Urteil des BVerwG vom 19.11.2002

Aufklärungspflicht, Mitwirkungspflicht, Unterlassen, Befund

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 54.02
VG 8 K 2714/01.NW
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 19. November 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht B ü g e und Dr. G r a u l i c h
beschlossen:
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Das Urteil des Verwaltungsgerichts Neustadt an
der Weinstraße vom 24. April 2002 wird aufgeho-
ben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung
und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zu-
rückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der
Schlussentscheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das
Beschwerdeverfahren auf 4 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde des Klägers führt mit der Verfahrensrüge (§ 132
Abs. 2 Nr. 3 VwGO) - wegen des darin geltend gemachten Aufklä-
rungsmangels - zum Erfolg (1.). Das Urteil ist daher aufzuhe-
ben, und die Sache ist an das Verwaltungsgericht zurückzuver-
weisen (§ 133 Abs. 6 VwGO)(2.).
1. Die Aufklärungsrüge ist begründet. Mit der Nichteinholung
des vom Kläger beantragten Sachverständigengutachtens über eine
bei ihm bestehende Lebensmittelallergie hat das Verwaltungsge-
richt seine Aufklärungspflicht (§ 86 Abs. 1 VwGO) verletzt. Die
Einholung des Gutachtens durfte auch nicht mit dem Hinweis auf
die Verletzung oder verzögerte Bereitschaft zur Erfüllung von
Mitwirkungspflichten seitens des Klägers unterbleiben.
Der Kläger hat während des gesamten Musterungsverfahrens und
auch während des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens immer wie-
der vorgebracht, an einer Lebensmittelallergie zu leiden und
deswegen nach ZDv 46/1, Gesundheitsziffer: 45/VI beurteilt wer-
den zu müssen, was wiederum den Tauglichkeitsgrad "nicht wehr-
dienstfähig" zur Folge hätte. Er könne nämlich nicht an der Ge-
meinschaftsverpflegung teilnehmen. Allerdings hat er sich wie-
derholt dem Ansinnen der Beklagten widersetzt, den behaupteten
Befund im Rahmen einer Aufnahme in ein Bundeswehrkrankenhaus
abklären zu lassen. Nach Hinweis Nr. 3.a) in Anlage 1/2 der
ZDv 46/1 ist aber die Vorlage eines fachärztlichen Befund-
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berichtes bzw. Überweisung zur fachärztlichen Untersuchung
(nach Möglichkeit in einer Sanitätseinrichtung der Bundeswehr)
ab Gradation V und VI stets erforderlich. In den Ausführungen
zu Gesundheitsnummer: 45 "Allergien an Haut- und Schleimhäuten"
in Anlage 3/48 der ZDv 46/1 wird dies insofern noch einmal be-
stätigt, als danach "ab Gradation V eine allergologische Unter-
suchung (allergologischer Befundbericht, nicht bei eindeutigen
Fällen: u.a. Birkenpollen) erfolgen" müsse.
Erst in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger ausweislich
des Protokolls seine Bereitschaft erklärt, sich uneingeschränkt
weiteren ärztlichen Untersuchungen zu stellen. Außerdem hat er
sinngemäß beantragt, Beweis zu erheben darüber, dass er an ei-
ner mit Gesundheitsziffer: 45/VI zu beurteilenden Lebensmittel-
allergie leide, welche ihn von der Gemeinschaftsverpflegung
ausschließen würde, weil andernfalls Kopfschmerzen sowie Infekt
mit Husten infolge Abwehrschwäche aufträten, durch Einholung
eines Sachverständigengutachtens.
Zur Ablehnung des Beweisantrages führt das Urteil im Wesentli-
chen aus, nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts
(Beschluss vom 29. Mai 1995 - BVerwG 8 B 11.95 - Buchholz 448.0
§ 8 a WPflG Nr. 57) könnten Tauglichkeitseinwendungen im Ver-
waltungsrechtsstreit auch über einen Musterungsbescheid dann
unberücksichtigt bleiben, wenn der Kläger seine Mitwirkungs-
pflichten verletzt habe. Nach der Überzeugung des Gerichts habe
der Kläger durch Unterlassen der Mitwirkung bei weiteren Unter-
suchungen den Verfahrensgang verzögert, um so gegebenenfalls
- auch bei negativem Ausgang späterer Untersuchungen - einen
Wehr- oder Ersatzdienst nach dem Gang seiner persönlichen Le-
bensplanung nicht leisten zu müssen. Der Kläger habe nicht ein-
mal ein rechtlich schützenswertes Interesse an der von ihm vor-
geschlagenen Verfahrensweise geltend machen können, weil die
Beklagte ihm - im Hinblick auf sein weitgehend gefördertes Stu-
dium - im Falle der Bereitschaft zur Erledigung des Rechts-
streits in der Hauptsache eine Tauglichkeitsüberprüfung zuge-
sagt habe. Bei der besonderen Fallgestaltung und auf der Grund-
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lage der vom Kläger zu verantwortenden Mitwirkungs- und Darle-
gungsdefizite habe das Gericht darauf verweisen können, die
Tauglichkeitsüberprüfung aus eigener Veranlassung bei der Be-
klagten durchführen zu lassen.
