Urteil des BVerwG vom 06.05.2010

Entlassung, Soldat, Gefährdung, Wehrpflicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 73.09
VG 1 K 329/08
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. Mai 2010
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge,
Dr. Graulich und Dr. Möller
beschlossen:
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Die Beschwerde der Beklagten gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig
vom 15. Juli 2009 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache
(§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Grundsätzliche Bedeutung im Sinne dieser Vorschrift kommt einer Rechtssa-
che zu, wenn sie eine für die Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revi-
siblen Rechts aufwirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des
Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Der Beschwerdeführer muss ge-
mäß § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO erläutern, dass und inwiefern die Revisions-
entscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht beantworteten
fallübergreifenden Rechtsfrage führen kann. Dass die von der Beklagten in ihrer
Beschwerde bezeichneten Fragen (a) bis c)) eine derartige Bedeutung haben,
kann der Beschwerdebegründung nicht entnommen werden.
a) Die Beschwerde will als grundsätzlich bedeutsam geklärt wissen, ob es für
eine Entlassung nach § 29 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 WPflG „ausreichend ist, dass im
Zeitpunkt der Entlassung hinsichtlich des zu entlassen(d)en Soldaten die be-
gründete Überzeugung besteht, er unterstütze Fremdenfeindlichkeit und Aus-
länderhass, um eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung zu be-
fürchten, oder ob durch eine nachträgliche Distanzierung von der Tat der Ge-
fahr für die militärische Ordnung die Ernstlichkeit genommen werden kann“.
Diese Frage verhilft der Beschwerde schon deshalb nicht zum Erfolg, weil sie
die tragenden Gründe des angefochtenen Urteils nicht vollständig erfasst. Das
Verwaltungsgericht ist - anders als von der Beschwerde angenommen - nicht
davon ausgegangen, dass sich in dem Verhalten des Klägers zum Zeitpunkt
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der Entlassung eine auf Fremdenfeindlichkeit und Ausländerhass gerichtete
Einstellung manifestiert habe. Das Verwaltungsgericht hat zwar einerseits fest-
gestellt, dass der Soldat nach §§ 8, 17 Abs. 2 SG für die freiheitlich-
demokratische Grundordnung einstehen und durch sein gesamtes - auch au-
ßerdienstliches - Verhalten für deren Erhaltung eintreten sowie dem Ansehen
der Bundeswehr gerecht werden müsse. Im diametralen Gegensatz dazu sei
der Kläger den Ausschreitungen in M. nicht nur - wie es seine Pflicht gewesen
wäre - nicht entgegengetreten, sondern habe sich sogar aktiv, wenn auch nicht
handgreiflich, daran beteiligt (UA S. 7). Andererseits ist das Verwaltungsgericht
für den entscheidungserheblichen Zeitpunkt zu der Feststellung gelangt, der
Kläger habe deutlich gemacht, dass er den Vorfall bedauere und dass er gene-
rell mit rechtsradikalen Tendenzen nichts zu tun habe. Es sei nichts dafür er-
sichtlich, dass es sich insoweit nicht um wahrhaftige Angaben des Klägers han-
deln würde. Er sei weder zuvor, noch nach dem Stadtfest in M. einschlägig auf-
gefallen (UA S. 8). Diese für das Revisionsgericht bindenden Feststellungen
verhindern einen erfolgreichen Angriff der Beklagten auf das erstinstanzliche
Urteil selbst für den Fall der Revisionszulassung. Eine Rechtsfrage, die sich für
die Vorinstanz nicht gestellt hat oder auf die diese nicht entscheidend abgeho-
ben hat, kann nicht zur Zulassung der Revision führen (Beschlüsse vom 14.
November 2008 - BVerwG 6 B 61.08 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 47
Rn. 3 und vom 5. Oktober 2009 - BVerwG 6 B 17.09 - juris Rn. 7).
Darüber hinaus bedarf es zur Klärung der von der Beklagten bezeichneten Fra-
ge auch deshalb nicht der Durchführung eines Revisionsverfahrens, weil sich
bereits aus dem Gesetzeswortlaut sowie aus der Rechtsprechung des Bundes-
verwaltungsgerichts deutlich ergibt, dass und inwiefern eine Distanzierung ei-
nes Wehrdienstleistenden von einer Regelverletzung bei der Prüfung der Ent-
lassungsvoraussetzungen des § 29 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 WPflG zu berücksichti-
gen sein kann.
Gemäß § 29 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 WPflG ist ein Soldat, der nach Maßgabe des
Wehrpflichtgesetzes Wehrdienst leistet, zu entlassen, wenn nach dem bisheri-
gen Verhalten durch sein Verbleiben in der Bundeswehr die militärische Ord-
nung oder die Sicherheit der Truppe ernstlich gefährdet würde. Auf das Merk-
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mal der Sicherheit der Truppe hat das Verwaltungsgericht bei seiner Entschei-
dung nicht abgestellt. Zur militärischen Ordnung gehören nach der Rechtspre-
chung des Bundesverwaltungsgerichts alle Elemente, die die Verteidigungsbe-
reitschaft der Bundeswehr nach den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen
Verhältnissen erhalten. Sie ist nur dann im Sinne des
ernstlich gefährdet, wenn der Schaden für die Verteidigungsbereitschaft
konkret droht und nachhaltige und schwerwiegende Regelverletzungen vorlie-
gen. Ferner ist zu berücksichtigen, dass dem im Tatbestand der Vorschrift ent-
haltenen weiteren Merkmal des Verbleibens in der Bundeswehr eine Entlas-
sungsschranke innewohnt, deren Beachtung mit Rücksicht auf die allgemeine
Wehrpflicht verlangt, dass Wehrpflichtige bis zur Grenze des Möglichen und
des der Bundeswehr Zumutbaren gehindert werden, sich durch ihre Entlassung
nach § 29 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 WPflG ihrer Wehrpflicht zu entziehen (Urteile vom
28. Februar 1973 - BVerwG 8 C 116.70 - BVerwGE 42, 20 <24 f.> = Buch-
holz 448.0 § 29 Nr. 8 S. 27 f., vom 22. Mai 1974 - BVerwG 8 C 179.72 - Buch-
holz 448.0 § 29 WPflG Nr. 13 S. 43, vom 12. April 1978 - BVerwG 8 C 70.76 -
Buchholz 448.0 § 29 WPflG Nr. 18 S. 7 f. und vom 7. Juli 2004 - BVerwG 6 C
17.03 - Buchholz 448.0 § 29 WPflG Nr. 21 S. 5 f.), wobei es für die von der Be-
klagten aufgeworfene Frage nicht darauf ankommt, ob diese Entlassungs-
schranke im Fall des Klägers, der zur Zeit des ihm vorgeworfenen Verhaltens
gemäß § 6b WPflG freiwilligen zusätzlichen Wehrdienst im Anschluss an seinen
Grundwehrdienst leistete, abgesenkt sein könnte (vgl. in diesem Sinne für mili-
tärfachlich als Ärzte verwendete Grundwehrdienstleistende: Urteil vom 28. Feb-
ruar 1973 - BVerwG 8 C 176.70 - Buchholz 448.0 § 29 WPflG Nr. 9 S. 31).
Denn für die Beantwortung der Fragen, ob ein Schaden für die Verteidigungs-
bereitschaft der Bundeswehr konkret droht, und ob die dem Begriff des Verblei-
bens innewohnende Entlassungsschranke überwunden ist, bedarf es in jedem
Fall einer Prognose, für die unter anderem von Bedeutung ist, ob zu erwarten
steht, dass der Soldat sein pflichtwidriges Verhalten fortsetzt oder wiederholt,
und ob mit Nachahmungshandlungen anderer Soldaten zu rechnen ist (vgl. Ur-
teile vom 28. Februar 1973 - BVerwG 8 C 116.70 - a.a.O. S. 26 bzw. S. 29, vom
28. Februar 1973 - BVerwG 8 C 176.70 - a.a.O. S. 33 und vom 7. Juli 2004
a.a.O. S. 6 f.).
