Urteil des BVerwG vom 02.05.2006

Treu Und Glauben, Besondere Härte, Einberufung, Aufklärungspflicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 53.05
VG 1 E 41/01 (3)
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 2. Mai 2006
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge und
Dr. Graulich
beschlossen:
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Das Urteil des Verwaltungsgerichts Darmstadt vom
20. April 2005 wird aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussent-
scheidung vorbehalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Die auf die Abweichungs- (1.), Grundsatz- (2.) und Verfahrensrüge (3.) gestütz-
te Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision hat Erfolg.
1. In der Staffelung als Haupt- (a) und Hilfsantrag (b) rügt der Kläger eine Ab-
weichung des verwaltungsgerichtlichen Urteils von Urteilen des Bundesverwal-
tungsgerichts (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO).
a) Nach Ansicht des Klägers divergiert das verwaltungsgerichtliche Urteil in ent-
scheidungserheblicher Weise von den beiden Urteilen des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 29. Mai 1991 - BVerwG 8 C 52.89 - (BVerwGE 88, 241
= Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 181) und vom 17. Oktober 1997 - BVerwG
8 C 6.97 - (Buchholz 448.0 § 12 WPflG Nr. 201). Darin habe das Bundesver-
waltungsgericht den Rechtssatz aufgestellt, dass einem angefochtenen Einbe-
rufungsbescheid ein Zurückstellungsgrund verteidigungsweise auch dann ent-
gegengesetzt werden könne, wenn er erstmals im gerichtlichen Verfahren gel-
tend gemacht werde. Die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts sei damit
nicht vereinbar.
Eine die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO eröffnende Divergenz liegt
nur dann vor, wenn die angefochtene Entscheidung einen inhaltlich bestimm-
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ten, sie tragenden abstrakten Rechtssatz enthält, mit dem die Vorinstanz einem
in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts oder eines anderen in
der Vorschrift genannten Gerichts aufgestellten ebensolchen die Entscheidung
tragenden Rechtssatz in Anwendung derselben Rechtsvorschrift widersprochen
hat. Diese Voraussetzungen sind hier hinsichtlich der vom Kläger angespro-
chenen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht erfüllt.
Nach dem vom Kläger angeführten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom
29. Mai 1991 (a.a.O. S. 244 bzw. S. 22) kommt es auf das Vorliegen eines Zu-
rückstellungsantrages in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage
maßgebenden Gestellungszeitpunkt nicht an. Ebenso wenig bedarf es einer
vorherigen Entscheidung der zuständigen Wehrersatzbehörde über das Zu-
rückstellungsbegehren. Im Interesse eines umfassenden Rechtsschutzes (vgl.
Art. 19 Abs. 4 GG) ist es vielmehr geboten, (auch) erstmals im gerichtlichen
Einberufungsstreit vorgetragene Zurückstellungsgründe zu berücksichtigen, um
ihnen Geltung zu verschaffen. Denn nach der ständigen Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts wird ein Zurückstellungsbegehren durch einen be-
standskräftig gewordenen Einberufungsbescheid inhaltlich „überholt“ und damit
materiell gegenstandslos (vgl. Urteil vom 13. Februar 1987 - BVerwG 8 C
128.84 - Buchholz 448.5 § 13 MustV Nr. 22 S. 4). Vorbehaltlich einer möglichen
Differenzierung hinsichtlich einzelner der in § 29 Abs. 1 und 2 WPflG genannten
Entlassungsgründe werden alle im Zeitpunkt des Eintritts der Bestandskraft
vorliegenden Einberufungshindernisse unbeachtlich. Das gilt namentlich für das
Vorbringen, im Zeitpunkt der Einberufung habe ein Zurückstellungsgrund be-
standen (vgl. Urteil vom 6. Dezember 1971 - BVerwG 8 C 47.71 - BVerwGE 39,
122 <125 f.> = Buchholz 448.0 § 29 WPflG Nr. 5 S. 10 f.). Ein bis zum festge-
setzten Einberufungszeitpunkt entstandener Zurückstellungsgrund führt weder
zur Entlassung des Wehrpflichtigen nach § 29 Abs. 1 Nr. 4 Alt. 1 WPflG (Urteil
vom 6. Dezember 1971 a.a.O. S. 125 f. bzw. S. 11) noch zur Entlassung nach
§ 29 Abs. 4 Nr. 1 WPflG (Urteile vom 17. Dezember 1970 - BVerwG 8 C
113.68 - BVerwGE 37, 62 <65 ff.> = Buchholz 448.0 § 29 WPflG Nr. 3 S. 2 ff.
und vom 24. Juni 1971 - BVerwG 8 C 101.70 - Buchholz 448.0 § 12 WPflG
Nr. 55 S. 91).
