Urteil des BVerwG vom 17.06.2002

Akte, Gesundheitszustand, Rüge, Gutachter

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BESCHLUSS
BVerwG 6 B 30.02
VG 2 E 3271/00 (3)
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 17. Juni 2002
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundes-
verwaltungsgericht B ü g e und Dr. G r a u l i c h
beschlossen:
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzu-
lassung der Revision in dem Urteil des Verwal-
tungsgerichts Frankfurt am Main vom 9. Januar
2002 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdever-
fahrens.
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Der Wert des Streitgegenstandes wird für das
Beschwerdeverfahren auf 4 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die allein auf die Verfahrensrüge (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO)
gestützte Beschwerde ist unbegründet, und zwar sowohl hin-
sichtlich des geltend gemachten Aufklärungsmangels (1.), als
auch hinsichtlich des behaupteten Gehörsverstoßes (2.).
1. Der Kläger rügt, das schriftlich erstattete und in der
mündlichen Verhandlung ergänzte Gutachten des Sachverständigen
Dr. G. sei nicht stichhaltig. Das Verwaltungsgericht hätte da-
her von Amts wegen eine neue gutachterliche Stellungnahme zu
seinem, des Klägers, Gesundheitszustand einholen müssen. Dem-
gegenüber spielt es keine Rolle, dass sein Rechtsanwalt in der
mündlichen Verhandlung keinen entsprechenden Beweisantrag ge-
stellt habe. Aufgrund der konkreten Art und Weise der Erörte-
rung der Sach- und Rechtslage in der mündlichen Verhandlung
habe dieser sein prozessrechtliches Vorgehen eingerichtet und
auch ohne Stellung eines Beweisantrages mit einer anderen Ent-
scheidung des Gerichts rechnen dürfen.
Die Rüge greift nicht durch. Die Voraussetzungen für die Ein-
holung eines weiteren Sachverständigengutachtens über den Ge-
sundheitszustand des Klägers sowie seine Wehrtauglichkeit la-
gen im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht vor, so dass
das Urteil auf der Grundlage der vorhandenen Gutachten ergehen
konnte. Die Nichteinholung eines weiteren Gutachtens im Wehr-
heranziehungsverfahren ist in aller Regel nur dann verfahrens-
fehlerhaft, wenn das bereits vorliegende Gutachten auch für
den nicht Sachkundigen erkennbare Mängel aufweist, insbesonde-
re von unzutreffenden tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht
oder unlösbare Widersprüche aufweist, wenn Anlass zu Zweifeln
an der Sachkunde oder Unparteilichkeit des Sachverständigen
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besteht, wenn ein anderer Sachverständiger über bessere For-
schungsmittel verfügt oder wenn es sich um besonders schwieri-
ge (medizinische) Fragen handelt, die umstritten sind oder zu
denen einander widersprechende Gutachten vorliegen (BVerwG,
Urteil vom 6. Februar 1985 - BVerwG 8 C 15.84 - Buchholz 303
§ 414 ZPO Nr. 1 = BVerwGE 71, 38).
Das Verwaltungsgericht hat aufgrund des Beschlusses vom
5. Februar 2001 Beweis erhoben u.a. über die Frage, "welcher
Gradation der Fehlernummern 59 und 71 der zentralen Dienstvor-
schrift (ZdV) 46/1" die beim Kläger festgestellten Leiden zu-
geordnet werden können. Zweifel an der Richtigkeit des darauf-
hin von Dr. G. angefertigten Gutachtens ergeben sich nicht
aufgrund der Wiedergabe seiner Aussage über die wehrmedizini-
sche Beurteilung der beim Kläger festgestellten Fußformverän-
derung in der mündlichen Verhandlung, die sich annähernd iden-
tisch mit der Niederschrift über die Verhandlung (VG-Akte
S. 131), wie auch im Urteil (Urteil S. 6) findet. In der
schriftlichen Fassung seines Gutachtens hatte der Sachverstän-
dige beim Kläger "Knick-Senkfüße beidseits mit degenerativer
Veränderung des Talonaviculargelenks links" (VG-Akte Bl. 85)
festgestellt und dies nach der ZDv 46/1 als Fehler Nr. 71 mit
der Gradation III (VG-Akte Bl. 87) bewertet. Hinzu kam betref-
fend den Kniegelenkbereich die Feststellung eines Befundes
nach Fehlerziffer 59 mit der Gradation III. In der mündlichen
Verhandlung hat der Sachverständige "auf nochmaliges Befragen
des Gerichts erklärt ..., dass er nach wie vor dazu tendiere,
im Hinblick auf die Fußstellung des Klägers eine Einstufung in
die Gradationsziffer III vorzunehmen. Dass eine höhere Einstu-
fung nicht auszuschließen sei, dazu stehe er aber auch nach
wie vor". Das Verwaltungsgericht hat darin kein Abrücken von
einer früheren Aussage des Gutachtens, sonder nur den Ausdruck
des Vorbehalts einer besseren Erkenntnis gesehen (Urteil
S. 6).
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Diese Wertung ist nicht zu beanstanden. Ein wehrmedizinisches
Gutachten ist nicht schon deswegen widersprüchlich oder sonst
fehlerhaft, weil es im Grenzbereich zweier Gradationen die ei-
ne für gegen hält, aber zugleich zu Ausdruck bringt, dass die
Vergabe der anderen fachlich nicht völlig unvertretbar wäre.
