Urteil des BVerwG vom 30.10.2002

Europäisches Gemeinschaftsrecht, DDR, Wehrpflicht, Gleichbehandlung

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BESCHLUSS
BVerwG 6 B 42.02
VG 23 A 16.01
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 30. Oktober 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht B ü g e und Dr. G r a u l i c h
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzu-
lassung der Revision in dem Urteil des Ver-
waltungsgerichts Berlin vom 26. Februar 2002
wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdever-
fahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das
Beschwerdeverfahren auf 4 000 € festgesetzt.
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G r ü n d e :
Die auf die Grundsatz- (1.) und Verfahrensrüge (2.) gestützte
Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
1. Die von der Beschwerde geltend gemachte grundsätzliche Be-
deutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) ist weder
hinsichtlich der Geltung und Auslegung von § 11 Abs. 2 Satz 1
Nr. 3 WPflG (a), noch hinsichtlich eines etwaigen Verstoßes ge-
gen Europäisches Gemeinschaftsrecht (b) gegeben, denn die auf-
geworfenen Fragen sind in der höchstrichterlichen Rechtspre-
chung geklärt.
a) Die Beschwerde ist der Ansicht, das Bundesverwaltungsgericht
habe sich zwar mit der Verfassungsmäßigkeit der sog. Dritt-
Brüder-Regelung in § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG bereits aus-
einander gesetzt, habe aber den Aspekt, dass Zeitsoldaten mit
der Mindestverpflichtungsdauer von drei Jahren in der ehemali-
gen DDR keine qualitativ oder quantitativ höherwertigen Vortei-
le gehabt hätten als Zeitsoldaten in der Bundesrepublik mit der
Mindestverpflichtungsdauer von zwei Jahren, unberücksichtigt
gelassen, so dass die Frage, ob die Norm aus diesem Grunde ver-
fassungswidrig sei, nach wie vor einer höchstrichterlichen Klä-
rung bedürfe.
Das Bundesverwaltungsgericht hat wiederholt entschieden, dass
es sich bei der sog. Dritt-Brüder-Regelung in § 11 Abs. 2
Satz 1 Nr. 3 WPflG um eine abschließende Regelung handelt, die
auch mit Blick auf die deutsche Vereinigung und die Situation
in den neuen Bundesländern keine im Wege der Analogie ausfül-
lungsbedürftige Lücke enthält und mit dem Gleichheitssatz ver-
einbar ist (Urteil vom 14. März 1997 - BVerwG 8 C 22.96 - Buch-
holz 448.0 § 11 WPflG Nr. 40; Beschluss vom 2. Juni 2000
- BVerwG 6 B 29.00 - Buchholz 448.0 § 11 WPflG Nr. 42). § 11
Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG ist eine zugleich typisierende und
differenzierende Regelung. Wenn der Gesetzgeber im Rahmen der
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sog. Dritt-Brüder-Regelung Grundwehrdienst und Zivildienst von
der jeweiligen gesetzlichen Dauer stets, Wehrdienst von Solda-
ten auf Zeit aber nur bei einer Höchstdauer von zwei Jahren be-
rücksichtigt wissen will, so bringt er damit zum Ausdruck, dass
er einen länger dauernden Wehrdienst bei dieser Soldatengruppe
nicht mehr ausschließlich als Dienst an der Gemeinschaft, son-
dern als am individuellen beruflichen Fortkommen orientierte
Tätigkeit wertet, welche eine familienpolitisch motivierte Pri-
vilegierung nicht gebietet (Beschluss vom 2. Juni 2000,
a.a.O.). Dies gilt auch für den aufgrund freiwilliger Ver-
pflichtung länger als zwei Jahre als Zeitsoldat geleisteten
Wehrdienst in der DDR. Auch wenn die kürzeste mögliche Ver-
pflichtungszeit in der NVA drei Jahre betragen hat, ändert das
nichts daran, dass eine Verpflichtung als Zeitsoldat in der DDR
berufliche und finanzielle Vorteile mit sich brachte, die den
nur Grundwehrdienst leistenden Wehrpflichtigen verschlossen wa-
ren (Urteil vom 14. März 1997, a.a.O.). Der Gesetzgeber hat
sich daher im Rahmen des ihm auch mit Blick auf Art. 3 Abs. 1