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Von diesen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts, an denen es in sei-
nem Urteil vom 17. Oktober 1997 (a.a.O.) festgehalten hat, weicht das Urteil
des Verwaltungsgerichts nicht ab. Das Bundesverwaltungsgericht behandelt an
den vom Kläger in Bezug genommenen Stellen die Frage, ob beim Rechtsstreit
um die Rechtmäßigkeit eines Einberufungsbescheides ein Zurückstellungsan-
trag im entscheidungserheblichen Tatsachen- und Rechtszeitpunkt - nämlich
dem Zeitpunkt der Gestellung - vorliegen muss oder nicht, und verneint diese
Frage. Auch später geltend gemachte Zurückstellungsgründe müssen demnach
- bis zur Bestandskraft des Einberufungsbescheides - in die Rechtmäßigkeits-
überprüfung einbezogen werden. Zu dieser Frage hat das Urteil des Verwal-
tungsgerichts sich nicht verhalten, weil es um Zurückstellungsgründe ging, die
unstreitig vor dem Gestellungszeitpunkt bekannt und auch vorgebracht worden
waren. Das Verwaltungsgericht hat sie lediglich als im erheblichen Zeitpunkt
des 2. Januar 2001 nicht nachgewiesen angesehen und sie deshalb nicht als
Gründe für die Rechtswidrigkeit des streitgegenständlichen Einberufungsbe-
scheides einbezogen.
b) Für den Fall, dass die vorstehend behandelte Divergenzrüge nicht zum Er-
folg führt, macht der Kläger geltend, das verwaltungsgerichtliche Urteil weiche
in entscheidungserheblicher Weise von dem Beschluss des Bundesverwal-
tungsgerichts vom 28. November 1995 - BVerwG 8 B 104.95 - (Buchholz
Nr. 448.0 § 12 WPflG Nr. 189) ab. Darin werde im Hinblick auf § 12 WPflG der
Rechtssatz aufgestellt, das Tatsachengericht habe „bis zur Grenze der Zumut-
barkeit jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts zu versuchen, sofern dies
für die Entscheidung erforderlich“ sei. Eine Einschränkung für Tatsachen und
Beweismittel, die erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebracht
würden, sehe das Bundesverwaltungsgericht nicht vor. Daher weiche der
Rechtssatz des Verwaltungsgerichts, derartige Erkenntnismittel könnten nicht
berücksichtigt werden, von der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
ab. Diese Abweichung sei auch entscheidungserheblich.
Diese Rüge kann Erfolg haben, soweit man dem vorbezeichneten Beschluss
nicht lediglich die Wiedergabe des nach § 86 Abs. 1 VwGO geltenden Prozess-
rechts, sondern darüber hinaus Rechtssätze zur erschöpfenden gerichtlichen
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Sachverhaltsaufklärung in Zurückstellungsangelegenheiten entnimmt. Dies
kann aber wegen des Erfolgs der unter 3. behandelten Verfahrensrüge auf sich
beruhen.
2. Im Wege der Grundsatzrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) hält der Kläger drei
Fragen für grundsätzlich klärungsbedürftig. Eine dieser Fragen betrifft die Aus-
legung der Dritt-Brüder-Regelung in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG unter Be-
achtung erbrachter Dienstleistungen der älteren Brüder (a), die andere betrifft
die verfassungsrechtlich gebotene Auslegung der Dritt-Brüder-Regelung (b),
und in einer weiteren geht es um Zeitpunktfragen für das Vorbringen von Zu-
rückstellungsgründen nach § 12 WPflG (c). Alle diese Fragen verleihen dem
Rechtsstreit keine grundsätzliche Bedeutung.
a) Der Kläger hält die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig, ob bei der Aus-
legung des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG auch Brüder zu berücksichtigen
sind, die aufgrund von Verschulden der Bundeswehr ihren Wehrdienst nicht voll
ableisten konnten. Insbesondere hält er für klärungsbedürftig, ob in diesem Zu-
sammenhang § 162 Abs. 1 BGB analog zur Anwendung kommt.
