Urteil des BVerwG vom 04.10.2006

Verfahrensmangel, Rechtswidrigkeit, Gewalt, Versammlungsfreiheit

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 64.06
VGH 24 B 05.3099
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 4. Oktober 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Hahn
und Vormeier
beschlossen:
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Auf die Beschwerde des Klägers wird das Urteil des
Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 22. Mai 2006
aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an den Bayerischen Verwaltungsge-
richtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung
vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat Erfolg. Die Revision ist zwar nicht wegen grundsätzlicher
Bedeutung der Rechtssache zuzulassen (1.). Das angefochtene Urteil beruht
jedoch auf einem geltend gemachten Verfahrensmangel (2.).
1. Eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache im Sinne von § 132 Abs. 2
Nr. 1 VwGO ist nicht ausreichend dargelegt.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn sie eine für die
erstrebte Revisionszulassung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft,
die im Interesse der Einheit und der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtli-
cher Klärung bedarf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO
setzt insoweit die Formulierung einer bestimmten, höchstrichterlich noch unge-
klärten und für die Revisionsentscheidung erheblichen Rechtsfrage des revi-
siblen Rechts und außerdem die Angabe voraus, worin die allgemeine, über
den Einzelfall hinausgehende Bedeutung bestehen soll (vgl. Beschluss vom
19. August 1997 - BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO
Nr. 26 S. 14 m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt.
a) Der Kläger hält es für eine Frage von grundsätzlicher Bedeutung, dass „lau-
fend Kosten für Verfahren erhoben (werden), die vor dem Bundesverfassungs-
gericht gewonnen werden, wobei aber - soweit es sich um Eilverfahren han-
delt - das Bundesverfassungsgericht regelmäßig davon absieht, Kostenerstat-
tung anzuordnen, und zwar mit der Begründung, dass ein Hauptsacheverfahren
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dazu durchzuführen sei“. Diese Frage bezieht sich auf Fälle, in denen der Klä-
ger im verwaltungsgerichtlichen Verfahren erfolglos um die Gewährung vorläu-
figen Rechtsschutzes nachgesucht hat und ihm deshalb die Kosten dieser Ver-
fahren auferlegt wurden, das Bundesverfassungsgericht hingegen vorläufigen
Rechtsschutz gewährt hat, ohne die verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen
aufzuheben. Der Kläger ist der Auffassung, dass er bei einer solchen Fallge-
staltung nicht mit den Kosten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens belastet
werden dürfe. Die darauf zielende Frage kann schon deshalb nicht zur Revisi-
onszulassung führen, weil sie sich in einem Revisionsverfahren nicht stellen
würde. Mit dem angefochtenen Urteil hat der Verwaltungsgerichtshof eine von
dem Kläger erhobene Fortsetzungsfeststellungsklage als unzulässig angese-
hen. Streitgegenstand war also nicht die von dem Kläger als rechtswidrig ange-
sehene Belastung mit Kosten eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens trotz
Gewährung von Eilrechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht.
Die hier in Rede stehende Frage von angeblich grundsätzlicher Bedeutung ge-
nügt auch dann nicht den Begründungsanforderungen, wenn man sie auf die
Erwägung in dem angefochtenen Urteil bezieht, entgegen der Auffassung des
Klägers folge ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse nicht daraus, dass er trotz
des Erfolgs vor dem Bundesverfassungsgericht die Kosten des vorangegange-
nen verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens zu tragen habe (UA S. 20). Dies
folgt schon daraus, dass sich der Kläger nicht in der von § 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO gebotenen Weise substantiiert mit den Erwägungen des Verwaltungsge-
richtshofs auseinandersetzt, dass die von dem Kläger beanstandete Kostentra-
gungspflicht deshalb kein Fortsetzungsfeststellungsinteresse begründen könne,
weil die erstrebte Feststellung der Rechtswidrigkeit der Verbotsverfügung nichts
an der rechtskräftigen Kostenentscheidung im gerichtlichen Eilverfahren ändern
würde.
b) Soweit der Kläger die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache mit der
Erwägung begründet, einige Oberverwaltungsgerichte sähen in den Fällen
eines erfolgreichen bundesverfassungsgerichtlichen Eilverfahrens von der Er-
hebung der Gerichtskosten für das vorangegangene Verwaltungsgerichtsver-
fahren ab, ist damit eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ebenfalls
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nicht ausreichend dargelegt. Die Erwägung betrifft die Frage der Rechtmäßig-
keit der Erhebung der Verfahrenskosten für das verwaltungsgerichtliche Eilver-
fahren. Da diese Frage aus den aufgezeigten Gründen die grundsätzliche Be-
deutung der Rechtssache nicht zu begründen vermag, kann für den Hinweis auf
eine mit ihr im Zusammenhang stehende Praxis von Oberverwaltungsgerichten
nichts Anderes gelten.
