Urteil des BVerwG vom 28.04.2010

Vorverfahren, Allergie, Begründungspflicht, Aufklärungspflicht

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 46.09
VG 2 K 1733/07.F(2)
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. April 2010
durch die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge,
Dr. Graulich und Dr. Möller
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Verwaltungsgerichts Frank-
furt am Main vom 19. Februar 2009 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 2 500 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die auf die Grundsatz- (1.) und Verfahrensrüge (2.) gestützte Beschwerde hat
keinen Erfolg.
1. Die Revision ist nicht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache
zuzulassen.
Die Grundsatzrüge setzt nach § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO die Formulierung ei-
ner bestimmten, höchstrichterlich noch ungeklärten und für die Revisionsent-
scheidung erheblichen Rechtsfrage des revisiblen Rechts voraus, der eine all-
gemeine, über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung zukommt. Dass die
durch die Beschwerde aufgeworfenen Fragen eine derartige Bedeutung haben,
kann dem Beschwerdevorbringen nicht entnommen werden.
a) Das Verwaltungsgericht hat für die Beurteilung der Notwendigkeit der Hinzu-
ziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren im Sinne des § 80 Abs. 2
VwVfG und im Wesentlichen auch für die Erstattungsfähigkeit der Kosten von in
Auftrag gegebenen Privatgutachten nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG auf eine
vom Standpunkt einer verständigen Partei in ihren persönlichen Verhältnissen
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aus vorzunehmende Würdigung der im jeweiligen Einzelfall gegebenen tatsäch-
lichen und rechtlichen Verhältnisse abgestellt und sich dabei auf die Rechtspre-
chung des beschließenden Senats berufen. Daran anknüpfend hält der Kläger
für grundsätzlich bedeutsam die Frage, „auf welche Merkmale es für die Ausfül-
lung der ‚jeweiligen tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse’ des Einzelfalls
und der ‚persönlichen Verhältnisse des Widerspruchsführers’ ankommt“, und
ferner die Frage, „ob ein Widerspruchsführer auch dann in der Lage ist, das
Verfahren zur Anfechtung eines Musterungsbescheides ohne sachkundige Hilfe
Dritter - eines Anwaltes und/oder eines medizinischen Gutachters - alleine zu
führen“.
Diese Fragestellungen rechtfertigen nicht die Revisionszulassung wegen grund-
sätzlicher Bedeutung. Denn die Beurteilungskriterien, die sich für das Merkmal
der Notwendigkeit sowohl im Hinblick auf die Hinzuziehung eines Bevollmäch-
tigten im Sinne des § 80 Abs. 2 VwVfG als auch hinsichtlich der Erstattungsfä-
higkeit von Aufwendungen im Sinne des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG in verallge-
meinerungsfähiger Weise aufstellen lassen, sind in der Rechtsprechung des
Bundesverwaltungsgerichts geklärt und bedürfen aus Anlass des zur Entschei-
dung stehenden Falles keiner Ergänzung oder Weiterentwicklung.