Die aufgeworfene Frage ist höchstrichterlich bereits überwiegend geklärt und im
Übrigen auch ohne Revisionsverfahren zu beantworten. Im hier maßgeblichen
Zeitpunkt, dem Gestellungstermin 2. Januar 2001, galt § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
des Wehrpflichtgesetzes vom 15. Dezember 1995 (BGBl I S. 1756), zuletzt ge-
ändert durch Art. 6 Abs. 7 des Gesetzes zur Neuordnung des Zivilschutzes (Zi-
vilschutzneuordnungsgesetz - ZSNeuOG) vom 25. März 1997 (BGBl I S. 726).
Danach waren auf Antrag Wehrpflichtige vom Wehrdienst zu befreien, deren
zwei Brüder Grundwehrdienst von der in § 5 Abs. 1 bestimmten Dauer, Zivil-
dienst von der in § 24 Abs. 2 des Zivildienstgesetzes bestimmten Dauer oder
deren zwei Geschwister Wehrdienst von höchstens zwei Jahren Dauer als Sol-
daten auf Zeit geleistet hatten.
Der Grundsatzrüge steht vorliegend nicht der Umstand entgegen, dass die Dritt-
Brüder-Regelung in § 11 Abs. 2 WPflG später (vgl. Bekanntmachung der
Neufassung des Wehrpflichtgesetzes vom 30. Mai 2005, BGBl I S. 1465) eine
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andere textliche Fassung als jene erhalten hat, auf welche sich die Entschei-
dung des Verwaltungsgerichts stützt. Ausnahmsweise kann nämlich eine Frage,
die sich auf ausgelaufenes Recht bezieht, grundsätzliche Bedeutung haben,
wenn sich bei den gesetzlichen Bestimmungen, die den außer Kraft getretenen
Vorschriften nachgefolgt sind, die als rechtsgrundsätzlich aufgeworfene Frage
in gleicher Weise stellt. In einem solchen Fall ist trotz des Außerkrafttretens des
alten Rechts eine richtungsweisende Klärung zu erwarten, wie die neue
Vorschrift anzuwenden ist (vgl. Beschluss vom 20. Dezember 1995 - BVerwG 6
B 35.95 - Buchholz 310 § 132 Abs. 2 Ziff. 1 VwGO Nr. 9 S. 12 f. m.w.N.). Die
vom Kläger aufgeworfene Frage stellt sich nach dem neuen Recht in § 11
Abs. 2 Nr. 2 Buchst. a und b WPflG n.F. in gleicher Weise wie bei § 11 Abs. 2
Satz 1 Nr. 3 WPflG a.F. und ist deshalb der Grundsatzrüge zugänglich.
Es ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts geklärt, dass die
Tatbestandsvoraussetzung der Dritt-Brüder-Regelung eine Erfüllung des Wehr-
dienstes durch den ersten und zweiten Bruder in genau dem gesetzlich be-
stimmten Umfang erfordert. Diesen Zeitraum hat ein Bruder des Klägers wegen
frühzeitiger Entlassung unterschritten. Dass dieser seinerzeit aus von ihm nicht
zu vertretenden Gründen vorzeitig entlassen wurde, kann nicht dazu führen,
dass der Kläger entgegen dem eindeutigen Wortlaut des § 11 Abs. 2 Satz 1
Nr. 3 WPflG a.F. begünstigt wird (vgl. Beschlüsse vom 1. Juni 1995 - BVerwG
8 B 27.95 - Buchholz 448.0 § 11 WPflG Nr. 37 und vom 2. Juni 2000 - BVerwG
6 B 29.00 - Buchholz 448.0 § 11 WPflG Nr. 42 S. 5). Dies ist entgegen dem
Beschwerdevorbringen auch nicht im Licht einer Analogie zu § 162 Abs. 1 BGB
anders zu sehen. Nach § 162 Abs. 1 BGB gilt eine Bedingung nicht als einge-
treten, wenn der Eintritt der Bedingung von der Partei, zu deren Vorteil er ge-
reicht, wider Treu und Glauben herbeigeführt wird. Raum für eine Analogie ist
nicht vorhanden, weil kein Anhaltspunkt für eine planwidrige Lücke im Gesetz
zu erkennen ist. Der Gesetzgeber macht die Erteilung des in der Dritt-Brüder-
Regelung liegenden Privilegs davon abhängig, dass die beiden ersten Brüder
den Grundwehrdienst im gesetzlich vorgeschriebenen Umfang voll geleistet
haben. Wird dieses Erfordernis nicht erfüllt, greift die Privilegierung nicht ein.
