Urteil des BVerwG vom 03.04.2003

Widerspruchsverfahren, Akteneinsicht, Wiederaufnahme, Anerkennung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 75.02
VG 1 E 2644/98
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. April 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht B ü g e und Dr. G r a u l i c h
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzu-
lassung der Revision in dem Urteil des
Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 6. Juni 2002
wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdever-
fahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das
Beschwerdeverfahren auf 659 € festgesetzt.
G r ü n d e :
1. Die auf die Abweichungs- (a), Grundsatz- (b) und Aufklä-
rungsrüge (c) gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
a) Die Abweichungsrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) ist unbegrün-
det. Die behauptete Abweichung eines abstrakten Rechtssatzes im
Urteil des Verwaltungsgerichts von einem solchen in einer Ent-
scheidung des Bundesverwaltungsgerichts liegt nicht vor.
Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Di-
vergenz verlangt, dass die Beschwerde einen inhaltlich bestimm-
ten, die angefochtene Entscheidung tragenden abstrakten Rechts-
satz benennt, mit dem die Vorinstanz einem in der Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts aufgestellten ebensolchen
die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts tragenden
Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widerspro-
chen hat (vgl. BVerwG, Beschluss vom 21. Juni 1995 - BVerwG 8 B
61.95 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 18; Beschluss vom
19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133
VwGO Nr. 26).
Die Abweichung i.S. von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO wird hier darin
gesehen, dass das Verwaltungsgericht allgemein darauf abstelle,
dass grundsätzlich der Behörde im Widerspruchsverfahren Gele-
genheit gegeben werden müsse, eigene Ermittlungen zu veranlas-
sen. Damit weiche das Verwaltungsgericht vom Beschluss des Bun-
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desverwaltungsgerichts vom 14. Januar 1999 - BVerwG 6 B
118.98 - Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 42 ab.
Die vorgenannte Senatsentscheidung enthält den Rechtssatz, dass
nach dem § 80 Abs. 2 Satz 1 VwVfG immanenten Grundsatz der Kos-
tenbegrenzung der Widerspruchsführer in der Regel die Kosten
solcher privatärztlicher Gutachten nicht erstattet verlangen
kann, die er erst eingeholt hat, nachdem er die Wiederaufnahme
der behördlichen Ermittlungen bereits erkennbar initiiert hatte
(a.a.O. S. 4). Im angefochtenen Urteil findet sich der Rechts-
satz, dass der Wehrpflichtige im Widerspruchsverfahren unter
dem Gesichtspunkt der Kostenbegrenzung auf die von ihm erkannte
Unvollständigkeit der behördlichen Erfassung tauglichkeitsrele-
vanter Umstände zunächst hinweisen muss, ggf. unter Beifügung
eines ärztlichen Kurzattests bzw. einer hausärztlichen Beschei-
nigung (S. 7 des Urteils). Beide Rechtssätze widersprechen ei-
nander nicht, sondern betreffen unterschiedliche Sachverhalts-
konstellationen. Während der zitierte Senatsbeschluss die Phase
nach Widerspruchsbegründung und dadurch veranlassten behördli-
chen Ermittlungen betrachtet, setzt das Verwaltungsgericht mit
seinem Rechtssatz zeitlich davor an: Es wird die Frage aufge-
worfen und für den vorliegenden Fall beantwortet, ob der Wehr-
pflichtige sich unter dem Gesichtspunkt der Kostenbegrenzung
von vornherein so verhalten muss, wie sich der Kläger in dem
Senatsbeschluss zugrunde liegenden Fall zunächst tatsächlich
verhalten hatte. Der Senat brauchte dazu denkgesetzlich nicht
Stellung zu nehmen, und er hat dies auch nicht getan. Die in
der Beschwerdebegründung wörtlich wiedergegebenen Passagen bie-
ten entgegen der Auffassung des Klägers keinen Anlass für wei-
tergehende Schlussfolgerungen.
b) Die Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist ebenfalls
unbegründet. Sie verlangt die Formulierung einer bestimmten,
höchstrichterlichen noch ungeklärten und für die Revisionsent-
scheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts und au-
ßerdem die Angabe, worin die allgemeine, über den Einzelfall
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hinausgehende Bedeutung bestehen soll (vgl. BVerwGE 13, 90
<91 f.>; Beschluss vom 19. August 1997, a.a.O.).
aa) Für grundsätzlich klärungsbedürftig hält die Beschwerde die
Rechtsfrage, ob der Grundsatz der Kostenbegrenzung es grund-
sätzlich erfordere, dass der Widerspruchsführer bzw. dessen Be-
vollmächtigter vor Einholung eines Sachverständigengutachtens
durch Akteneinsicht zunächst Kenntnis von den medizinischen
Feststellungen und Erwägungen der Behörde nimmt.
