Urteil des BVerwG vom 09.09.2004

Europäische Kommission, Verordnung, Offenkundig, Verfahrensmangel

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 48.04
OVG 19 A 2115/01
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 9. September 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. H a h n und V o r m e i e r
beschlossen:
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Die Beschwerde des Beklagten gegen die Nichtzulassung der
Revision in dem Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das
Land Nordrhein-Westfalen vom 15. April 2004 wird zurückge-
wiesen.
Der Beklagte trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf einen Betrag in der Wertstufe 301 € bis 600 € festge-
setzt.
G r ü n d e :
1. Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
Nach § 132 Abs. 2 VwGO kann die Revision nur zugelassen werden, wenn die
Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Berufungsentscheidung von
einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der
obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht
und auf dieser Abweichung beruht oder ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird
und vorliegt, auf dem die Berufungsentscheidung beruhen kann. Wird wie hier die
Nichtzulassung der Revision mit der Beschwerde angefochten, muss in der Be-
schwerdebegründung die grundsätzliche Bedeutung dargelegt oder die Entschei-
dung, von der das Berufungsurteil abweicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet
werden (§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO). Die Prüfung des beschließenden Senats ist
demgemäß auf fristgerecht geltend gemachte Beschwerdegründe im Sinne des
§ 132 Abs. 2 VwGO beschränkt.
Die Beklagte hat nicht dargelegt, dass die allein geltend gemachte grundsätzliche
Bedeutung der Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gegeben ist.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die
Revisionsentscheidung erhebliche Frage des revisiblen Rechts aufwirft, die im Inte-
resse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts revisionsgerichtlicher Klärung be-
darf. Das Darlegungserfordernis des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt die Be-
zeichnung einer konkreten Rechtsfrage, die für die Revisionsentscheidung erheblich
sein wird, und einen Hinweis auf den Grund, der ihre Anerkennung als grundsätzlich
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bedeutsam rechtfertigen soll. Die Beschwerde muss daher erläutern, dass und inwie-
fern die Revisionsentscheidung zur Klärung einer bisher revisionsgerichtlich nicht
beantworteten fallübergreifenden Rechtsfrage führen kann. Daran fehlt es.
Die Beschwerdebegründung lässt die Formulierung einer fallübergreifenden Rechts-
frage vermissen. Sie setzt sich in der Art einer Revisionsbegründung mit den Grün-
den der angefochtenen Entscheidung auseinander und berücksichtigt damit nicht die
unterschiedlichen Anforderungen an die Begründung einer Beschwerde gegen die
Nichtzulassung der Revision einerseits und an eine Revisionsbegründung anderer-
seits.
Aber selbst wenn man der Beschwerdebegründung die Frage entnehmen könnte, ob
eine "Familienleistung" im Sinne des Art. 1 Buchstabe u), Ziffer i), Art. 4 Abs. 1 Buch-
stabe h) der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur An-
wendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien,
die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern - VO EWG 1408/71 - in der hier
anzuwendenden Fassung voraussetzt, dass "die konkrete Leistung ausschließlich
und spezifisch einen familiären Bezug haben muss" (Beschwerdebegründung S. 4),
kann sie nicht zur Zulassung der Grundsatzrevision führen.
Das Oberverwaltungsgericht hat die angeführten Verordnungsvorschriften nicht zur
Auslegung von nicht revisiblem Landesrecht herangezogen, sondern ausgeführt,
dass das (sekundäre) Gemeinschaftsrecht ihm entgegenstehendes Landesrecht ver-
drängt. Das europäische Gemeinschaftsrecht ist im Sinne des Revisions- und Revi-
sionszulassungsrechts wie Bundesrecht zu behandeln. Die dem Beklagten vor-
schwebende Frage könnte Gegenstand eines Revisionsverfahrens sein, weil auch
die Anwendung des Gemeinschaftsrechts gemäß § 137 Abs. 1 Nr. 1 VwGO durch
das Bundesverwaltungsgericht überprüft werden kann (vgl. Urteil vom 5. Juni 1986
- BVerwG 3 C 12.82 - BVerwGE 74, 241, 247). Die Darlegung der grundsätzlichen
Bedeutung der Rechtssache erfordert jedoch in derartigen Fällen die Erläuterung,
dass in dem erstrebten Revisionsverfahren voraussichtlich eine Vorabentscheidung
des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften gemäß Art. 234 Abs. 3 EG-
Vertrag einzuholen sein wird (vgl. Beschlüsse vom 22. Oktober 1986 - BVerwG 3 B
43.86 - Buchholz 310 § 132 VwGO Nr. 243 und vom 10. Oktober 1997 - BVerwG 6 B
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32.97 - Buchholz 422.2 Rundfunkrecht Nr. 29 = NVwZ-RR 1998, 752). Diese Vor-
aussetzung ist nicht erfüllt.
Die Zulassung der Revision zu dem Zweck, eine Entscheidung des Europäischen
Gerichtshofs herbeizuführen, kommt nicht in Betracht, weil die Beantwortung der von
dem Beklagten angesprochenen Frage derart offenkundig ist, dass für einen vernünf-
tigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982
- Rs. 283/81 - DVBl 1983, 267). Denn der Gerichtshof der Europäischen Gemein-
schaften hat bereits zweimal entschieden, dass Art. 4 VO 1408/71 zwar erfordert,
dass eine Leistung zum Ausgleich von Familienlasten gewährt wird, aber nicht aus-
schließt, dass eine Leistung eine "Doppelfunktion" hat (Urteile vom 16. Juli 1992
- Rs. C-78/91 - Slg. 1992, I-4839 Rn. 19 und vom 15. März 2001 - Rs. C-85/99 -
Slg. 2001, I-2261 Rn. 45). Das Oberverwaltungsgericht hat ausgeführt, dass die
Übernahme der Schülerfahrkosten nach nordrhein-westfälischem Landesrecht jeden-
falls auch den Zweck verfolgt, die Kosten des Unterhalts von Kindern zu verringern
und dass die Übernahme der Schülerfahrkosten nach dem Willen des Normgebers
jedenfalls auch dem Zweck dient, das Familienbudget zu entlasten. Von diesem Ver-
ständnis des Landesrechts müsste in einem Revisionsverfahren ausgegangen wer-
den. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Gemeinschaften ist danach offenkundig, dass die Leistungen nach § 7 des Gesetzes
über die Finanzierung der öffentlichen Schulen (Schulfinanzgesetz - SchFG) in der
Fassung der Bekanntmachung vom 17. April 1970 (GV. NRW. S. 223), zuletzt geän-
dert durch Gesetz vom 12. Mai 1998 (GV. NRW. S. 384 <385>), mit dieser jedenfalls
auch verfolgten Zweckbestimmung als Familienleistungen im Sinne der der Verord-
nung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 angesehen werden müssen.
Wenn die Europäische Kommission - Generaldirektion V - in ihrem undatierten
Schreiben an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin - Az. V/Ref 98/0373 - ausge-
führt hat, die Kommission sei der Ansicht, dass die Verordnung Nr. 1408/71 hier nicht
anwendbar sei, so muss sie von einem anderen Verständnis des Schulfinanzgeset-
zes ausgegangen sein als das Oberverwaltungsgericht. Dessen Verständnis des
nicht revisiblen Rechts bindet jedoch den beschließenden Senat.
Die der Beschwerdebegründung allein zu entnehmende Rechtsfrage ist daher ge-
klärt und kann nicht zur Zulassung der Revision führen.
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2. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung
des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf Art. 1 § 72 Nr. 1 KostRModG i.V.m.
§§ 14, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG a.F.
Bardenhewer
Hahn
Vormeier