b) Danach ist gemäß § 80 Abs. 2 VwVfG bzw. § 162 Abs. 2 Satz 2 VwGO die
Erstattungsfähigkeit von Kosten eines Bevollmächtigten im Vorverfahren - an-
ders als die von Anwaltskosten im gerichtlichen Verfahren (§ 162 Abs. 2 Satz 1
VwGO) - nicht automatisch, sondern je nach Lage des Einzelfalls nur unter der
Voraussetzung der konkreten Notwendigkeit anzuerkennen. Die Notwendigkeit
der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren ist unter Würdigung
der jeweiligen Verhältnisse vom Standpunkt einer verständigen Partei aus zu
beurteilen. Maßgebend ist, ob sich ein vernünftiger Bürger mit gleichem Bil-
dungs- und Erfahrungsstand bei der gegebenen Sachlage eines Rechtsanwalts
oder sonstigen Bevollmächtigten bedient hätte. Notwendig ist die Hinzuziehung
eines Rechtsanwalts nur dann, wenn es der Partei nach ihren persönlichen
Verhältnissen und wegen der Schwierigkeiten der Sache nicht zuzumuten war,
das Vorverfahren selbst zu führen (Urteil vom 17. Dezember 2001 - BVerwG
6 C 19.01 - Buchholz 448.0 § 20b WPflG Nr. 3 S. 8; Beschlüsse vom 14. Januar
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1999 - BVerwG 6 B 118.98 - Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 42 S. 1, vom
21. August 2003 - BVerwG 6 B 26.03 - Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 51
S. 23 f., vom 25. Oktober 2006 - BVerwG 6 B 39.06 - juris Rn. 4, vom
1. Februar 2007 - BVerwG 6 B 85.06 - Buchholz 316 § 80 VwVfG Nr. 52 S. 1
und vom 1. Oktober 2009 - BVerwG 6 B 14.09 - juris Rn. 5). Die Besonderhei-
ten des Musterungsverfahrens gebieten keine andere Betrachtungsweise. Denn
bei der in diesem Verfahren zu treffenden Feststellung, ob der Wehrpflichtige in
gesundheitlicher Hinsicht den Anforderungen des Grundwehrdienstes zu ent-
sprechen vermag, handelt es sich ungeachtet aller im Detail schwierigen tat-
sächlichen und rechtlichen Abgrenzungskriterien nicht um eine Fragestellung
von schon im Ansatz besonderem Schwierigkeitsgrad (Beschluss vom 14. Ja-
nuar 1999 a.a.O. S. 2 f.).
Das Verwaltungsgericht hat diese Maßstäbe bei seiner Beurteilung, ob im kon-
kreten Fall die Hinzuziehung des Bevollmächtigten des Klägers notwendig war,
angewandt. Aus dem Beschwerdevorbringen ergibt sich nicht, inwieweit ein Re-
visionsverfahren zu einer weitergehenden Klärung der allgemeinen Frage der
Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren bei-
tragen könnte. Soweit sich die Beschwerde auf den zu § 109a Abs. 1 OWiG
ergangenen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Februar 1994
- 2 BvR 1883/93 - (NJW 1994, 1855 <1856>) und im Zusammenhang damit auf
die Notwendigkeit einer Berücksichtigung des gesetzlichen Zwecks der jeweili-
gen Kostennorm beruft, ist ihr entgegenzuhalten, dass die insoweit angespro-
chenen Kriterien im Rahmen der dargestellten Maßstäbe für eine Erstattungs-
fähigkeit von Rechtsanwaltskosten nach § 80 Abs. 2 VwVfG Berücksichtigung
finden können (vgl. Beschluss vom 14. Januar 1999 - BVerwG 6 B 118.98 - juris
Rn. 16, insoweit in Buchholz a.a.O. nicht abgedruckt). Die konkrete Anwendung
dieser Maßgaben ist eine Frage der Rechtsfindung im Einzelfall und entzieht
sich der grundsätzlichen Klärung.
c) Wie sich aus der gefestigten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts weiter ergibt, können zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung not-
wendig im Sinne desund deshalb erstattungsfähig
auch die Kosten eines in Auftrag gegebenen Privatgutachtens sein, wenn des-
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sen Einholung zur Vorbereitung des Verfahrens oder zur Erlangung der erfor-
derlichen Sachkunde geboten war. Die Frage, ob die Einholung eines ärztlichen
Privatgutachtens in diesem Sinne notwendig ist, hängt wiederum von den tat-
sächlichen Umständen des jeweiligen Einzelfalls ab und entzieht sich - generell
und so auch im Musterungsverfahren - einer rechtsgrundsätzlichen Beantwor-
tung (vgl. Beschlüsse vom 15. März 1994 - BVerwG 8 B 207.93 - Buchholz 316
§ 80 VwVfG Nr. 35, vom 3. April 1996 - BVerwG 8 B 158.95 - Buchholz 316
§ 80 VwVfG Nr. 37 und vom 14. Januar 1999 a.a.O. S. 3). Ein Revisionsverfah-
ren könnte auch insoweit zu keiner weiteren allgemeinen Klärung führen.
2. Schließlich bleiben auch die mit der Beschwerde geltend gemachten beiden
Verfahrensrügen (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ohne Erfolg (a) und b)).
a) Die Beschwerde rügt zu Unrecht, das angefochtene Urteil sei nicht in sich
nachvollziehbar und widerspruchsfrei begründet.