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Im Übrigen ist in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts aner-
kannt, dass der Rechtsgedanke des § 162 Abs. 1 BGB auch im Rahmen wehr-
pflichtrechtlicher Beziehungen zur Anwendung kommen kann (vgl. Urteile vom
26. Januar 1990 - BVerwG 8 C 28.89 - Buchholz 448.0 § 13a WPflG Nr. 18
S. 3; vom 29. Juni 1990 - BVerwG 8 C 22.89 - BVerwGE 85, 213 <216 ff.> und
vom 26. März 2003 - BVerwG 6 C 24.02 - BVerwGE 118, 84 <89>). Daher mag
es nicht von vornherein ausgeschlossen sein, dass § 162 Abs. 1 BGB auch in
Bezug auf die Dritt-Brüder-Regelung Geltung erlangt. Das wäre dann keine
Analogie, sondern eine direkte Anwendung des Befreiungstatbestands, der im
Wege rechtlicher Fiktion als erfüllt zu betrachten wäre. Die Anwendung von
§ 162 Abs. 1 BGB scheitert im vorliegenden Fall aber jedenfalls daran, dass
eine mögliche Pflichtwidrigkeit der militärischen Vorgesetzten des Bruders E.
bei dessen Einsatz als Wehrpflichtiger sich nicht als treuwidriges Verhalten ge-
genüber dem Kläger darstellt. Eine Pflichtwidrigkeit, wie sie § 162 Abs. 1 BGB
verlangt, können die Vorgesetzten nur dem Bruder gegenüber begangen ha-
ben. Sie waren gehalten, diesen während des Wehrdienstes vor
Überforderungen zu schützen und zwar um dessen Gesundheit willen, nicht
aber, um seinen Bruder, den Kläger, in den Genuss des Befreiungstatbestands
zu bringen. Daher kann hier von einer treuwidrigen Vereitelung der Rechtsfol-
gen des § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG nicht die Rede sein. Der Verlust der
Wehrdienstbefreiung ist zufällige, reflexartige Nebenfolge eines etwaigen
Rechtsverstoßes innerhalb eines anderen Pflichtenkreises.
b) Der Kläger hält weiterhin die Frage für grundsätzlich klärungsbedürftig, wel-
che Anforderungen aus Verfassungsrecht, insbesondere aus Art. 3 Abs. 1 GG
i.V.m. Art. 12, Art. 12a, Art. 6 GG, an die Auslegung und Anwendung des § 11
Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG zu stellen seien. Dabei sei insbesondere zu klären,
ob der allgemeine Gleichheitssatz hier lediglich als Willkürverbot zu verstehen
sei oder, in Anlehnung an die sog. „neue Formel“ des Bundesverfassungsge-
richts, als strengerer Kontrollmaßstab, wonach Art und Schwere der gesetzli-
chen Differenzierung dem Gewicht der Unterschiede in den Lebenssachverhal-
ten Rechnung tragen müssen.