c) Soweit in der Beschwerdebegründung dargelegt wird, dass der Verwaltungs-
gerichtshof zu Unrecht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse verneint habe,
vermag dies die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache ebenfalls nicht zu
begründen. Die angebliche Unrichtigkeit der angegriffenen Entscheidung recht-
fertigt nicht die Revisionszulassung unter dem Gesichtspunkt der grundsätzli-
chen Bedeutung.
2. Die Beschwerde hat jedoch deshalb Erfolg, weil das angefochtene Urteil auf
einem Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO beruht.
Eine auf den Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung ge-
stützte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision, die verfahrens-
rechtliche Probleme aufzeigen soll, kann als Verfahrensrüge im Sinne des
§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zu verstehen sein, wenn damit der Sache nach ein
Verfahrensmangel geltend gemacht wird. Ein derartiges Verständnis ist aner-
kannt im Falle einer Divergenzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO), die sich auf die
Anwendung von prozessrechtlichen Vorschriften bezieht (Beschluss vom
12. April 2001 - BVerwG 8 B 2.01 - Buchholz 310 § 92 VwGO Nr. 13 S. 5
m.w.N.), muss aber auch für die Grundsatzrüge Geltung beanspruchen. Denn
der Revisionszulassungsgrund der Divergenz im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2
VwGO stellt vielfach einen Unterfall des Zulassungsgrundes der grundsätzli-
chen Bedeutung dar (Beschluss vom 27. Juni 1996 - BVerwG 7 B 94.96 -
Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 2 VwGO Nr. 5 S. 4 m.w.N.). Der Kläger bean-
standet auch, der Verwaltungsgerichtshof habe zu Unrecht die Fortsetzungs-
feststellungsklage mangels Feststellungsinteresse als unzulässig abgewiesen.
Entscheidet das Berufungsgericht, dass eine Fortsetzungsfeststellungsklage
wegen Fehlens eines berechtigten Interesses an der Feststellung der Rechts-
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widrigkeit des Verwaltungsakts unzulässig ist, so liegt ein Verfahrensmangel im
Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO vor, wenn in der Sache hätte entschieden
werden müssen (vgl. Beschluss vom 16. Oktober 1989 - BVerwG 7 B 108.89 -
NVwZ 1990, 360). Die daher auch als Geltendmachung eines Verfahrensver-
stoßes zu verstehenden Ausführungen des Klägers zeigen einen derartigen
Mangel auf, auf dem das Urteil auch beruht.
Ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erle-
digten Verwaltungsaktes im Sinne von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO besteht u.a.
im Falle eines anzuerkennenden Rehabilitationsinteresses. Ein Rehabilitations-
interesse begründet ein Feststellungsinteresse dann, wenn es bei vernünftiger
Würdigung der Verhältnisse des Einzelfalls als schutzwürdig anzuerkennen ist
(stRspr, vgl. z.B. Beschluss vom 18. Juli 2000 - BVerwG 1 WB 34.00 - Buchholz
310 § 113 Abs. 1 VwGO Nr. 11 S. 23 m.w.N.). Dies kann insbesondere der Fall
sein, wenn der Kläger durch die streitige Maßnahme in seinem Per-
sönlichkeitsrecht objektiv beeinträchtigt ist (vgl. Beschluss vom 4. März 1976
- BVerwG 1 WB 54.74 - BVerwGE 53, 134 <138>). Eine solche Beeinträchti-
gung kann sich auch aus der Begründung der streitigen Verwaltungsentschei-
dung ergeben (vgl. Urteil vom 19. März 1992 - BVerwG 5 C 44.87 - Buchholz
310 § 113 VwGO Nr. 244 S. 86 f.). Begründungen für das Versammlungsrecht
beschränkende Maßnahmen können diskriminierend wirken, insbesondere
wenn sie Ausführungen über die Persönlichkeit des Veranstalters oder zu sei-
nem zu erwartenden kriminellen Verhalten auf Versammlungen enthalten (vgl.
BVerfG, Beschluss vom 3. März 2004 - 1 BvR 461/03 - BVerfGE 110, 77 <92>).