Die Begründungspflicht des § 108 Abs. 1 Satz 2 VwGO verlangt, dass in den
Urteilsgründen die tatsächlichen Umstände und rechtlichen Erwägungen wie-
dergegeben werden, die das Gericht bestimmt haben, die Voraussetzungen für
seine Entscheidung als erfüllt anzusehen. Das Urteil muss erkennen lassen,
dass das Gericht den ermittelten Tatsachenstoff wertend gesichtet und in wel-
chen konkreten Bezug es ihn zu den angewandten Rechtsnormen gesetzt hat.
Dies setzt voraus, dass das Gericht zum einen seinen rechtlichen Prüfungs-
maßstab offenlegt und zum anderen in tatsächlicher Hinsicht angibt, von wel-
chem Sachverhalt es ausgeht und - sofern es den Tatsachenbehauptungen
eines Beteiligten widerspricht - warum es dessen Vortrag nicht folgt und auf
Grund welcher Erkenntnisse es eine ihm ungünstige Tatsachenlage als erwie-
sen ansieht. Aus den Entscheidungsgründen muss sowohl für die Beteiligten
als auch für das Rechtsmittelgericht nachvollziehbar sein, aus welchen Grün-
den des materiellen Rechts oder des Prozessrechts das Gericht dem Vortrag
eines Beteiligten, jedenfalls soweit es sich um einen zentralen Punkt seiner
Rechtsverfolgung handelt, nicht folgt. Die Begründungspflicht ist immer dann
verletzt, wenn die Entscheidungsgründe rational nicht nachvollziehbar, sachlich
inhaltslos oder sonstwie unbrauchbar sind (vgl. Beschlüsse vom 18. Oktober
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2006 - BVerwG- Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 66 S. 8, vom
30. Juni 2009 - BVerwG 9 B 23.09 - juris Rn. 3 und vom 22. Oktober 2009
- BVerwG 5 B 51.09 - juris Rn. 24). Ausgehend hiervon lässt das Beschwerde-
vorbringen eine Verletzung desnicht erkennen.
Der zunächst als wehrdienstfähig gemusterte Kläger wurde wegen einer im Wi-
derspruchsverfahren, in dem er sich von seinem Prozessbevollmächtigten ver-
treten ließ und mehrere fachärztliche Privatgutachten in Auftrag gab, erstmals
vorgetragenen Wespengiftallergie als nicht wehrdienstfähig eingestuft. Das Ver-
waltungsgericht hat hierzu den Standpunkt eingenommen, dass der Kläger
auch ohne rechtlichen Beistand und ohne Einholung von ärztlichen Privatgut-
achten in der Lage gewesen wäre, gegenüber der Musterungsbehörde vorzu-
bringen, dass sich bei ihm als Kind nach einem Insektenstich ausgeprägte an-
haltende Schwellungen entwickelt hätten, wie er es im Rahmen der von ihm
privat veranlassten fachärztlichen Untersuchung als Vorgeschichte angegeben
habe. Es sei nicht erkennbar, dass dann auf Grund einer behördlichen Nachun-
tersuchung nicht ebenfalls seine Wehrdienstuntauglichkeit festgestellt worden
wäre.
Die Beschwerde geht fehl, wenn sie die Begründung des erstinstanzlichen Ur-
teils sowohl für die Konstellation, dass das Verwaltungsgericht angenommen
habe, der Kläger habe die bei ihm aufgetretenen Schwellungen nach einem
Insektenstich nicht als Ausdruck einer Allergie erkennen können und auch tat-
sächlich nicht erkannt, als auch für den Fall der gegenteiligen Einschätzung des
Gerichts für widersprüchlich hält. Denn das Verwaltungsgericht hat sich weder
auf den einen noch auf den anderen Standpunkt gestellt, sondern die Frage, ob
der Kläger die ihm bekannten Symptome als Allergie habe deuten können, als
unerheblich erachtet. Es hat allein darauf abgestellt, ob der Kläger die Sympto-
me als solche hätte vortragen können.