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Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Verhältnis
der Dritt-Brüder-Regelung zu den einschlägigen Grundrechten der Bundesver-
fassung in seiner Rechtsprechung bereits bestimmt. Danach ist geklärt, dass
die mit der Dritt-Brüder-Regelung angestrebte Familienentlastung verfassungs-
rechtlich nicht geboten ist. Sie erweitert vielmehr den Familienschutz über das
durch Art. 6 Abs. 1 GG geforderte Maß hinaus. Dass der Gesetzgeber den
Kreis der begünstigten Familien hätte weiter ziehen müssen, kann deswegen
nicht aus der Verfassung hergeleitet werden. Nach der ständigen Rechtspre-
chung belässt auch Art. 3 Abs. 1 GG dem Gesetzgeber eine weitgehende Ge-
staltungsfreiheit. Mit Blick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1
ist nicht zu prüfen, ob der Gesetzgeber die gerechteste und zweckmäßigste
Regelung getroffen hat, sondern allein, ob die äußeren Grenzen seiner Gestal-
tungsfreiheit gewahrt sind. Bei der Bestimmung des Personenkreises, auf den
eine gesetzliche Regelung Anwendung finden soll, steht dem Gesetzgeber im
Rahmen der Grundwerteentscheidung der Verfassung ein weiter Spielraum zu.
Dieser ist nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
namentlich bei einer rechtsgewährenden Regelung besonders weit. Eine derar-
tige Regelung stellt die in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG a.F. vorgesehene
Ausnahme von der grundsätzlich allen männlichen Bürgern der Bundesrepublik
Deutschland auferlegten allgemeinen Wehrpflicht dar (Beschluss vom
22. September 1999 - BVerwG 6 B 135.98 - Buchholz 448.0 § 11 WPflG
Nr. 41). In diesem Sinne verlangt es der Gleichbehandlungsgrundsatz auch im
Lichte der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht, die
bei der Familie des Klägers gegebene Konstellation in den Befreiungstatbe-
stand nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG a.F. einzubeziehen. Auch in ihrem
Fall hat die Leistung für die Allgemeinheit nicht denjenigen Umfang erreicht,
den der Gesetzgeber im Rahmen seines Gestaltungsspielraums als Vorausset-
zung für die Begünstigung der Wehrdienstbefreiung festlegen durfte. Zudem
kann in solchen Fällen die Familie auf die Beschädigtenversorgung nach Maß-
gabe der Bestimmungen des Soldatenversorgungsgesetzes verwiesen werden.
c) Für den Fall, dass er mit einer Abweichungsrüge keinen Erfolg hat, macht der
Kläger hilfsweise im Wege der Grundsatzrüge geltend, dass das verwal-
tungsgerichtliche Urteil die grundsätzlich bedeutsame Rechtsfrage aufwerfe, ob
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Tatsachen und Erkenntnismittel zur Stützung eines Zurückstellungsgrundes
nach § 12 WPflG erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebracht
werden können.
Diese für grundsätzlich klärungsbedürftig gehaltene Frage ist, ohne dass sie der
Klärung in einem Revisionsverfahren bedürfte, zu bejahen. Dass Tatsachen
und Erkenntnismittel zur Stützung eines Zurückstellungsgrundes nach § 12
WPflG auch erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebracht wer-
den können, ergibt sich für die in zulässiger Weise erst in diesem Verfahrens-
stadium vorgebrachten Zurückstellungsgründe (vgl. Urteil vom 13. Februar
1987 - BVerwG 8 C 128.84 - Buchholz 448.5 § 13 MustV Nr. 22 S. 4) von
selbst. Darüber hinaus gilt für Zurückstellungsgründe, die bereits früher vorge-
bracht worden sind, der prozessrechtliche Grundsatz der gerichtlichen Aufklä-
rungspflicht nach § 86 Abs. 1 VwGO, der auch solche Tatsachen und Erkennt-
nismittel zur Stützung eines Zurückstellungsgrundes nach § 12 WPflG betrifft,
die erstmals im verwaltungsgerichtlichen Verfahren vorgebracht werden kön-
nen.
3. Mit der Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 1 Nr. 3 VwGO) macht der Kläger geltend,
das Verwaltungsgericht habe in rechtswidriger Weise von der Erhebung der von
ihm angebotenen insgesamt sieben Beweise zu Umfang und Notwendigkeit
seiner Hilfs- und Pflegeleistungen abgesehen. Seine bereits im Wider-
spruchsverfahren vorgebrachten Verpflichtungen zur Betreuung und Pflege
seiner kranken und pflegebedürftigen Geschwister und seiner Nichte könnten
nach der Rechtsansicht des Verwaltungsgerichts einen Zurückstellungsgrund
nach § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 Buchst. a, § 12 Abs. 4 Satz 1 WPflG abgeben.