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Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Wiederholungs- und Nachahmungs-
gefahr im Einzelfall geringer einzuschätzen sein kann, wenn der betreffende
Soldat sich glaubhaft von seiner Verfehlung distanziert. Eine zeitliche Grenze
wird der Berücksichtigungsfähigkeit einer solchen Distanzierung regelmäßig
dadurch gesetzt, dass nacan das bisherige
Verhalten des Betroffenen anzuknüpfen ist, also an das Verhalten, dass der
Wehrpflichtige als Soldat in der Zeit von der Begründung des Wehrdienstver-
hältnisses bis zum Entlassungstermin an den Tag gelegt hat (Urteil vom 7. Juli
2004 a.a.O. S. 5). Im vorliegenden Fall hat das Verwaltungsgericht eine Distan-
zierung des Klägers jedenfalls auch in der Anhörung des Klägers am 19. Sep-
tember 2007 und in seiner Stellungnahme vom 26. September 2007 und damit
vor dem Wirksamwerden seiner Entlassung aus der Bundeswehr am 10. Okto-
ber 2007 gefunden.
b) Der von der Beklagten weiter aufgeworfenen Frage, „ob auch schon die Teil-
nahme an fremdenfeindlichen Tätigkeiten, aus denen ein Ausländerhass er-
sichtlich wird, … für diese Annahme (einer ernstlichen Gefährdung der militäri-
schen Ordnung) ausreicht oder ob die der Entlassungsnorm immanente Entlas-
sungsschranke noch nicht überwunden ist, so dass keine Ernstlichkeit der Ge-
fährdung der militärischen Ordnung gegeben ist,“ kommt eine Grundsatzbedeu-
tung ebenfalls nicht zu.
Diese Frage ist einerseits zu allgemein gehalten, als dass sie sich in dem von
der Beklagten angestrebten Revisionsverfahren stellen könnte. Andererseits
hängt ihre Beantwortung maßgebend von einer Würdigung der konkreten Um-
stände des Einzelfalles ab, die hier in bindender Weise von dem Verwaltungs-
gericht vorgenommen worden ist, und ist auch deshalb einer grundsätzlichen
Klärung nicht zugänglich.
c) Die Revision ist schließlich nicht deshalb wegen grundsätzlicher Bedeutung
zuzulassen, weil die Beschwerde eine Klärung der Frage zu erreichen sucht,
„ob es für die Bejahung der ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung
auf die innere Einstellung des Klägers im Hinblick auf Fremdenfeindlichkeit und
Ausländerhass ankommen kann oder ob es ausreichend ist, aufgrund des ob-
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jektiven Sachverhalts auf die subjektiven Beweggründe zu schließen“, und zur
Begründung auf die Gefahr verweist, dass sich Wehrdienstleistende ihrer Ent-
lassung nach § 29 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 WPflG dadurch entziehen könnten, dass
sie „nach der Tat lediglich angeben, sich von dieser zu distanzieren“.
Es versteht sich von selbst und muss nicht erst in einem Revisionsverfahren
geklärt werden, dass, soweit im Rahmen des § 29 Abs. 1 Satz 3 Nr. 5 WPflG
die innere Einstellung des Wehrdienstleistenden eine Rolle spielt, auf deren
Vorliegen oder Nichtvorliegen grundsätzlich auch aus äußeren Handlungen des
Betroffenen geschlossen werden darf. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der
freien Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), der gleichermaßen für
äußere wie innere Tatsachen gilt und sich unter Berücksichtigung der richter-
rechtlich ausgebildeten Regeln des Indizienbeweises auch auf die Beurteilung
von Hilfstatsachen erstreckt (BVerwG, vgl. Urteil vom 14. Oktober 2004
- BVerwG 6 B 6.04 - juris Rn. 148 ff.; BGH, Urteil vom 22. Januar 1991 - VI ZR
97/90 - NJW 1991, 1894 <1895>). Ebenso selbstverständlich ist es, dass die
Erklärung des Soldaten, sich von einem Fehlverhalten zu distanzieren, allenfalls
dann rechtlich relevant sein kann, wenn sie ernstlich vollzogen wird und nicht
nur ein zweckbestimmtes Lippenbekenntnis darstellt (vgl. Urteil vom 20. Mai
1983 - BVerwG 2 WD 11.82 - BVerwGE 83, 136 <155>).
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52
Abs. 2 GKG.
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