GG eingeräumten Gestaltungsspielraums dafür entschieden, bei
der "Dritt-Brüder-Regelung" in der Bundesrepublik und der DDR
geleisteten Wehrdienst gleich zu behandeln. Ein Bruder, der in
der Bundesrepublik länger als zwei Jahre als Soldat auf Zeit
Wehrdienst geleistet hat, bleibt im Rahmen von § 11 Abs. 2
Satz 1 Nr. 3 WPflG ebenso unberücksichtigt wie ein Bruder, der
in der DDR länger als zwei Jahre Soldat auf Zeit war. Dies be-
deutet freilich, dass die auf Zeitsoldaten bezogene Variante
der Regelung bei Geschwistern, die in der DDR Wehrdienst ge-
leistet haben, wegen der Mindestverpflichtungsdauer von drei
Jahren nicht zum Tragen kommt. Die Erwägung des Gesetzgebers
ging ersichtlich dahin, dass eine freiwillige Dienstverpflich-
tung bei einer verhältnismäßig kurzen Dauer von nicht mehr als
zwei Jahren eine noch starke Affinität zur staatsbürgerlichen
Belastung mit dem Grundwehrdienst beinhaltet, während bei frei-
willigen Verpflichtungen von längerer Dauer - seien sie in der
DDR oder in der Bundesrepublik erfolgt - das berufliche Fort-
kommen im Vordergrund stand. Diese Bewertung des Gesetzgebers
ist mit Rücksicht auf dessen Einschätzungsprärogative auch dann
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als sachlich gerechtfertigt hinzunehmen, wenn eine andere, den
Besonderheiten im Beitrittsgebiet eher entgegenkommende Beur-
teilung ebenfalls vertretbar gewesen wäre.
b) Die Beschwerde hält ferner für grundsätzlich klärungsbedürf-
tig, ob die einseitig zu Lasten von Männern bestehende Wehr-
pflicht nicht gegen die Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirkli-
chung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und
Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufs-
bildung und zum beruflichen Aufstieg sowie in Bezug auf die Ar-
beitsbedingungen vom 9. Februar 1976 (ABl EG Nr. L 39 S. 40)
verstoße. Auch diese Frage kann die Zulassung der Revision we-
gen grundsätzlicher Bedeutung des Rechtsstreits nicht rechtfer-
tigen.
Der Senat hat bereits in seinem Urteil vom 10. November 1999
- BVerwG 6 C 30.98 - (BVerwGE 110, 40, 57) unter Bezugnahme auf
das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 26. Oktober 1999
- Rs. C-273/97 - (NJW 2000, 499) festgestellt, dass Fragen der
Wehrpflicht nicht dem Anwendungsbereich des Europäischen Ge-
meinschaftsrechts und damit auch nicht demjenigen der Richtli-
nie 76/207/EWG unterfallen. Zur Begründung hat er ausgeführt,
dass das Gemeinschaftsrecht zwar Frauen auf ihren Wunsch den
Zugang zur Beschäftigung in den Streitkräften eröffne, weil in
derartigen Fällen wegen ihrer wirtschaftlich-sozialen Aspekte
die klassischen Regelungsmaterien des Gemeinschaftsrechts be-
rührt seien, dass es aber in Fragen der Wehrpflicht an einem
solchen die Regelungsbefugnis der Gemeinschaft begründenden
rechtlichen Bezug fehle. Der Rechtsauffassung des Senats liegt
mithin die Erwägung zugrunde, dass die allgemeine Wehrpflicht
als staatsbürgerliche Pflicht in einem thematischen Gegensatz
zu dem im Gemeinschaftsrecht geregelten Zugang zur Beschäfti-
gung steht und dass sie daher - auch in Anbetracht des Umstan-
des, dass öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse grundsätz-
lich in den Anwendungsbereich der Richtlinie 76/207/EWG einbe-
zogen sind - kein Beschäftigungsverhältnis im Sinne der Richt-
linie darstellen oder begründen kann. Der Kläger setzt sich mit
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der Rechtsauffassung des Senats nicht auseinander und legt ins-
besondere nicht dar, dass und aus welchen Gründen die aus-
schließlich Männer betreffende Wehrpflicht gleichwohl mit der
Richtlinie unvereinbar sein soll. Ein über die vorliegende
Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hinausweisender
Bedarf nach grundsätzlicher Klärung der Rechtslage ist daher
nicht ersichtlich.