Dieser für entscheidungserheblich gehaltenen Frage sei das Verwaltungsgericht
aber nicht weiter nachgegangen, obwohl er mehrere Beweisangebote vorgelegt
habe, insbesondere auch die Abschrift einer Stellungnahme des Sozialamtes L.
vom 27. April 2001. Das Verwaltungsgericht habe damit § 86 Abs. 1 VwGO
verletzt. Die Notwendigkeit der Beweisaufnahme habe sich dem Verwal-
tungsgericht auch aufdrängen müssen, denn in seinem Beschluss vom
31. Januar 2001 über das einstweilige Rechtsschutzbegehren habe es fest-
gehalten, dass es die Sachlage nicht für vollständig aufgeklärt halte. An der
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gebotenen Aufklärung sei das Verwaltungsgericht auch nicht im Hinblick auf
den von ihm für maßgeblich erachteten Tatsachen- und Rechtszeitpunkt des
2. Januar 2001 gehindert gewesen. Die Ansicht sei prozessual unzutreffend, zu
diesem Zeitpunkt nicht bekannte Umstände dürften im verwaltungsgerichtlichen
Verfahren nicht mehr berücksichtigt werden. Damit verkenne das Verwaltungs-
gericht grundsätzlich die Bedeutung und die Reichweite des § 86 VwGO, der
eine umfassende Aufklärung von in der Vergangenheit liegenden Umständen
gebiete. Hätte es die erforderliche Beweisaufnahme durchgeführt, so hätte sich
auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung ergeben, dass die Einberufung des
Klägers eine familiäre Notlage und besondere Härte bedeutete. Diese Rüge ist
begründet.
Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO ist nur dann be-
zeichnet, wenn er sowohl in den ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als
auch in seiner rechtlichen Würdigung substantiiert dargetan wird (vgl. Be-
schluss vom 10. November 1992 - BVerwG 3 B 52.92 - Buchholz 303 § 314
ZPO Nr. 5; Weyreuther, Revisionszulassung und Nichtzulassungsbeschwerde
in der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte, 1971, Rn. 222 m.w.N.).
Hinsichtlich des von der Beschwerde behaupteten Verstoßes gegen den Amts-
ermittlungsgrundsatz (§ 86 Abs. 1 VwGO) muss dementsprechend substantiiert
dargelegt werden, hinsichtlich welcher tatsächlichen Umstände Aufklärungsbe-
darf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen Aufklä-
rungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tatsächli-
chen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachverhaltsaufklä-
rung voraussichtlich getroffen worden wären; weiterhin muss entweder darge-
legt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesonde-
re in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklä-
rung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass
sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwir-
ken von sich aus hätten aufdrängen müssen (vgl. Beschluss vom 6. März 1995
- BVerwG 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265).
Das Verwaltungsgericht geht - zutreffend - davon aus, dass der Einberufungs-
bescheid dann als rechtswidrig anzusehen ist, wenn dem Kläger ein Anspruch
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auf Zurückstellung vom Wehrdienst zustand (Urteil S. 9). Als einschlägigen Zu-
rückstellungsgrund zieht es § 12 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 WPflG in Betracht, wonach
ein Wehrpflichtiger auf Antrag zurückgestellt werden soll, wenn im Falle einer
Einberufung die Versorgung seiner Familie, hilfsbedürftiger Angehöriger oder
anderer hilfsbedürftiger Personen, für deren Lebensunterhalt er aus rechtlicher
oder sittlicher Verpflichtung aufzukommen hat, gefährdet würde (1. Alt.) oder
wenn im Falle seiner Einberufung für Verwandte ersten Grades besondere Not-
stände zu erwarten sind (2. Alt.). Ebenfalls zutreffend geht es für die Beurtei-
lung der Sach- und Rechtslage vom festgesetzten Gestellungszeitpunkt aus,
nämlich dem 2. Januar 2001. Zu Unrecht zieht es aus diesem Zeitpunktkriteri-
um aber den Schluss, dass damit auch der gerichtlichen Aufklärungspflicht
nach § 86 Abs. 1 VwGO eine zeitliche Grenze gesetzt sei. Dies verkennt die
Reichweite der dem Gericht aufgrund des Prozessrechts obliegenden Aufklä-
rungspflicht. Das Tatsachengericht hat alle ihm bis zum Abschluss der mündli-
chen Verhandlung zugänglich werdenden Erkenntnismittel einzubeziehen, um
den maßgeblichen Sachverhalt aufzuklären. Es muss grundsätzlich bis zur
Grenze der Zumutbarkeit jede mögliche Aufklärung des Sachverhalts versu-
chen, sofern dies für die Entscheidung erforderlich ist (Beschluss vom 28. No-
vember 1995 - BVerwG 8 B 104.95 - Buchholz 448.0 § 12 Nr. 189). Dass
- bezogen auf einen in der Vergangenheit liegenden maßgeblichen Tatsachen-
und Rechtszeitpunkt - erst zu einem späteren Zeitpunkt Erkenntnismittel zu-
gänglich werden, ändert nichts an der sich jedenfalls dann realisierenden Pflicht
des Gerichts aus § 86 Abs. 1 VwGO zu deren Heranziehung im Wege der Be-
weiserhebung.
