Urteil des BVerwG vom 16.09.2014

Gerichtshof für Menschenrechte, Europäische Menschenrechtskonvention, Emrk, Egmr

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 31.14
OVG 4 KS 1/12
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 16. September 2014
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Möller und Hahn
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beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Urteil des Schleswig-Holsteinischen
Oberverwaltungsgerichts vom 26. Februar 2014 wird zu-
rückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 15 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
I
Der Kläger ist ein nicht eingetragener Verein. Er ist Teil der „Hells Angels“-
Bewegung. Durch Verfügung vom 18. Januar 2012 stellte das Innenministerium
des beklagten Landes Schleswig-Holstein fest, dass der Zweck und die Tätig-
keit des Klägers den Strafgesetzen zuwider liefen und der Kläger sich gegen
die verfassungsmäßige Ordnung richte. Der Kläger sei verboten und werde
aufgelöst. Ferner wurde dem Kläger jede Tätigkeit und die Bildung von Ersatz-
organisationen untersagt. Die Verbreitung und Verwendung seiner Kennzeichen
wurde verboten. Das Vermögen des Klägers sowie näher bezeichnete Sachen
Dritter wurden beschlagnahmt und eingezogen.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Verbotsverfügung vom 18. Januar 2012
aufgehoben, soweit in dieser festgestellt werde, dass sich der Kläger gegen die
verfassungsmäßige Ordnung richte. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen.
Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen sein Urteil nicht zugelas-
sen. Der Kläger erstrebt mit seiner Beschwerde die Zulassung der Revision.
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II
Die auf den Revisionszulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der
Rechtssache im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO gestützte Beschwerde hat
keinen Erfolg.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache nur zu, wenn für die an-
gefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine konkrete, fallübergreifende und
bislang höchstrichterlich ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen Rechts von Be-
deutung war, deren Klärung im Revisionsverfahren zu erwarten und zur Erhal-
tung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur Weiterentwicklung des
Rechts geboten ist. Aus den Darlegungen der Beschwerde ergibt sich nicht,
dass diese Voraussetzungen hier erfüllt sind.
Der Kläger möchte die folgende Frage geklärt wissen:
„Kommt der nach der Rechtsprechung des Europäischen
Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus Art. 11
Abs. 2 Satz 1 Europäische Menschenrechtskonvention
(EMRK) folgenden Beweislast der Verbotsbehörden be-
züglich der konkreten Geeignetheit eines Vereinsverbotes
bzw. des Nichtvorliegens milderer, gleich effektiver Maß-
nahmen eine für die tatbestandliche Feststellung der
Strafgesetzwidrigkeit oder die Eröffnung eines behördli-
chen Rechtsfolgeermessens eigenständige Bedeutung
unter Berücksichtigung der vom Bundesverfassungsge-
richt in ständiger Rechtsprechung aufgestellten Grundsät-
ze zur Rezeption der EMRK im bundesdeutschen Verfas-
sungsrecht zu?“
Der Kläger macht hierzu geltend, es sei bislang nicht ausreichend erörtert, in-
wieweit sich die auf Grundlage von Art. 11 EMRK durch den Europäischen Ge-
richtshof für Menschenrechte entwickelten Voraussetzungen für ein Vereinsver-
bot mit den in der nationalen Rechtsprechung etablierten Grundsätzen zur
Feststellung der Strafgesetzwidrigkeit eines Vereins im Sinne des Art. 9 Abs. 2
Alt. 1 GG vertrügen. Während nach der ständigen Rechtsprechung des Bun-
desverwaltungsgerichts Verhältnismäßigkeitserwägungen allein auf der Tatbe-
standsseite der Verbotsvorschriften stattfänden, führe der Europäische Ge-
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richtshof für Menschenrechte die Verhältnismäßigkeitskontrolle auch auf der
Rechtsfolgenseite durch. Dem komme Relevanz vor allem im Rahmen des von
dem Gerichtshof (der Kläger erwähnt vor allem: EGMR, Urteil vom 11. Oktober
2001 - Nr. 48848/07, Rhino u.a./Schweiz - HUDOC Rn. 62 ff. und am Rande:
EGMR, Urteil vom 29. April 1999 - Nr. 25088/94 u.a., Chassagnou u.a./
Frankreich - HUDOC Rn. 109 ff.) betonten Erfordernisses der Notwendigkeit
des Eingriffs in einer demokratischen Gesellschaft gemäß Art. 11 Abs. 2 Satz 1
EMRK in Bezug auf die Geeignetheit des Verbots und das von der Verbotsbe-
hörde zu beweisende Fehlen milderer Mittel zu. An einer Auseinandersetzung
mit diesen Erfordernissen fehle es im vorliegenden Fall.
Die beschriebene Frage hat keine grundsätzliche Bedeutung. Sie ist nicht klä-
rungsbedürftig, weil sich die Antwort ohne Weiteres aus dem Gesetz ergibt und
nicht erst in einem Revisionsverfahren gefunden werden muss.