Soweit die Beschwerde weitergehend geltend machen will, das Verwaltungsge-
richt habe angenommen, der Kläger habe bereits die rechtliche Relevanz seiner
gesundheitlichen Probleme infolge von Insektenstichen für den Ausgang des
Musterungsverfahrens nicht erkennen können, trifft auch dies nicht zu. Für un-
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erheblich hat das Verwaltungsgericht insoweit lediglich den Umstand gehalten,
ob der Kläger die mögliche Relevanz seiner gesundheitlichen Schwierigkeiten
erst durch den Rat seines Prozessbevollmächtigten tatsächlich erkannt habe.
Es hat sich aber nicht auf den Standpunkt gestellt, dass der Kläger nach seinen
persönlichen Verhältnissen diese Relevanz nicht selbst habe erkennen können.
Im Gegenteil ist das Gericht bei seiner Einschätzung, es komme nur darauf an,
dass der Kläger die ihm bekannte Vorgeschichte aus seiner Kindheit sowohl
ohne rechtlichen Beistand als auch ohne Einschaltung eines Privatgutachters
habe vortragen können, ersichtlich von der Annahme ausgegangen, dass ein
Wehrpflichtiger im Allgemeinen selbst um seine gesundheitlichen Leiden weiß
und ihm bewusst sein muss, dass es im Musterungsverfahren um die Feststel-
lung geht, ob er den Anforderungen des Grundwehrdienstes in gesundheitlicher
Hinsicht gewachsen ist (vgl. dazu allgemein: Beschluss vom 14. Januar 1999
a.a.O. S. 3; Urteil vom 17. Dezember 2001 a.a.O. S. 11).
b) Auch mit seiner Rüge, das Verwaltungsgericht habe seine sich aus § 86
Abs. 1 VwGO ergebende Aufklärungspflicht verletzt, kann der Kläger nicht
durchdringen.
Der Umfang, in dem das Tatsachengericht den Sachverhalt aufzuklären hat,
richtet sich nach seiner eigenen materiellrechtlichen Rechtsauffassung, die auf
die Verfahrensrüge hin nicht zu überprüfen ist. Die Rüge einer Verletzung der
Sachaufklärungspflicht ist deshalb nur begründet, wenn die Vorinstanz einen
Sachverhalt nicht aufgeklärt hat, auf den es von seiner materiellrechtlichen
Rechtsauffassung aus entscheidungserheblich ankam (Urteil vom 24. Oktober
1984 - BVerwG 6 C 49.84 - BVerwGE 70, 216 <221 f.> insoweit in Buchholz
448.6 § 14 KDVG Nr. 4 nicht abgedruckt; Beschluss vom 18. Dezember 2008
- BVerwG 6 B 70.08 - juris Rn. 10). Vor diesem Hintergrund liegt entgegen dem
Vorbringen der Beschwerde eine Verletzung der Aufklärungspflicht nicht darin,
dass das Verwaltungsgericht von einer Beweiserhebung über die Behauptung
des Klägers, dass „1. Personen mit allergischer Veranlagung gegebenenfalls
die Symptome einer Insektengiftallergie unterhalb der Schwelle zum anaphylak-
tischen Schock regelmäßig oder mindestens ganz überwiegend nicht als Aus-
druck einer Allergie erkennen und nicht erkennen können, und 2. auch der Klä-
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ger diese nicht als solche erkannt hat“, abgesehen hat. Denn nach der mate-
riellrechtlichen Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts kam es - wie bereits
dargelegt - für die Fragen der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Sinne
des § 80 Abs. 2 VwVfG und der Notwendigkeit der Aufwendungen für die Ein-
holung ärztlicher Privatgutachten im Sinne des § 80 Abs. 1 Satz 1 VwVfG nicht
darauf an, ob der Kläger sein Gesundheitsleiden als Allergie erkennen konnte
und erkannt hat, sondern darauf, ob er von sich aus dessen Symptome im Mus-
terungsverfahren hätte geltend machen können.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des
Streitwertes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52
Abs. 1 GKG und folgt der von den Beteiligten nicht in Frage gestellten Wertfest-
setzung in der ersten Instanz.
Büge
Dr. Graulich
Dr. Möller
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