Urteil des BVerwG vom 13.08.2007

Rechtliches Gehör, Prüfungsordnung, Rüge, Verfahrensmangel

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 36.07
OVG 3 Bf 64/04
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. August 2007
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Hahn und Dr. Graulich
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Hamburgischen Oberver-
waltungsgerichts vom 3. April 2007 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 5 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
1. Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg.
Nach § 132 Abs. 2 VwGO kann die Revision nur zugelassen werden, wenn die
Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Berufungsentscheidung
von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen
Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsge-
richts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein Verfahrensmangel
geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die Berufungsentscheidung beru-
hen kann. Wird wie hier die Nichtzulassung der Revision mit der Beschwerde
angefochten, muss in der Beschwerdebegründung die grundsätzliche Bedeu-
tung dargelegt oder die Entscheidung, von der die Berufungsentscheidung ab-
weicht, oder der Verfahrensmangel bezeichnet werden (§ 133 Abs. 3 Satz 3
VwGO). Die Prüfung des beschließenden Senats ist demgemäß auf fristgerecht
geltend gemachte Beschwerdegründe im Sinne des § 132 Abs. 2 VwGO be-
schränkt.
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Der Kläger macht allein den Revisionszulassungsgrund des § 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO geltend. Wegen eines Verfahrensmangels kann die Revision nur zuge-
lassen werden, wenn ein Mangel geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem
die Entscheidung beruhen kann. Ein solcher Mangel ist nur dann im Sinne des
§ 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO hinreichend bezeichnet, wenn er sowohl in Bezug
auf die ihn (vermeintlich) begründenden Tatsachen als auch in seiner rechtli-
chen Würdigung substantiiert dargetan wird (Beschluss vom 19. August 1997
- BVerwG 7 B 261.97 - Buchholz 310 § 133 VwGO Nr. 26). Diese Anfor-
derungen sind hier nicht erfüllt.
a) Die Darlegung des Verfahrensmangels ungenügender Sachaufklärung (§ 86
Abs. 1 VwGO) erfordert die substantiierte Erklärung, hinsichtlich welcher tat-
sächlicher Umstände nach der Rechtsauffassung des Berufungsgerichts Auf-
klärungsbedarf bestanden hat, welche für geeignet und erforderlich gehaltenen
Aufklärungsmaßnahmen hierfür in Betracht gekommen wären und welche tat-
sächlichen Feststellungen bei Durchführung der unterbliebenen Sachver-
haltsaufklärung voraussichtlich getroffen worden wären; weiterhin muss darge-
legt werden, dass bereits im Verfahren vor dem Tatsachengericht, insbesonde-
re in der mündlichen Verhandlung, auf die Vornahme der Sachverhaltsaufklä-
rung, deren Unterbleiben nunmehr gerügt wird, hingewirkt worden ist oder dass
sich dem Gericht die bezeichneten Ermittlungen auch ohne ein solches Hinwir-
ken von sich aus hätten aufdrängen müssen (stRspr, z.B. Beschluss vom
6. März 1995 - BVerwG 6 B 81.94 - Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 265).
aa) Mit der Rüge, das Berufungsgericht habe die seiner Entscheidung zu Grun-
de liegenden rechtlichen Grundsätze nicht konsequent angewandt, kann der
Verfahrensfehler ungenügender Sachaufklärung nicht begründet werden. Darin
läge, wenn der Vorhalt zutreffend wäre, kein Fehler in dem Verfahren zur Ent-
scheidung, sondern ein Mangel in der Entscheidung selbst.
