Urteil des BVerwG vom 06.01.2014

Einzelnes Mitglied, Klagefrist, Verein, Organisation

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 60.13
OVG 11 KS 288/12
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 6. Januar 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller und Hahn
beschlossen:
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Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Niedersächsischen Ober-
verwaltungsgerichts vom 3. September 2013 werden zu-
rückgewiesen.
Von den Kosten des Beschwerdeverfahrens tragen der
Kläger zu 1 ein Viertel und die Klägerin zu 2 drei Viertel
mit Ausnahme ihrer eigenen außergerichtlichen Kosten,
die sie jeweils selbst tragen.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 20 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Die Kläger wenden sich gegen eine Verfügung, durch die das Niedersächsische
Ministerium für Inneres und Sport die Vereinigung „…“, die Klägerin zu 2, verbo-
ten hat. Der Kläger zu 1 gehört zu deren Mitgliedern.
Nachdem innerhalb der Klagefrist zunächst nur der Kläger zu 1 gegen die Ver-
botsverfügung Klage erhoben hatte, hat er nach Ablauf der Klagefrist gebeten,
das Rubrum dahin zu berichtigen, dass die Klage von der Vereinigung „…“, ver-
treten durch ihn, erhoben sei. Mit ihrer Klage haben die Kläger unter anderem
geltend gemacht, „…“ sei keine Vereinigung im Sinne des Vereinsgesetzes,
sondern eine Marke, unter der verschiedene künstlerische Projekte verwirklicht
würden, darunter das satirische Projekt „A.“.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Klagen durch das angefochtene Urteil ab-
gewiesen: Die Klage der Klägerin zu 2 sei unzulässig, weil die Klagefrist nicht
gewahrt sei. Auf die zulässige Klage des Klägers zu 1 könne nur geprüft wer-
den, ob die Verbotsverfügung deshalb rechtswidrig sei, weil die verbotene
Gruppierung nicht die Merkmale einer Vereinigung im Sinne des Vereinsgeset-
zes erfülle. „…“ sei eine Vereinigung im Sinne des Vereinsgesetzes, weise ins-
besondere Strukturen auf, die zu einer organisierten Willensbildung führten.
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Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelas-
sen. Hiergegen richten sich die Beschwerden der Kläger.
II
Die Beschwerden der Kläger haben keinen Erfolg.
1. Die Beschwerde der Klägerin zu 2 ist bereits unzulässig. Sie hat entgegen
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO nicht dargelegt, welche Gründe für eine Zulassung
der Revision vorliegen sollen, soweit das Oberverwaltungsgericht ihre Klage
abgewiesen hat. Die Abweisung ihrer Klage hat das Oberverwaltungsgericht
allein damit begründet, sie habe die Klagefrist nicht gewahrt. Hierauf bezogene
Zulassungsgründe sind in der Beschwerde nicht benannt, geschweige denn
dargelegt.
2. Die Beschwerde des Klägers zu 1 bleibt ebenfalls erfolglos. Die von ihm gel-
tend gemachten Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor, so-
weit sie überhaupt ordnungsgemäß dargelegt sind (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO).
a) Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne des § 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
aa) Der Kläger zu 1 möchte die Frage geklärt wissen,
unter welchen Voraussetzungen davon auszugehen ist,
dass sich ein Einzelmitglied der Gesamtwillensbildung ei-
ner Vereinigung unterworfen hat.
Die Frage ist weder klärungsbedürftig noch klärungsfähig. Soweit sie sich über-
haupt über den Einzelfall hinaus mit dem Anspruch auf Allgemeinverbindlichkeit
beantworten lässt, ergibt sich die Antwort ohne Weiteres aus dem Gesetz und
muss nicht erst in einem Revisionsverfahren gefunden werden.
