwahrenden Einlegung der
Berufung" angesprochen. Das alles unterscheidet den vorliegenden von dem dem
Beschluss vom 3. Dezember 1998 zugrunde liegenden Fall, auf den der Kläger sich
beruft.
Die unzulässige Berufung eines anwaltlich vertretenen Rechtsmittelführers kann
nicht als (nach Wiedereinsetzung fristwahrender) Antrag auf Zulassung der Berufung
angesehen werden. Die Berufung umfasst nicht zugleich auch den Antrag auf Zulas-
sung dieses Rechtsmittels. Die beiden Rechtsbehelfe betreffen unterschiedliche Ge-
genstände. Der Antrag auf Zulassung der Berufung begehrt ausschließlich die Zulas-
sung dieses Rechtsmittels durch das Berufungsgericht. Die Berufung richtet sich ge-
gen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts in der Sache. Beide Rechtsbehelfe
sind nicht austauschbar. Sie haben unterschiedliche Ziele und stehen in einem Stu-
fenverhältnis selbständig nebeneinander. Erst ein erfolgreicher Antrag auf Zulassung
der Berufung eröffnet die prozessrechtliche Möglichkeit zur Durchführung eines Be-
rufungsverfahrens, wenn die Berufung nicht bereits vom Verwaltungsgericht zuge-
lassen worden ist.
Die von einem Rechtsanwalt gegen die Sachentscheidung des Verwaltungsgerichts
ohne Zulassung eingelegte Berufung kann nach Ablauf der Antragsfrist des § 124 a
Abs. 4 VwGO auch nicht in einen Antrag auf Zulassung des Rechtsmittels umgedeu-
tet werden. Insoweit gilt nichts anderes als für die vergleichbare Frage der Umdeu-
tung einer Revision in eine Nichtzulassungsbeschwerde oder umgekehrt einer Nicht-
zulassungsbeschwerde in eine Revision (vgl. Beschluss vom 13. Juni 1994
- BVerwG 9 B 374.94 - Buchholz 310 § 125 Nr. 11 m.w.N.). Der Anwaltszwang (§ 67
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VwGO) setzt der Zulässigkeit einer Umdeutung enge Grenzen (vgl. Weyreuther, Re-
visionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde in der Rechtsprechung der obers-
ten Bundesgerichte, 1971, Rn. 211). Eine Rechtsmittelerklärung, die ein Rechtsan-
walt als Prozessbevollmächtigter abgegeben hat, ist nach der ständigen Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts einer gerichtlichen Umdeutung grundsätzlich
unzugänglich (vgl. etwa Beschlüsse vom 29. Januar 1962 - BVerwG 2 C 83.60 -
Buchholz 310 § 132 Nr. 27 und vom 12. September 1988 - BVerwG 6 CB 35.88 -
Buchholz 310 § 133 Nr. 83). Ein von einem Anwalt eindeutig eingelegter Rechtsbe-
helf kann jedenfalls dann nicht in einen anderen umgedeutet werden, wenn die
Rechtsbehelfe unterschiedlichen Zwecken dienen (zum Ganzen Beschluss vom
12. März 1998 - BVerwG 2 B 20.98 - Buchholz 310 § 124 a VwGO Nr. 2 = NVwZ
1999, 641). So verhält es sich hier.
Dass der Verwaltungsgerichtshof die Berufung als unzulässig verworfen hat, verstößt
entgegen der Ansicht des Klägers nicht gegen das im Rechtsstaatsprinzip enthaltene
Gebot des fairen Verfahrens. Anders als in dem von dem Kläger angeführten, dem
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15. April 2004 (- 1 BvR 622/98 -
NJW 2004, 2149) zugrunde liegenden Fall hat weder das Verwaltungsgericht noch
der Verwaltungsgerichtshof eine Vertrauensgrundlage dafür geschaffen, dass in der
Sache entschieden werde. Das Verwaltungsgericht hat den Schriftsatz des Klägers
vom 16. Juli 2004, der an diesem Tag per Fax und am 19. Juli 2004 in Papierform
bei ihm eingegangen war, am 20. Juli 2004 an den Verwaltungsgerichtshof weiterge-
leitet. Mit Verfügung vom 28. Juli 2004 hat der Berichterstatter des Verwaltungsge-
richtshofs auf Bedenken gegen die Zulässigkeit der "Berufung" und eine Umdeutung
in einen Antrag auf Zulassung der Berufung hingewiesen. Danach konnte der Kläger
nicht davon ausgehen, dass das Gericht die Unzulässigkeit des Rechtsmittels nicht
zur Grundlage seiner Entscheidung machen würde.
Hat demnach der Verwaltungsgerichtshof die Berufung schon deshalb mit Recht als
unzulässig verworfen, weil sie ohne Zulassung nicht statthaft war, so ist es ohne Be-
deutung, ob dem Kläger insoweit wegen der Versäumung einer Frist Wiedereinset-
zung in den vorigen Stand hätte gewährt werden können.
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Der mit Schriftsatz vom 30. August 2004 - wie hier unterstellt wird - ohne Bedingung
gestellte Antrag auf Zulassung der Berufung war verspätet (§ 124 a Abs. 4 Satz 1
VwGO). Wiedereinsetzung in den vorigen Stand kann dem Kläger insoweit nicht ge-
währt werden. Selbst wenn der Kläger aus den im Schriftsatz vom 16. Juli 2004 dar-
gelegten Gründen am 15. Juli 2004, dem Tag des Ablaufs der Rechtsmittelfrist,
schuldlos an der Einlegung des zulässigen Rechtsmittels gehindert gewesen sein
sollte, hätten seine Prozessbevollmächtigten nach dem Wegfall des Hindernisses am
16. Juli 2004 bis zum Ablauf der zweiwöchigen Frist gemäß § 60 Abs. 2 Satz 3 i.V.m.
Satz 1 VwGO am 30. Juli 2004 den versäumten Antrag auf Zulassung der Berufung
nachholen müssen. Dies wäre ihnen bei der gebotenen sorgfältigen Kenntnisnahme
von der mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts erteilten zutreffenden Rechtsmittel-
belehrung ohne weiteres möglich gewesen. Abgesehen davon sind sie mit der ihnen
am 29. Juli 2004 per Fax zugegangenen Verfügung des Berichterstatters vom
28. Juli 2004 - und damit noch vor dem Ablauf der Frist gemäß § 60 Abs. 2 Satz 3
i.V.m. Satz 1 VwGO - ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass mit dem
Schriftsatz vom 16. Juli 2004 statt des Antrags auf Zulassung der Berufung ein unzu-
lässiges Rechtsmittel eingelegt worden war. Unter diesen Umständen fällt die unter-
bliebene Nachholung des Antrags auf Zulassung der Berufung bis zum 30. Juli 2004
den Prozessbevollmächtigten des Klägers als Verschulden zur Last, das dieser sich
gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 85 Abs. 2 ZPO wie eigenes Verschulden zurechnen
lassen muss. Der Kläger hat daher jedenfalls die Frist gemäß § 60 Abs. 1 Satz 3
i.V.m. Satz 1 VwGO versäumt, ohne dass ihm (auch) wegen dieser Fristversäumung
Wiedereinsetzung gewährt werden konnte.
2. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung
des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf § 52 Abs. 1 GKG.
Bardenhewer Hahn Graulich