bb) Der Kläger hält dem Berufungsgericht vor, es habe keine Feststellungen
dazu getroffen, dass Mitte der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts,
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als der Kläger seine Diplomarbeit eingereicht habe, in der Fachrichtung Ma-
schinenbau noch nicht das „Systemdenken“ gegolten habe, das die interdiszi-
plinäre Arbeitsweise von Ingenieuren für Betriebstechnik kennzeichne. Diese
Rüge bezieht sich auf den auf Seite 21 unten des Berufungsurteils beginnenden
Satz mit dem Wortlaut: „Zwar mag es richtig sein, dass im Studiengang
Maschinenbau heutzutage das Systemdenken ebenfalls eine gewichtige Rolle
spielt, jedoch war dies Mitte der 90er-Jahre, als der Kläger seine Diplomarbeit
anfertigte, noch nicht der Fall“. Die entsprechende Passage des angefochtenen
Urteils (S. 21 unten, S. 22 oben) steht im Zusammenhang mit dem Vergleich
der Anforderungen an Diplomarbeiten im Fachbereich Anlagenbau einerseits
und Maschinenbau andererseits. Dabei werden die Anforderungen der Prü-
fungsordnungen miteinander verglichen, und es wird festgestellt, dass lediglich
die Prüfungsordnung für die Prüfung im Studiengang Anlagenbetriebstechnik
die Einordnung in fächerübergreifende Zusammenhänge verlangte, während die
Prüfungsordnung für die Prüfung im Studiengang Maschinentechnik keine
entsprechende Anforderung enthielt. In diesem Zusammenhang werden die
Prüfungsordnungen für die staatliche Zwischen- und Diplomprüfung im Stu-
diengang Anlagenbetriebstechnik und im Studiengang Maschinenbau darauf
überprüft, welche Anforderungen sie an die Diplomarbeit stellten. In diesem
Kontext ist der angeführte Satz dahin zu verstehen, dass in der Prüfungsord-
nung für Maschinenbau Mitte der neunziger Jahre „eine gewichtige Rolle des
Systemdenkens“ noch nicht die Anforderungen prägend zum Ausdruck kam.
Die Ausführungen des Oberverwaltungsgerichts liegen danach in diesem Zu-
sammenhang auf der Ebene der Rechtsfindung, nicht der Tatsachenfeststel-
lung. Es handelt sich lediglich um eine Feststellung der Inhalte der betroffenen
Prüfungsordnungen.
cc) Der Kläger vermisst außerdem eine Aufklärung der „Frage, welche fächer-
übergreifende und berufsbezogene Aspekte in die Bewertung des Flensburger
Ausschusses eingeflossen sind und weshalb die gerügte unvertretbare Ein-
schätzung der Wirtschaftlichkeit des Anlagenbetriebs dort nicht zu einer stärke-
ren Abwertung geführt hat…“. Auf eine derartige Ermittlung kam es jedoch nach
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der in diesem Zusammenhang allein maßgebenden Rechtsauffassung des
Oberverwaltungsgerichts nicht an. Das Berufungsgericht hat die Auffassung
vertreten, dass es insoweit auf die Anforderungsprofile ankommt. Diese waren
aber normativ festgelegt. Die vom Kläger vermisste Aufklärung hätte mithin zur
Ermittlung des für die Beurteilung seiner Diplomarbeit maßgeblichen Anforde-
rungsprofils nichts beitragen können.
dd) Mit einer von dem angefochtenen Urteil abweichenden Einschätzung der
Sach- und Rechtslage kann ein Aufklärungsmangel nicht begründet werden.
b) Der Kläger macht geltend, das angefochtene Urteil stelle eine Überra-
schungsentscheidung dar und verstoße deshalb gegen § 86 Abs. 3 i.V.m. § 104
Abs. 1 VwGO.
Nach § 86 Abs. 3 VwGO hat der Vorsitzende darauf hinzuwirken, dass alle für
die Feststellung und Beurteilung des Sachverhalts wesentlichen Erklärungen
abgegeben werden. Die gerichtlichen Hinweise sollen zum einen dazu beitra-
gen, die Voraussetzungen für eine richtige, dem Gesetz entsprechende Sach-
entscheidung zu schaffen (vgl. BVerfGE 42, 64 <73> zu § 139 ZPO). Die Vor-
schrift soll darüber hinaus als eine verfahrensspezifische einfachgesetzliche
Konkretisierung des verfassungsrechtlichen Anspruchs auf rechtliches Gehör
Überraschungsentscheidungen vorbeugen (Beschluss vom 5. Juni 1998
- BVerwG 4 BN 20.98 - Buchholz 310 § 86 Abs. 3 VwGO Nr. 49 S. 5). Ein
Überraschungsurteil liegt vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten
rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entschei-
dung macht und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der nach dem
bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen war (Beschluss vom
25. Mai 2001 - BVerwG 4 B 81.00 - Buchholz 310 § 108 Abs. 2 VwGO Nr. 34
S. 20 f.). Die Hinweispflicht bezieht sich auf die tragenden („wesentlichen“) Er-
wägungen des Gerichts. Sie verlangt allerdings grundsätzlich nicht, dass das
Gericht die Beteiligten vorab auf seine Rechtsauffassung oder die beabsichtigte
Würdigung des Prozessstoffs hinweist, weil sich die tatsächliche und rechtliche
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Würdigung regelmäßig erst aufgrund der abschließenden Beratung ergibt (Be-
schluss vom 28. Dezember 1999 - BVerwG 9 B 467.99 - Buchholz 310 § 86
Abs. 3 VwGO Nr. 51 m.w.N.). So muss das Gericht die Beteiligten nicht vorab
darauf hinweisen, auf welche von mehreren Gesichtspunkten es seine Ent-
scheidung stützen und wie es sie im Einzelnen begründen werde (Beschluss
vom 30. Oktober 1987 - BVerwG 2 B 85.87 - Buchholz 310 § 104 VwGO Nr. 20
m.w.N.).