Das Verwaltungsgericht musste demnach die näheren Umstände der familiären
Situation des Klägers aufklären, um abschließend über das Vorliegen eines
Zurückstellungsgrundes entscheiden zu können. Dies war umso mehr geboten,
als der Kläger eine an das Kreiswehrersatzamt Darmstadt gerichtete und dort
am 4. Mai 2001 eingegangene Stellungnahme einer Sozialarbeiterin der Stadt
L. vorgelegt hat, die zu dem Schluss kam: „Um das Familiensystem aufrechter-
halten zu können, ist Dietmar ein notwendiger Pfeiler.“
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In diesem Zusammenhang spielt es keine Rolle, dass aufgrund von Umständen
im Verantwortungsbereich des Klägers die Einverständniserklärung für die Er-
mittlung der familiären Situation durch den Kläger erst am 4. Januar 2001 vor-
gelegt worden ist. Dieser Umstand konnte das Verwaltungsgericht nicht daran
hindern, den entscheidungserheblichen Sachverhalt im Gestellungszeitpunkt
aufzuklären.
II
Der Senat macht im Interesse der Verfahrensbeschleunigung von der ihm nach
§ 133 Abs. 6 VwGO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, das angefochtene
Urteil aufzuheben und die Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entschei-
dung an das Verwaltungsgericht zurückzuverweisen. Das Verwaltungsgericht
wird im weiteren Verfahren das Vorliegen von Zurückstellungsgründen im Ge-
stellungszeitpunkt des 2. Januar 2001 zu prüfen haben. Dabei wird es auch zu
untersuchen haben, inwieweit die damals noch geltende Dreimonatsfrist nach
§ 20 WPflG a.F. zur Geltendmachung der Zurückstellungsgründe eingehalten
worden ist, die erst durch Art. 1 Nr. 26 des Gesetzes zur Neuausrichtung der
Bundeswehr (Bundeswehrneuausrichtungsgesetz - BwNeuAusrG) vom
20. Dezember 2001 (BGBl I S. 4013) aufgehoben wurde.
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Die Entscheidung über den Streitwert beruht auf § 52 Abs. 2 GKG.
Dr. Bardenhewer Büge Dr. Graulich
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Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Wehrrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquelle:
WPflG § 12
Stichworte:
Einberufungsbescheid; Zurückstellungsgründe; maßgeblicher Zeitpunkt; Aufklä-
rungspflicht.
Leitsatz:
Dass die im maßgeblichen Gestellungszeitpunkt vorliegenden Erkenntnisse für
die abschließende rechtliche Beurteilung eines Einberufungsbescheides noch
nicht hinreichten, berührt nicht die Pflicht des Verwaltungsgerichts, im nachfol-
genden Klageverfahren den entscheidungserheblichen Sachverhalt bezogen
auf jenen Zeitpunkt vollständig aufzuklären.
Beschluss des 6. Senats vom 2. Mai 2006 - BVerwG 6 B 53.05
I. VG Darmstadt vom 20.04.2005 - Az.: VG 1 E 41/01 (3) -