Urteil des BVerwG vom 03.09.2010

Anschlussberufung, Erlass, Studiengebühr, Hauptsache

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 29.10
OVG 3 L 169/08
In der Verwaltungsstreitsache
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hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 3. September 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Dr. Bier und Dr. Möller
beschlossen:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts des