Urteil des BVerwG vom 13.03.2003

Rechtliches Gehör, Dokumentation, Rüge, Erfahrungsgrundsatz

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BESCHLUSS
BVerwG 6 B 65.02
VG 1 E 533/97 (3)
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. März 2003
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. H a h n ,
B ü g e und Dr. G r a u l i c h
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzu-
lassung der Revision in dem Urteil des
Verwaltungsgerichts Darmstadt vom 6.Juni 2002
wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdever-
fahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das
Beschwerdeverfahren auf 1 194,95 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I.
Die allein auf die Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO)
gestützte Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die Beschwerde macht geltend, das Verwaltungsgericht habe
seine Pflicht zur Aufklärung des entscheidungserheblichen
Sachverhalts (§ 86 Abs. 1 VwGO) dadurch verletzt, dass ohne
weitere Feststellungen unterstellt werde, die Beklagte
veranlasse auch bei Vorlage von "Kurzattesten" eine
fachärztliche Aufklärung und betrachte diese nicht als
unerheblich. Dies entspreche nicht den Tatsachen. Sein
Prozessbevollmächtigter habe sich als erfahrener Rechtsanwalt
in Verfahren betreffend die Wehrtauglichkeit zum Beweis für
die Tatsache als Zeuge angeboten, dass ein Erfahrungssatz
dahin bestehe, dass die Vorlage von "Kurzattesten" die
Beklagte regelmäßig nicht dazu veranlasse, in eine nochmalige
Überprüfung einzusteigen, sondern dieses regelmäßig als
unerheblich abtue.
Mit diesem Vorbringen wird ein Verfahrensverstoß nicht in
genügender Weise dargelegt (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Dem
Darlegungserfordernis wird nur dann genügt, wenn substantiiert
angegeben wird, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände
Aufklärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und
erforderlich gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen hierfür in
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Betracht gekommen wären und welche tatsächlichen Fest-
stellungen bei Durchführung der unterbliebenen
Sachverhaltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären;
weiterhin muss entweder dargelegt werden, dass bereits im
Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesondere in der
mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachver-
haltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird,
hingewirkt worden ist oder dass sich dem Gericht die
bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken von
sich aus hätten aufdrängen müssen (Beschluss vom 19. August
1997 – BVerwG 7 B 261.97 – Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 26 = DÖV 1998, 117).
Einen förmlichen Beweisantrag hat der anwaltlich vertretene
Kläger in der mündlichen Verhandlung nicht gestellt. Eine ent-
sprechende Beweiserhebung von Amts wegen musste dem Verwal-
tungsgericht sich aber auch nicht aufdrängen.
In den Urteilsgründen ist festgestellt, dass die Vertreterin
der Beklagten in der mündlichen Verhandlung der Darstellung
des Klägerbevollmächtigten widersprochen hat, die Vorlage
(nur) eines Kurzattestes gebe der Widerspruchsbehörde keine
Veranlassung, den gesundheitlichen Beschwerden des
Wehrpflichtigen in der gebotenen Weise nachzugehen. Dass die
Beklagtenvertreterin eine derartige Äußerung von sich gegeben
hat, wird der Sache nach in der Beschwerdebegründung bestätigt
(vgl. dort S. 4 unten). Ferner wird im angefochtenen Urteil
darauf verwiesen, dass auch der seit vielen Jahren mit
Wehrpflichtsachen befassten Kammer keine Fälle bekannt seien,
in denen seitens des Wehrpflichtigen im Rahmen des
Widerspruchsverfahrens durch Vorlage eines Kurzattestes auf
bislang nicht berücksichtigten gesundheitliche Be-
einträchtigungen hingewiesen worden wäre, ohne dass die
Widerspruchsbehörde dem in der gebotenen Art und Weise
nachgegangen wäre (Urteil S. 5). Bei dieser Ausgangslage
musste es sich dem Verwaltungsgericht nicht aufdrängen, den
Prozessbevollmächtigten des Klägers als Zeugen zu vernehmen.
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Weitere Ermittlungen wären vielmehr nur veranlasst gewesen,
wenn dem Gericht eine hinreichende Anzahl von Fällen präzise
benannt worden wäre, in denen die Einreichung eines
Kurzattests ohne behördliche Reaktion geblieben war. Eine
entsprechende Auflistung von Referenzfällen ist nicht
vorgelegt worden. Auch eine anderweitige Präzisierung des
Anerbietens, einen "Erfahrungssatz" zu bezeugen, ist nicht
erfolgt.
Die Befragung von Mitarbeitern des ärztlichen Dienstes der Be-
klagten musste sich dem Verwaltungsgericht schon deswegen
nicht aufdrängen, weil die Beklagtenvertreterin zu dieser
Thematik im Termin eine Erklärung abgegeben und der
Prozessbevollmächtigte des Klägers dort eine dahin gehende
Beweisaufnahme noch nicht einmal angeregt hat.
2. Ebenso bleibt die kombinierte Gehörs- (§ 108 Abs. 2 VwGO)
und Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) ohne Erfolg.
a) Der Kläger sieht sich in den vorgenannten Rechten dadurch
verletzt, dass das Verwaltungsgericht sachlich davon ausgehe,
dass der bevollmächtigte Rechtsanwalt erkannt habe, dass ein
von ihm als bedeutsam für die Frage der Tauglichkeit erach-
teter Umstand von der Behörde nicht dokumentiert und dem-
zufolge auch nicht weiter problematisiert worden sei. Mit
einer solchen Auswertung der Akten und seines Vortrages habe
der Kläger nicht rechnen können. Im Gerichtsbescheid habe das
Verwaltungsgericht darauf abgestellt, dass die Dokumentation
der Untersuchung keinen Hinweis auf "allergische Beschwerden"
enthalten habe und der Kläger deshalb verpflichtet gewesen sei
auf "nicht erfasste" und "nicht entsprechend" abgeklärte
gesundheitliche Einschränkungen hinzuweisen. Daraufhin habe
der Kläger mit Schriftsatz vom 23. August 2001 ausgeführt,
dass ein in der Dokumentation fehlender Hinweis nicht bedeute,
dass der Sachvortrag überhört oder übergangen worden sei,
sondern dass nur diejenigen Beeinträchtigungen aufgenommen
würden, die für wesentlich erachtet würden. Daraus folge, dass
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aus der nicht erfolgten Dokumentation auch nicht geschlossen
werden könne, dass eine sachliche Auseinandersetzung mit den
Angaben des Klägers tatsächlich nicht erfolgt sei, diese aber
sehr wohl unzutreffend gewürdigt worden sein könnten. Daraus
folge weiter, dass aus der Einsichtnahme in die
Behördenunterlagen keine tragfähigen Schlussfolgerungen zu der
Frage gezogen werden könnten, welche Umstände nun sachlich
überprüft worden und welche einfach übersehen worden seien.
Die Rüge greift weder unter dem Gesichtspunkt der
Gehörsverletzung noch derjenigen der
Aufklärungspflichtverletzung durch.
Sie geht von der Prämisse aus, das Verwaltungsgericht habe im
angefochtenen Urteil seiner Beurteilung zugrunde gelegt, dass
der ärztliche Dienst der Beklagten im Rahmen der Musterung
nicht dokumentierte gesundheitliche Beschwerden völlig überse-
hen habe. Diese Prämisse trifft nicht zu. Zu dieser Thematik
hatte der Kläger im Antrag auf mündliche Verhandlung vom
23. August 2001 unter Beweisantritt vorgetragen (vgl. dort
S. 4 Mitte). Diesen Vortrag hat das Verwaltungsgericht im
Tatbestand seines Urteils wie folgt zusammengefasst: "Aus dem
Umstand, dass bestimmte Beschwerden im Anamnesebogen nicht
erfasst seien, könne nicht auf das Fehlen entsprechenden
Sachvortrages geschlossen werden. Es sei vielmehr gerade
typisch, dass nur diejenigen gesundheitlichen
Beeinträchtigungen erfasst würden, die nach Ansicht des
untersuchenden Arztes einschlägig seien." Damit ist der
entsprechende Sachvortrag des Klägers ungeachtet der
unterschiedlichen Wortwahl in der Sache zutreffend wieder-
gegeben. Setzt man diese Passage zu den entsprechenden Ausfüh-
rungen in den Entscheidungsgründen in Bezug, so ergibt sich,
dass das Verwaltungsgericht seiner rechtlichen Beurteilung zu-
grunde gelegt hat, dass nicht dokumentierte Beschwerden vom
ärztlichen Dienst der Beklagten entweder übersehen oder zwar
gesehen, aber für irrelevant gehalten wurden. Die Formulierung
"nicht weiter problematisiert" (S. 4 des Urteils) lässt eine
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derartige Interpretation ohne weiteres zu. Auch die für sich
gesehen missverständliche Formulierung an anderer Stelle
("bislang nicht erfasst"; S. 5 des Urteils) gebietet mit
Rücksicht auf den beschriebenen Kontext keine entgegengesetzte
Schlussfolgerung. Hat sich demnach das Verwaltungsgericht in
dieser Hinsicht den Sachvortrag des Klägers zu Eigen gemacht,
gehen die erhobenen Gehörs- und Aufklärungsrügen ins Leere.
Dass das Verwaltungsgericht rechtlich danach unterschieden
hat, ob gesundheitliche Beschwerden vom Wehrpflichtigen
anlässlich der Musterung nur mündlich erwähnt oder ob sie in
Form einer – wenn auch kurzen – schriftlichen ärztlichen
Stellungnahme an die Beklagte herangetragen werden, durfte den
anwaltlich vertretenen Kläger nicht überraschen, sondern war
eine ohne weiteres in Betracht kommende rechtliche Würdigung.
b) Der Kläger macht weiter geltend, das Verwaltungsgericht sei
in dem Urteil davon ausgegangen, dass behördlicherseits eine
ärztliche Befassung mit bestimmten, dem Klägerbevollmächtigten
in ihrer möglichen Relevanz für die Tauglichkeitsbeurteilung
bekannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen des
Wehrpflichtigen noch nicht stattgefunden hätte und es deshalb
keiner weiteren besonderen Sachkunde des Wehrpflichtigen bzw.
des Bevoll-mächtigten bedürfe.
Weder der Vortrag der Parteien noch der Akteninhalt böten eine
Grundlage für die Feststellung, dass die Behörde mit der
allergologischen Erkrankung des Klägers bzw. mit den insoweit
einschlägigen Symptomen nicht "befasst" worden seien. Der Klä-
ger habe umgekehrt vorgetragen, dass auch den Dokumentationen
kein Erfahrungsgrundsatz abgeleitet werden kann, dass und in
welcher Hinsicht eine sachliche Befassung erfolgt sei. Bei
einem entsprechenden Hinweis hätte der Kläger ergänzend
vorgetragen, dass eine Vielzahl von Fällen bekannt sei, in
denen eine sachliche Befassung erfolgt, dies aber nicht in die
Dokumentation der Untersuchung aufgenommen worden sei.
Insoweit gelten die obigen Ausführungen entsprechend.
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3. Eine Aufklärungsrüge (§ 86 Abs. 1 VwGO) erhebt die
Beschwerde mit Hinweis darauf, das Verwaltungsgericht habe die
Einholung eines "Kurzattestes" für ausreichend erachtet,
gleichzeitig aber versäumt, der Klage in dieser Höhe
stattzugeben. Das Verwaltungsgericht anerkenne, dass die
Einholung eines Kurzattestes zulässig gewesen sei. Daraus
folge, dass das Verwaltungsgericht davon ausgegangen sein
müsse, dass insoweit ein Erstattungsanspruch bestehe. Deshalb
hätte aufgeklärt werden müssen, welche Kosten für ein
derartiges Kurzattest entstünden. Eine entsprechende
Aufklärung hätte ergeben, dass ein Kurzattest, in dem die hier
einschlägige allergische Erkrankung diagnostiziert werde,
genau diejenigen Untersuchungen erfordert hätte, die Ge-
genstand der Gutachten gewesen seien. Zumindest wäre ein
erheblicher Anteil der Kosten für erstattungsfähig erklärt
worden. Eine Beweiserhebung wäre zu dem Ergebnis gekommen,
dass auch eine Kurzdiagnose die von Dr. A. und Dr. K. durch-
geführten Untersuchungen vorausgesetzt hätte und deshalb der
die Untersuchungen betreffende Teil der streitgegenständlichen
Gebührenberechnungen erstattungsfähig sei.
Diese Rüge geht schon deswegen fehl, weil weder dem
angefochtenen Urteil noch dem in Bezug genommenen
Gerichtsbescheid eine materiellrechtliche Auffassung des
Verwaltungsgerichts dahin entnommen werden kann, dass die
fiktiven Kosten für ein Kurzattest erstattungsfähig sind (so
bereits Beschluss vom 7. Februar 2002 – BVerwG 6 B 66.01 –
S. 11). Rechtliches Gehör ist nicht dadurch verletzt worden,
dass das Verwaltungsgericht nicht von sich aus auf diesen
rechtlichen Aspekt eingegangen ist.
II.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Fest-
setzung des Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht
auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.
Hahn Büge Graulich