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§ 3 Abs. 1 VereinsG regelt das Verbot eines Vereins. Der Verein im Sinne die-
ser Bestimmung ist von Versammlungen und ähnlich lockeren Zusammen-
schlüssen abzugrenzen. Diese Abgrenzung richtet sich nach § 2 Abs. 1
VereinsG. Er definiert für den Anwendungsbereich des Vereinsgesetzes den
Begriff des Vereins. Verein ist danach ohne Rücksicht auf die Rechtsform jede
Vereinigung, zu der sich eine Mehrheit natürlicher oder juristischer Personen für
längere Zeit zu einem gemeinsamen Zweck freiwillig zusammengeschlossen
und einer organisierten Willensbildung unterworfen haben. Dieser Definition hat
das Oberverwaltungsgericht zutreffend entnommen, dass die Vereinigung auf-
grund ihrer inneren Organisation imstande sein muss, einen Gesamtwillen zu
bilden, der losgelöst ist vom Willen jeden einzelnen Mitglieds und dem das ein-
zelne Mitglied kraft der Verbandsdisziplin unterworfen ist.
Ob die innere Organisation einer Vereinigung so beschaffen ist, dass diese Vo-
raussetzung erfüllt ist, richtet sich weithin nach den konkreten Umständen des
einzelnen Falles. Ist eine Vereinigung nicht als bürgerlich-rechtlicher Verein ver-
fasst, lassen sich verallgemeinerungsfähige Aussagen angesichts der vielfälti-
gen Möglichkeiten nicht gewinnen, in denen Vereinigungen eine gemeinsame
Willensbildung organisieren und zur Grundlage ihrer Aktivitäten machen kön-
nen. Jedenfalls zeigt der Kläger in seiner Beschwerde nicht auf, dass hier in
einem Revisionsverfahren losgelöst vom Einzelfall weiterführende rechtsgrund-
sätzliche Aussagen gewonnen werden könnten. Er greift weithin nur die tat-
sächliche Würdigung des Oberverwaltungsgerichts an. Mit Angriffen gegen die
Beweiswürdigung des Oberverwaltungsgerichts kann aber eine grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache nicht dargetan werden.
bb) Das gilt namentlich für die ferner aufgeworfene Frage,
ob die angeblichen Absprachen sämtlicher Aktivitäten der
„Vereinigung …“ im Vorfeld mit dem Kläger zu 1 oder sei-
nem Vertreter als ausreichend dafür angesehen werden
können, von einer aufgrund von Verbandsdisziplin er-
zwungenen Unterwerfung des Einzelmitgliedes der Ge-
samtwillensbildung dieser angeblichen Vereinigung aus-
gehen zu dürfen.
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Wird die Frage von ihrer einzelfallbezogenen tatsächlichen Einkleidung befreit,
zeigt sie keinen grundsätzlichen rechtlichen Klärungsbedarf an. Unter den tat-
sächlichen Voraussetzungen, die das Oberverwaltungsgericht festgestellt hat,
verbleibt für das Revisionsverfahren keine noch klärungsbedürftige Rechtsfra-
ge. Das Oberverwaltungsgericht hat festgestellt, dass die Gruppierung „…“ über
eine Organisationsstruktur verfügt, die in drei Ebenen gegliedert ist, nämlich
einer Führungsebene, zu welcher der Kläger zu 1 gehört, dem Autorenteam
und Redakteuren sowie den Aktivisten. Der Kläger zu 1 hat bestimmt, wann und
wo Druckerzeugnisse der Gruppierung zu verteilen waren, an welchen Veran-
staltungen Mitglieder der Gruppierung teilnahmen und ob befreundete Gruppie-
rungen unterstützt werden sollten. Sämtliche Aktivitäten der Gruppierung wur-
den im Vorfeld mit ihm oder seinem Vertreter abgesprochen. Es liegt auf der
Hand, dass diese Voraussetzungen ausreichen, um im Sinne des § 2 Abs. 1
VereinsG die Aktivitäten, die den Zweck des Vereins ausmachen, und die He-
ranziehung der einzelnen Mitglieder zu diesen Aktivitäten auf eine von deren
Einzelwillen losgelöste organisierte Willensbildung zurückzuführen.