Nach diesen Grundsätzen kann von einer Überraschungsentscheidung nicht
gesprochen werden. Die vom Kläger angesprochene „unvertretbare Fehlein-
schätzung der Wirtschaftlichkeit des Anlagenbetriebs“ spielte im gesamten Ver-
fahren eine wesentliche Rolle. Sie wird in der Stellungnahme des Prof. Dr. V.
vom 7. September 2000 (GA 32 ff.) als gravierender Fehler herausgestellt und
in dem Gutachten des Prof. Dr. G. vom 6. Mai 2003 der Sache nach mit dem
Hinweis auf die Unvertretbarkeit der von dem Kläger angenommenen erzielba-
ren elektrischen Arbeit ebenfalls angesprochen (GA 82 ff.). In der mündlichen
Verhandlung, die immerhin - mit einer Unterbrechung von 25 Minuten - 3 Stun-
den und 15 Minuten in Anspruch genommen hat, sind ausweislich der Nieder-
schrift ebenfalls der betriebswirtschaftliche Anteil der Studiengänge und „ein
eminentes Versagen in Betriebswirtschaft und Thermodynamik“ in der Diplom-
arbeit des Klägers eingehend erörtert worden (Bl. 4 unten bis 6 des Protokolls).
Unter diesen Umständen ist der Vorwurf einer Überraschungsentscheidung
nicht berechtigt. Auf die Schlüsse, die das Gericht aus den erörterten Umstän-
den ziehen würde, brauchte und konnte vor der abschließenden Beratung nicht
hingewiesen zu werden.
Gemäß § 104 Abs. 1 VwGO hat der Vorsitzende die Streitsache mit den Betei-
ligten tatsächlich und rechtlich zu erörtern. Der Umfang der tatsächlichen und
rechtlichen Erörterungen ist nicht formell festgelegt, sondern an der jeweiligen
konkreten Sachlage auszurichten (Beschluss vom 16. Juni 2003 - BVerwG 7 B
106.02 - Buchholz 303 § 279 ZPO Nr. 1 = NVwZ 2003, 1132). Die Erörterungs-
pflicht nach § 104 Abs. 1 VwGO ist kein Selbstzweck, sondern soll verhindern,
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dass die Prozessparteien bei ihrer Argumentation und in ihrem Sachvortrag
wesentliche Gesichtspunkte übersehen und infolgedessen vor der Entschei-
dung nicht das ihnen zustehende rechtliche Gehör erhalten (vgl. Urteil vom
23. Mai 1989 - BVerwG 7 C 2.87 - Buchholz 11 Art. 4 GG Nr. 45 S. 8). Ange-
sichts der ausführlichen mündlichen Verhandlung und der umfangreichen Erör-
terung des Sach- und Streitstandes, wie sie in dem Protokoll über die mündli-
che Verhandlung am 3. April 2007 dokumentiert ist, geht auch die Rüge des
Verstoßes gegen § 104 Abs. 1 VwGO fehl.
2. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Fest-
setzung des Wertes des Streitgegenstandes beruht auf §§ 47, 52 Abs. 1 GKG.
Dr. Bardenhewer
Dr. Hahn
Dr. Graulich
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