Aus dem Blickwinkel des § 80 Abs. 1 VwVfG lassen sich in der
aufgeworfenen Frage nur sehr begrenzt verallgemeinerungsfähige
Aussagen machen. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht im Be-
schluss vom 14. Januar 1999 (a.a.O.) u.a. mit dem Hinweis da-
rauf ausgedrückt, dass es stets denkbar sei, dass in ein und
demselben Fall die Erstattungsfähigkeit der Kosten für die Hin-
zuziehung eines Bevollmächtigten anerkannt wird, diejenige für
die Einholung von Privatgutachten im Widerspruchsverfahren aber
nicht und umgekehrt. So sei vorstellbar, dass die anwaltliche
Widerspruchsbegründung die behördlichen Ermittlungen in die für
den Wehrpflichtigen gewünschte Richtung lenke, ohne dass ein
später eingeholtes privates Gutachten darauf noch nennenswerten
Einfluss habe. Ebenso sei es möglich, dass ein vom Wehrpflich-
tigen mit dem Widerspruch vorgelegtes privatärztliches Gutach-
ten die Wiederaufnahme der behördlichen Ermittlungen veranlas-
se, ohne dass die spätere Hinzuziehung eines Anwalts noch den
Ausschlag gebe.
bb) Für grundsätzlich klärungsbedürftig hält die Beschwerde au-
ßerdem, ob der Grundsatz der Kostenbegrenzung es erfordere,
dass der Widerspruchsführer bzw. dessen Bevollmächtigter bei
erkannter Unvollständigkeit der behördlichen Dokumentation vor
Einholung von Sachverständigengutachten die Behörde auf die Un-
vollständigkeit der Entscheidungsgrundlagen hinweisen müsse und
es nicht darauf ankomme, ob diese Unvollständigkeit darauf be-
ruhe, dass die Angaben des Wehrpflichtigen oder die behördli-
chen Untersuchungen unzulänglich waren.
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Der Wehrpflichtige kann zwar den Gang der behördlichen Ermitt-
lungen im Widerspruchsverfahren nicht vorhersehen. Zur Vermei-
dung unvertretbar hoher Kosten muss es jedoch genügen, wenn er
zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die behördlicherseits
bislang übersehen oder als von vornherein bedeutungslos be-
trachtet wurden, substantiiert vorträgt und ggf. ärztliche
Kurzatteste beifügt. Bei dieser Verfahrensweise werden einer-
seits die Rechte des Wehrpflichtigen im Widerspruchsverfahren
gewahrt und andererseits die Kosten auf ein vertretbares Maß
auch mit Blick auf diejenigen Fälle begrenzt, in denen sich die
Behörde auf bestimmte Ermittlungen konzentriert, andere Ermitt-
lungen aber nicht angestellt hat.
c) Im Wege der Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) macht die Be-
schwerde geltend, die Beklagte habe einerseits die Erstattungs-
fähigkeit eines Kurzattestes anerkannt, andererseits aber nicht
aufgeklärt, wie hoch die insoweit entstehenden Aufwendungen ge-
wesen wären. Die Beschwerde bleibt auch insoweit ohne Erfolg.
Einen förmlichen Beweisantrag hat der anwaltlich vertretene
Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht gestellt. Eine ent-
sprechende Beweiserhebung von Amts wegen musste dem Verwal-
tungsgericht sich aber auch nicht aufdrängen. Die entsprechen-
den Ausführungen im Urteil (dort S. 7) sind nämlich keinesfalls
dahin zu verstehen, dass das Verwaltungsgericht die Erstat-
tungsfähigkeit eines Kurzattestes anerkannt habe. Im Gegenteil
hat das Gericht vorrangig ausgeführt, es dürfe erwartet werden,
dass der Bevollmächtigte auf die von ihm - bei Akteneinsicht -
erkannte Unvollständigkeit der behördlichen Erfassung tauglich-
keitsrelevanter Umstände hin, die Behörde aufmerksam mache. Es
hat dann angefügt, diese Darlegung könne mittels eines ärztli-
chen Kurzattestes bzw. einer hausärztlichen Bescheinigung un-
termauert werden. Darin liegt keine Anerkennung einer Erstat-
tungsfähigkeit, sondern der unterschiedlich variierte Hinweis
auf die notwendige Kostenbegrenzung. Eine materiellrechtliche
Position des Verwaltungsgerichts, die Grundlage einer weiteren
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Aufklärung etwaiger Kosten von Kurzattesten von Amts wegen hät-
te sein müssen, ist mithin im angefochtenen Urteil nicht sicht-
bar geworden.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die
Festsetzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht
auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 2 GKG.
Bardenhewer Büge Graulich