Urteil des BVerwG vom 13.01.2014

Polizeiliche Generalklausel, Vorläufiger Rechtsschutz, Körperliche Unversehrtheit, Sicherungsverwahrung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 59.13
OVG 3 A 13/13
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. Januar 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Graulich und Prof. Dr. Hecker
beschlossen:
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Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts
des Saarlandes vom 6. September 2013 wird zurückge-
wiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Der Kläger wendet sich gegen seine Dauerobservation durch die Polizei.
Der 1948 geborene Kläger hat seit seinem 20. Lebensjahr zumeist unter Alko-
holeinfluss mehrfach Gewaltdelikte, meist mit Sexualbezug, darunter einen
Mord, begangen. Nach vollständiger Verbüßung der letzten gegen ihn verhäng-
ten Freiheitsstrafe ordnete das Landgericht die nachträgliche Sicherungsver-
wahrung gegen ihn an. Aufgrund dieser Anordnung wurde der Kläger einstwei-
lig untergebracht. Die Anordnung der nachträglichen Sicherungsverwahrung
hob der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 12. Mai 2010 vor dem Hinter-
grund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte
auf, wies den Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung zurück und ord-
nete die sofortige Freilassung des Klägers an. Der Kläger wurde noch am sel-
ben Tag entlassen. Nach seiner Entlassung unterlag er ständiger polizeilicher
Begleitung und Überwachung (Dauerobservation), bis er am 2. September 2011
auf der Grundlage des Therapieunterbringungsgesetzes einstweilig in einer ge-
schlossenen Einrichtung untergebracht wurde.
Der Kläger hat gegen seine Dauerobservation beim Verwaltungsgericht Klage
erhoben, mit der er nach ihrer Beendigung die Feststellung ihrer Rechtswidrig-
keit beantragt hat. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Das
Oberverwaltungsgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Es hat
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angenommen, die Dauerobservation des Klägers könne für eine Übergangszeit
auf die polizeiliche Generalklausel in § 8 Abs. 1 des Saarländischen Polizeige-
setzes gestützt werden. Es sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, in
Ermangelung einer tragfähigen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage aus
übergeordneten Gründen des Gemeinwohls auf unvorhergesehene Gefahrensi-
tuationen durch Anwendung der polizeilichen Generalklausel zu reagieren, bis
der Gesetzgeber Gelegenheit gehabt habe, die Schutzlücke zu schließen. Auf
der Grundlage der bis zum Ende des Überwachungszeitraums vorliegenden
psychiatrischen Sachverständigengutachten habe die Polizei davon ausgehen
dürfen, dass von dem Kläger die konkrete Gefahr ausgegangen sei, auch künf-
tig schwere Gewaltstraftaten und insbesondere Straftaten gegen die sexuelle
Selbstbestimmung zu begehen, durch die die Opfer seelisch und körperlich
schwer geschädigt würden.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelas-
sen. Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
II
Die Beschwerde ist unbegründet. Der allein geltend gemachte Grund für eine
Zulassung der Revision liegt nicht vor. Das angefochtene Urteil weicht nicht im
Verständnis von § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO von der Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts ab, die der Kläger bezeichnet hat. Das Oberverwaltungs-
gericht hat sein Urteil nicht entscheidungstragend auf einen abstrakten Rechts-
satz gestützt, der einem eben solchen abstrakten Rechtssatz widerspricht, den
das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 8. November 2012
- 1 BvR 22/12 - (EuGRZ 2013, 73) aufgestellt hat.
Der Kläger arbeitet in der Begründung seiner Beschwerde schon keine abstrak-
ten und die jeweilige Entscheidung tragenden Rechtssätze heraus, die zu ei-
nander in Widerspruch stehen sollen. Seinen Darlegungen lässt sich allenfalls
die Auffassung entnehmen, das Oberverwaltungsgericht hätte bei der Anwen-
dung der als solche nicht in Frage gestellten Rechtssätze auf den konkreten
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Einzelfall zu einer anderen Entscheidung kommen müssen. Selbst wenn dies
richtig wäre, läge darin keine von ihm allein aufgerufene Abweichung im Sinne
des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO.