cc) Keine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache hat der Kläger zu 1 der
Sache nach dargetan, soweit er in der Begründung seiner Beschwerde die Vo-
raussetzungen erörtert, unter denen nach der Rechtsprechung des Bundesge-
richtshofs eine kriminelle Vereinigung im Sinne des § 129 StGB anzunehmen
ist, und der Frage nachgeht, inwieweit sich dieser Begriff von demjenigen der
Bande unterscheidet. Der Kläger zu 1 hat nicht aufgezeigt, welche Bedeutung
dieser Rechtsprechung auf der Grundlage der tatsächlichen Feststellungen des
Oberverwaltungsgerichts für die hier entscheidungserhebliche Frage zukommt,
ob die Gruppierung „…“ eine Vereinigung im Sinne des Vereinsgesetzes ist.
Nicht entscheidungserheblich ist dabei insbesondere die vom Kläger zu 1 an-
gesprochene Frage, inwieweit dieser Gruppierung Straftaten ihrer Mitglieder
zugerechnet werden können und welche Bedeutung es hat, dass der Kläger
zu 1 bisher nicht wegen Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung oder an-
derer Delikte verurteilt worden ist. Auf diese Fragen wäre es allenfalls dann
entscheidungserheblich angekommen, wenn die Klage der Klägerin zu 2 zuläs-
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sig gewesen wäre. Denn diese Fragen sind nur dafür von Bedeutung, ob die
Gruppierung nach ihrem Zweck oder ihrer Tätigkeit den Strafgesetzen zuwider-
läuft und damit neben anderen auch diesen Verbotstatbestand erfüllt. Ob die
materiellen Verbotstatbestände erfüllt sind, kann nicht aufgrund der Klage eines
einzelnen Mitglieds geprüft werden, sondern nur aufgrund einer zulässigen Kla-
ge der Vereinigung selbst, wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend ausge-
führt hat.
b) Der behauptete Verfahrensfehler im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO
liegt nicht vor. Das Oberverwaltungsgericht hat nicht seine Pflicht verletzt, den
Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären (§ 86 Abs. 1 VwGO). Es war nicht
verpflichtet, Beweis durch Vernehmung der Zeugen zu erheben, die der Kläger
zu 1 in seiner Beschwerdebegründung benannt hat.
Die Rüge einer Verletzung der gerichtlichen Aufklärungspflicht erfordert die
substantiierte Darlegung, welche Tatsachen auf der Grundlage der materiell-
rechtlichen Auffassung des Oberverwaltungsgerichts aufklärungsbedürftig wa-
ren, welche für erforderlich und geeignet gehaltenen Aufklärungsmaßnahmen
hierfür in Betracht kamen, welche tatsächlichen Feststellungen dabei voraus-
sichtlich getroffen worden wären und inwiefern diese unter Zugrundelegung der
materiellrechtlichen Auffassung des Tatsachengerichts zu einer für den Be-
schwerdeführer günstigeren Entscheidung hätten führen können. Weiterhin
muss entweder dargelegt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsa-
chengericht, insbesondere in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme
der Sachverhaltsaufklärung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hinge-
wirkt worden ist oder aufgrund welcher Anhaltspunkte sich dem Gericht die be-
zeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwirken hätten aufdrängen
müssen. Die Aufklärungsrüge stellt kein Mittel dar, um Versäumnisse in der
Tatsacheninstanz, vor allem das Unterlassen von Beweisanträgen, zu kompen-
sieren.