Gemäß Art. 9 Abs. 2 GG sind Vereinigungen, deren Zwecke oder deren Tätig-
keit den Strafgesetzen zuwiderlaufen oder die sich gegen die verfassungsmä-
ßige Ordnung oder gegen den Gedanken der Völkerverständigung richten, ver-
boten. Mit dieser abschließenden Festlegung von Verbotsgründen beschränkt
Art. 9 Abs. 2 GG das kollektive Recht auf Fortbestand der Vereinigung und
setzt dem Grundrecht der Vereinigungsfreiheit von Verfassungs wegen eine
eigenständige Grenze. Die grundrechtliche Gewährleistung des Art. 9 GG ist
mithin dahin auszulegen, dass Absatz 1 die Vereinigungsfreiheit lediglich mit
der sich aus Absatz 2 ergebenden Einschränkung gewährleistet (BVerfG, Be-
schluss vom 15. Juni 1989 - 2 BvL 4/87 - BVerfGE 80, 244 <253>). Hieraus
folgt, dass im einzelnen Fall den Anforderungen des verfassungsrechtlichen
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nur bei der Prüfung Rechnung getragen
werden kann, ob die tatbestandlichen Voraussetzungen eines Verbotsgrunds
erfüllt sind, denn nach der Feststellung eines solchen Grunds ist nach der Re-
gelungsstruktur des Art. 9 Abs. 2 GG für eine Verhältnismäßigkeitsprüfung kein
Raum mehr. Die Feststellung eines Verbotsgrunds und die an diese anknüp-
fende Auflösung des betreffenden Vereins setzen deshalb die Berücksichtigung
sämtlicher Anforderungen des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Ver-
hältnismäßigkeit voraus (stRspr; zuletzt Urteil vom 14. Mai 2014 - BVerwG 6 A
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3.13 - juris Rn. 22, 70). Bei dem hier in Rede stehenden Verbotsgrund des
Art. 9 Abs. 2 Alt. 1 GG i.V.m. § 3 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 VereinsG bildet das Erfor-
dernis, dass ein unter dem Gesichtspunkt der Strafgesetzwidrigkeit relevantes
und dem Verein zuzurechnendes Verhalten einzelner Personen dessen Cha-
rakter prägen muss, den Ansatzpunkt für die Berücksichtigung der aus dem
Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ableitbaren Gebote (Urteile vom 5. August
2009 - BVerwG 6 A 3.08 - BVerwGE 134, 275 = Buchholz 402.45 VereinsG
Nr. 50 Rn. 16, 42 und vom 19. Dezember 2012 - BVerwG 6 A 6.11 - Buchholz
402.45 VereinsG Nr. 59 Rn. 50 f.; Beschluss vom 19. November 2013
- BVerwG 6 B 25.13 - juris Rn. 23).
In Fallgestaltungen, in denen ein Vereinsverbot im Sinne der von dem Kläger
bezeichneten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte (Urteil vom 11. Oktober 2011 a.a.O.) nicht geeignet oder nicht erforder-
lich ist, verbietet sich die Annahme einer strafgesetzwidrigen Prägung eines
Vereins. Demgegenüber ist eine derartige Prägung gegeben, wenn von dem
Verein als solchem eine Gefahr für strafrechtlich geschützte Rechtsgüter aus-
geht, der nur durch die Beendigung der Existenz des Vereins entgegengewirkt
werden kann.
Der Sachverhalt, der dem genannten Urteil des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte zu Grunde lag und von dem Gerichtshof in die erstgenannte
Fallgruppe eingeordnet worden ist, betraf die Einbindung eines Vereins in die
rechtswidrige Besetzung von leerstehenden Häusern. Dieser Sachverhalt ist mit
dem Fall des Klägers nicht vergleichbar. Dies ergibt sich zum einen aus den
tatsächlichen Feststellungen des Oberverwaltungsgerichts über die einzelnen
strafbaren Handlungen von Mitgliedern des Klägers bzw. eines seiner Sup-
porterclubs, gegen die der Kläger in der Begründung seiner Beschwerde keine
Verfahrensrügen erhebt; es folgt zum anderen aus den rechtlichen Erwägungen
der Vorinstanz zur Zurechnung dieser Straftaten gegenüber dem Kläger, die
dieser als solche nicht angreift (vgl. zu den tatsächlichen und rechtlichen Darle-
gungen des Oberverwaltungsgerichts: UA S. 47 ff.). In Anbetracht der Schwere
der in Rede stehenden Straftaten hat das Oberverwaltungsgericht den Fall des
Klägers nach den Maßstäben der zweiten der oben genannten Fallgruppen ent-
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schieden. Grundsätzlicher rechtlicher Klärungen bedarf es in diesem Zusam-
menhang nicht.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festset-
zung des Wertes des Streitgegenstands beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1 und
Abs. 3, § 52 Abs. 1 GKG.
Neumann
Dr. Möller
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