Unabhängig davon, dass der Kläger die behauptete Abweichung nicht hinrei-
chend im Sinne des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO bezeichnet hat und seine Be-
schwerde schon deshalb zurückzuweisen ist, ist das Oberverwaltungsgericht
auch in der Sache nicht von den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts
abgewichen, die der Kläger in seiner Beschwerdebegründung zitiert hat.
Das Bundesverfassungsgericht hat es dort als fraglich bezeichnet, ob die poli-
zeiliche Generalklausel geeignet ist, auch längerfristig eine Dauerbeobachtung
zu tragen: Es handele sich wohl um eine neue Form einer polizeilichen Maß-
nahme, die bisher vom Landesgesetzgeber nicht eigens erfasst worden sei und
aufgrund ihrer weitreichenden Folgen möglicherweise einer ausdrücklichen,
detaillierten Ermächtigungsgrundlage bedürfe. Zum einen äußert das Bundes-
verfassungsgericht nur Zweifel an der Geeignetheit der polizeilichen General-
klausel für Maßnahmen der hier in Rede stehenden Art, hat also nicht definitiv
entschieden, sie komme als Rechtsgrundlage keinesfalls in Betracht. Zum an-
deren teilt das Oberverwaltungsgericht diese Zweifel, widerspricht der Ent-
scheidung des Bundesverfassungsgerichts insoweit also nicht. Das Oberver-
waltungsgericht hält es allerdings für tragfähig, die polizeiliche Generalklausel
übergangsweise bis zur Schaffung einer eigenständigen Regelung durch den
Gesetzgeber als Rechtsgrundlage heranzuziehen, um der Polizei die Möglich-
keit zu geben, den auch verfassungsrechtlich gebotenen Schutz überragender
Rechtsgüter wie Leben und körperliche Unversehrtheit gegen jederzeit zu be-
fürchtende schwerste Beeinträchtigungen zu gewährleisten. Eine solche Über-
gangszeit hat das Oberverwaltungsgericht hier mit Blick auf die Arbeiten an
dem Therapieunterbringungsgesetz des Bundes und den zu seiner Umsetzung
notwendigen ergänzenden Regelungen des Landes angenommen. Aber auch
damit setzt das Oberverwaltungsgericht sich nicht in Widerspruch zu dem Be-
schluss des Bundesverfassungsgerichts. Denn das Bundesverfassungsgericht
hat es in dem erwähnten Beschluss ausdrücklich als verfassungsrechtlich un-
bedenklich bezeichnet, die polizeiliche Generalklausel dahin zu verstehen, dass
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sie es den Behörden ermöglicht, auf unvorhergesehene Gefahrensituationen
auch mit im Grunde genommen näher regelungsbedürftigen Maßnahmen vor-
läufig zu reagieren, um dem Gesetzgeber so zu ermöglichen, eventuelle Rege-
lungslücken zu schließen.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwar in dem Beschluss die gerichtlichen
Entscheidungen beanstandet, durch die dem damaligen Beschwerdeführer vor-
läufiger Rechtsschutz gegen seine Dauerbeobachtung durch die Polizei versagt
worden ist, jedoch nur weil in dem konkreten Fall für eine solche Entscheidung
keine ausreichende Erkenntnisgrundlage bestand. Insoweit ist von vornherein
kein Raum für eine Abweichung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, wenn
das Oberverwaltungsgericht aufgrund der hier vorhandenen Gutachten und Er-
kenntnisse eine Gefahr annimmt, welche die Anwendung der polizeilichen Ge-
neralklausel als Grundlage einer Dauerbeobachtung rechtfertigt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Festsetzung des
Streitwerts auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Neumann
Dr. Graulich
Prof. Dr. Hecker
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