2. Die Beschwerde bleibt auch hinsichtlich des gerügten Verfah-
rensverstoßes (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO) ohne Erfolg. Sie rügt,
das Verwaltungsgericht sei im Tatsächlichen davon ausgegangen,
dass ein Zeitsoldat der NVA mit einer Mindestverpflichtungsdau-
er von drei Jahren erhebliche Vorteile gehabt habe. Es habe
weiterhin angenommen, dass einem Zeitsoldaten der Bundeswehr
mit einer zweijährigen Dienstzeit keine entsprechenden Vorteile
erwachsen seien. Diese unrichtigen Annahmen des Verwaltungsge-
richts seien durch keinerlei tatsächliche Erhebungen untermau-
ert. Es liege insoweit ein Verstoß gegen die Amtsermitt-
lungspflicht des § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO vor.
Dem kann nicht gefolgt werden. Die Amtsermittlungspflicht ist
abhängig von dem angewandten materiellen Recht. Das Verwal-
tungsgericht hat zur Auslegung von § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
WPflG eine Rechtsauffassung vertreten, zu welcher das Bundes-
verwaltungsgericht - wie bereits voranstehend zitiert - ausge-
führt hat, die Nichtberücksichtigung von Dienstzeiten oberhalb
von zwei Jahren im Rahmen der sog. Dritt-Brüder-Regelung bringe
zum Ausdruck, dass ein länger dauernder Wehrdienst vom Gesetz-
geber nicht mehr ausschließlich als Dienst an der Gemeinschaft,
sondern als am individuellen beruflichen Fortkommen orientierte
Tätigkeit gewertet werde, welche eine familienpolitisch moti-
vierte Privilegierung nicht gebiete (Beschluss vom 2. Juni
2000, a.a.O.). Bei Anwendung dieser Rechtsauffassung kam es auf
die von der Beschwerde verlangte Tatsachenaufklärung nicht an.
Der Kläger übersieht in diesem Zusammenhang den Unterschied
zwischen Tatsachenfeststellungen des Gerichts bei der Rechtsan-
wendung und Tatsachenbewertungen des Gesetzgebers bei der Norm-
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gebung. Hier geht es um Letzteres. Insoweit musste sich dem
Verwaltungsgericht eine Sachaufklärung schon deswegen nicht
aufdrängen, weil die Plausibilität der Bewertung des Gesetzge-
bers mit Rücksicht auf dessen Einschätzungsprärogative in der
zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nicht in
Zweifel gezogen worden war.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die
Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht
auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.
Bardenhewer Büge Graulich
Sachgebiet:
BVerwGE: nein
Wehrpflichtrecht
Fachpresse: ja
Rechtsquellen:
Richtlinie 76/207/EWG
GG Art. 3 Abs. 2, Abs. 3
WPflG § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3
VwGO § 132 Abs. 2 Nr. 1, Nr. 3
Stichworte:
Wehrdienst; Befreiung; Dritt-Brüder-Regelung; Zeitsoldat; frei-
willig verlängerter Wehrdienst; Gleichbehandlung.
Leitsätze:
Die "Dritt-Brüder-Regelung" nach § 11 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 WPflG
verstößt auch mit Blick darauf nicht gegen den Gleichheitssatz,
dass Soldaten auf Zeit in der ehemaligen NVA sich auf mindes-
tens drei Jahre zum Wehrdienst verpflichten mussten.
Zur Vereinbarkeit der ausschließlich Männer betreffenden Wehr-
pflicht mit der Richtlinie 76/207/EWG zur Verwirklichung des
Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen.
Beschluss des 6. Senats vom 30. Oktober 2002 - BVerwG 6 B 42.02
I. VG Berlin vom 26.02.2002 - Az.: VG 23 A 16.01 -