Mit diesen Überlegungen und der darauf gestützten Zurückweisung
des klägerischen Beweisantrages hat das Verwaltungsgericht sei-
ne Aufklärungspflicht verletzt (§ 86 Abs. 1 VwGO). Es kann
nicht nachvollzogen werden, wie der in seinem Urteil eingenom-
mene Standpunkt auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts
vom 29. Mai 1995 (a.a.O.) gestützt werden kann. Dort ist näm-
lich ausgeführt, dass die entscheidungserhebliche Frage, ob der
Kläger wehrdienstfähig ist (§ 8 a WPflG), sich - wie im vorlie-
genden Fall - nur aufgrund besonderer medizinischer Sachkunde
beantworten lasse. Die Erwägung, der Kläger habe seiner Mitwir-
kungspflicht nicht genügt, da er den Ladungen der Beklagten zu
einer erneuten fachärztlichen Untersuchung nicht nachgekommen
sei, vermöge das Unterlassen der erforderlichen gerichtlichen
Beweisaufnahme nicht zu rechtfertigen. Das Tatsachengericht
müsse sämtliche die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Muste-
rungsbescheides berührenden Umstände klären. Tauglichkeitsein-
wänden gegen einen Musterungsbescheid müsse es auch dann nach-
gehen, wenn sie nicht Gegenstand des Verwaltungs- und (oder)
Vorverfahrens gewesen, sondern vom Wehrpflichtigen erstmals im
gerichtlichen Verfahren vorgebracht worden seien. Nichts ande-
res gilt auch für den Fall, dass der Kläger erst in der mündli-
chen Verhandlung die Bereitschaft zu einer bestimmten ärztli-
chen Untersuchung erklärt. Es gilt aber verstärkt, wenn der
Kläger selbst diese Bereitschaft noch durch die Stellung eines
förmlichen Beweisantrages zur Einholung eines einschlägigen
Sachverständigengutachtens einbringt. Das Verwaltungsgericht
muss dann die "Unbequemlichkeit" der Beweisaufnahme auf sich
nehmen und darf nicht unter Hinweis auf eine angebliche Verlet-
zung von Mitwirkungspflichten diese ablehnen. Tauglichkeitsein-
wendungen dürfen im Verwaltungsrechtsstreit über einen Muste-
rungsbescheid nur dann ausnahmsweise unberücksichtigt bleiben,
wenn der Kläger seine ihm bei der gerichtlichen Aufklärung des
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Sachverhalts obliegende prozessuale Mitwirkungspflicht ver-
letzt. Ein solcher Ausnahmefall liegt hier aber gerade nicht
vor.
Entsprechendes gilt auch für die Erwägung im Urteil, der Kläger
habe kein schützenswertes Interesse an der Beweisaufnahme, weil
die Beklagte ihm eine Tauglichkeitsüberprüfung - vor einer et-
waigen Entscheidung über die Einberufung - zugesichert habe.
Die in diesem Zusammenhang stehenden Überlegungen des Verwal-
tungsgerichts gehen fehl. Der Kläger hat ein Rechtsschutzbe-
dürfnis für seine auf Ausmusterung gerichtete Verpflichtungs-
klage, weil bei deren Erfolg feststeht, dass er nicht zum Wehr-
dienst und folglich auch nicht zum Zivildienst herangezogen
werden kann (§ 9 WPflG und §§ 7, 8 ZDG). Auf spätere Tauglich-
keitsüberprüfungen braucht er sich nicht verweisen zu lassen.
Ist die Entscheidung über das Ausmusterungsbegehren von der
Klärung der nach Maßgabe von § 8 a WPflG festzustellenden wehr-
medizinischen Tatsachen abhängig, so hat das Verwaltungsgericht
den gebotenen Beweis zu erheben. Für Erwägungen zu einem beson-
deren Rechtsschutzbedürfnis für die Beweisaufnahme ist kein
Raum.
2. Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung
von der ihm in § 133 Abs. 6 VwGO eingeräumten Möglichkeit
Gebrauch, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur
anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungs-
gericht zurückzuverweisen. Daran ist der Senat nicht deswegen
gehindert, weil aus den unter 1. dargelegten Gründen das ange-
fochtene Urteil zugleich gegen den zitierten Beschluss vom
29. Mai 1995 - BVerwG 8 B 11.95 - (a.a.O.) verstößt und daher
auch die Abweichungsrüge Erfolg gehabt hätte. Denn die Rechts-
sätze, von denen das Verwaltungsgericht abgewichen ist, bezie-
hen sich auf das Verfahren, so dass auch eine zugelassene Revi-
sion in jedem Falle zu einer Zurückverweisung an das Verwal-
tungsgericht führen würde.
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3. Die Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren
beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.
Bardenhewer Büge Graulich
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Wehrpflichtrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
WPflG § 8 a
VwGO § 86 Abs. 1, § 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6
Stichworte:
Musterungsverfahren; Tauglichkeit; fachärztliches Gutachten;
Lebensmittelallergie; gerichtliche Aufklärungspflicht; Mitwir-
kung des Wehrpflichtigen.
Leitsatz:
Die Aufklärungspflicht verlangt, Tauglichkeitseinwänden erfor-
derlichenfalls auch dann im Wege des Sachverständigenbeweises
nachzugehen, wenn der Wehrpflichtige erst in der mündlichen
Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht seine Mitwirkungsbereit-
schaft erklärt.
Beschluss des 6. Senats vom 19. November 2002 - BVerwG 6 B 54.02
I. VG Neustadt a.d.W. vom 24.04.2002 - Az.: VG 8 K 2714/01.NW