Erforderlich ist, dass abträgliche Nachwirkungen der diskriminierenden Maß-
nahme fortbestehen, denen durch eine gerichtliche Feststellung der Rechts-
widrigkeit des Versammlungsverbots wirksam begegnet werden kann (vgl. Be-
schluss vom 18. Juli 2000 a.a.O. S. 23 m.w.N.; Urteil vom 21. November 1980
- BVerwG 7 C 18.79 - BVerwGE 61, 164 <166>). Mit Blick auf das Gebot der
Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG) und die ver-
fassungsrechtlich verbürgte Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) sind an das Vor-
liegen eines Fortsetzungsfeststellungsinteresses in versammlungsrechtlichen
Streitigkeiten keine überhöhten Anforderungen zu stellen (vgl. BVerfG, Be-
schluss vom 3. März 2004 a.a.O. S. 85 ff.). Daran gemessen durfte der Verwal-
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tungsgerichtshof das Bestehen eines berechtigten Feststellungsinteresses we-
gen eines Rehabilitationsbedürfnisses nicht verneinen.
In der streitigen Verfügung wird unter anderem dargelegt: „Sowohl der Ver-
sammlungsleiter, Herr R., als auch der zu erwartende Teilnehmerkreis der für
den 16. August 2003 angemeldeten Versammlung lassen angesichts des Ver-
sammlungsthemas ‚Gedenken an Rudolf Heß’ unmittelbar den Schluss zu, dass
hier im Rahmen dieser Versammlung eine Verherrlichung des Nationalso-
zialismus und ein offensives Verfolgen nationalsozialistischer Ideen und Ziele
erfolgen wird.“ Dem ist auch die Behauptung zu entnehmen, dass der Kläger
den Nationalsozialismus verherrlicht und nationalsozialistische Ideen sowie Zie-
le verfolgt. Mit dieser Erwägung wird zum Ausdruck gebracht, dass sich der
Kläger mit den menschenverachtenden Ideen und Zielen der nationalsozialisti-
schen Gewaltherrschaft identifiziert und diesen erneut Geltung verschafft wis-
sen möchte. Darin liegt bei objektiver Betrachtung ein Unwerturteil (vgl. auch
§ 130 Abs. 4 StGB), das auch im vorliegenden Fall ein berechtigtes Rehabilita-
tionsinteresse begründet. Der Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs, dass in
der hier in Rede stehenden Erwägung in dem angegriffenen Bescheid keine die
Persönlichkeit des Klägers herabwürdigende Aussage liege (UA S. 10 Satz 4),
ist also nicht zu folgen. Soweit aus Sicht des Berufungsgerichts gegen den
diskriminierenden Charakter wohl auch der hier interessierenden Erwägung
spricht, dass der Kläger sie letztlich nicht bestritten habe, vermag dies die nach
objektiven Gesichtspunkten zu beurteilende und von Amts wegen vom Gericht
festzustellende diskriminierende Wirkung nicht auszuschließen.
Die Voraussetzungen eines Rehabilitationsinteresses liegen auch insoweit vor,
als abträgliche Nachwirkungen der Diskriminierung gegeben sind, denen durch
gerichtliche Feststellung der Rechtswidrigkeit des Versammlungsverbots be-
gegnet werden kann. Eine Nachwirkung der belastenden Erwägung besteht
schon deshalb, weil das Landratsamt W. nach wie vor - wenn auch im Zusam-
menhang mit dem angenommenen Verstoß gegen den objektiven Tatbestand
des § 130 Abs. 4 StGB und nicht zur Begründung eines Verstoßes gegen die
öffentliche Ordnung - davon ausgeht, dass der Kläger die nationalsozialistische
Gewalt- und Willkürherrschaft verherrlicht oder billigt. Diese Erwägung findet
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sich in der Begründung des Bescheids des Landratsamts W. vom 6. Juli 2006,
mit der eine von dem Kläger für den 19. August 2006 angemeldete Versamm-
lung verboten wird. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der Nachwirkung durch
den Erfolg der Fortsetzungsfeststellungsklage begegnet werden kann.
Da das berechtigte Feststellungsinteresse aus dem aufgezeigten Grund nicht
verneint werden kann, kann dahingestellt bleiben, ob auch andere Gründe die-
se Annahme rechtfertigen.
3. Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von der ihm
nach § 133 Abs. 6 VwGO eröffneten Befugnis Gebrauch, das angefochtene
Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und
Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen.
4. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf § 47 i.V.m.
§ 52 Abs. 2 GKG.
Dr. Bardenhewer Dr. Hahn Vormeier
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