Solche für den Sachverständigen im Tauglichkeitsrechtsstreit
nicht untypischen Abgrenzungsprobleme nötigen, auch wenn der
Gutachter sie offen legt, für sich allein noch nicht zur Ein-
holung eines Obergutachtens. Denn jeder weitere Gutachter
stünde vor demselben Problem. Den Darlegungen des Verwaltungs-
gerichts auf Seite 6 seines Urteils ist zu entnehmen, das es
weder dem Sachvortrag des Klägers noch dem sonstigen Aktenin-
halt Anhaltspunkte dafür entnommen hat, dass ein anderer Sach-
verständiger in der Lage gewesen wäre, zu eindeutigeren Aussa-
gen zu gelangen.
2. Der Kläger ist weiterhin der Auffassung, es handele sich
bei dem angefochtenen Urteil um ein Überraschungsurteil. Die-
ses liege darin, dass der streitentscheidende Einzelrichter,
nachdem er im Hinblick au die im Protokoll wiedergegebene Äu-
ßerung des Klägervertreters deutlich gemacht habe, dass er ei-
ne erneute Entscheidung der Beklagten für erforderlich halte,
dann im Urteil die Auffassung vertreten habe, dass die diffe-
renzierte Erläuterung des Gutachtens durch Dr. G. und seine
Aussagen auf die Fragen des Klägerbevollmächtigten in der
mündlichen Verhandlung gegenüber dem schriftlich erstatteten
Gutachten unerheblich seien. Darauf beruhe das Urteil.
Auch diese Rüge führt nicht zum Erfolg. Aufgrund der voranste-
henden Erörterung kann nicht davon ausgegangen werden, den
Ausführungen des Sachverständigen hätte zwingend diejenige Be-
deutung beigelegt werden müssen, welche ihnen die Klägerseite
verständlicherweise gerne beilegen möchte. Im Gegenteil konnte
der Kläger seine Befürchtungen eines für ihn nachteiligen Pro-
zessausganges durch keinesfalls als ausgeräumt ansehen.
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Etwas anderes kann auch nicht aus der dem Richter zugeschrie-
benen Einlassung folgen. Ausweislich des Sitzungsprotokolls
vom 9. Januar 2002 hat der Klägervertreter im Termin sinngemäß
die Rechtsauffassung geäußert, dass die Vergabe der Gradati-
on IV hinsichtlich der Fußfehlstellung wegen des dann verän-
derten gesundheitlichen Gesamtbildes zur Ausmusterung des Klä-
gers ungeachtet dessen führen könne, dass diese Gradation für
sich betrachtet nicht die Aussage "wehrdienstunfähig" beinhal-
te. Der Darstellung in der Beschwerdebegründung zufolge hat
das Gericht daraufhin zu erkennen gegeben, dass es "unter die-
sem Gesichtspunkt" der Auffassung der Klägerseite folgen kön-
ne. Demnach hätte von einer Überraschungsentscheidung allen-
falls dann gesprochen werden können, wenn das Verwaltungsge-
richt seinem klageabweisenden Urteil die Vergabe der Gradati-
on IV hinsichtlich der Fußfehlstellung zugrunde gelegt hätte.
Das hat es jedoch nicht getan. Vielmehr ist es zu dem Ergebnis
gelangt, dass der Sachverständige trotz der in der mündlichen
Erläuterung gemachten Einschränkung im Ergebnis an der Grada-
tion III festgehalten habe. Eine derartige Wertung des Ge-
richts durfte der anwaltlich vertretene Kläger aufgrund der in
der Beschwerdebegründung wiedergegebenen Mitteilung des Rich-
ters nicht für ausgeschlossen halten. Zur Vermeidung von Risi-
ken steht in solchen Situationen der anwaltlich vertretenen
Partei das Mittel des Beweisantrages zur Verfügung. Dieser
kann auch in einer für das Gericht beachtlichen Weise als
Hilfsantrag gestellt werden (BVerfG, Beschluss vom 20. Februar
1992 - 2 BvR 633/91 - NVwZ 1992, 659). Davon hat der Kläger
aber keinen Gebrauch gemacht.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die
Festsetzung des Streitwerts für das Beschwerdeverfahren beruht
auf § 14 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 13 Abs. 1 Satz 2 GKG.
Bardenhewer Büge Graulich