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Der Kläger zu 1 hat in der mündlichen Verhandlung vor dem Oberverwaltungs-
gericht keinen Beweisantrag gestellt, der auf die von ihm jetzt vermisste Be-
weiserhebung gerichtet gewesen wäre. Er hat in seiner Beschwerde nicht dar-
gelegt, dass sich dem Oberverwaltungsgericht eine Vernehmung der von ihm
bezeichneten Personen zu den von ihm benannten Beweisfragen auch ohne
einen hierauf gerichteten Beweisantrag hätte aufdrängen müssen. Das Ober-
verwaltungsgericht stützt sich für seine Beweiswürdigung auf die insbesondere
polizeilichen Erkenntnisse, die das Ministerium seiner Verbotsverfügung zu-
grunde gelegt hat. Ihnen hat das Oberverwaltungsgericht namentlich entnom-
men, aufgrund welcher Einzeltatsachen die Gruppierung „…“ über eine organi-
sierte Willensbildung verfügt, wie sie Voraussetzung für die Annahme einer
Vereinigung im Sinne des Vereinsgesetzes ist. Das Oberverwaltungsgericht hat
dabei auch hervorgehoben, dass die Kläger diesen Erkenntnissen nicht über-
zeugend entgegengetreten sind. Vor diesem Hintergrund war das Oberverwal-
tungsgericht befugt, sich für die Feststellung der entscheidungserheblichen Tat-
sachen ohne zusätzliche eigene Ermittlungen auf die im Verwaltungsverfahren
gewonnenen Erkenntnisse zu stützen. Der Kläger zu 1 hat in seiner Beschwer-
de nicht dargelegt, dass er nicht nur pauschal bestritten hat, die verbotene
Gruppierung sei eine Vereinigung im Sinne des Vereinsgesetzes, sondern da-
rüber hinaus die einzelnen Umstände substantiiert in Zweifel gezogen hat, mit
denen in der Verbotsverfügung die Voraussetzungen für eine Vereinigung be-
legt worden sind.
Davon abgesehen ist weiterhin nicht erkennbar, welche entscheidungserhebli-
chen Tatsachen nach Auffassung des Klägers zu 1 noch weiterer Klärung be-
durft hätten. Er erwartet von der unterbliebenen Beweisaufnahme einen Er-
kenntnisgewinn vor allem zu der Frage, welche Personen an den jeweiligen
Aktionen beteiligt waren. Dass Aktionen in unterschiedlicher personeller Zu-
sammensetzung realisiert wurden und an der Planung mehr Personen beteiligt
waren als an der Ausführung, ist jedoch unerheblich für die Frage, ob eine Ver-
einigung im Sinne des Vereinsgesetzes vorliegt. Entscheidend ist allein, dass
die Aktionen dem Zweck der Vereinigung entsprachen und von deren Gesamt-
willen getragen waren. Liegt dieser vor, ist es wiederum unerheblich, ob einzel-
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ne Mitglieder der Vereinigung unter dem Druck eines Befehls oder bereitwillig
an der Verwirklichung der geplanten Aktionen teilgenommen haben.
3. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab, weil sie nicht geeignet
wäre, zur Klärung der Voraussetzungen beizutragen, unter denen eine Revision
zuzulassen ist (§ 133 Abs. 5 Satz 2 Halbs. 2 VwGO).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2, § 159 Satz 1 VwGO, § 100
Abs. 1 und 2 ZPO. Die Kläger haften für die Kosten des Beschwerdeverfahrens
nicht als Gesamtschuldner. Ein Fall des § 159 Satz 2 VwGO liegt nicht vor. Der
Kläger zu 1 ist als einzelnes Mitglied der Vereinigung durch die angegriffene
Verbotsverfügung rechtlich in anderer Weise betroffen als die Klägerin zu 2 als
verbotene Vereinigung, wie das Oberverwaltungsgericht zutreffend dargelegt
hat. Deshalb kann über die von ihnen erhobenen rechtlich selbständigen Kla-
gen unterschiedlich entschieden werden. Dasselbe gilt demgemäß auch für die
nunmehr erhobenen Beschwerden. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf
§ 47 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
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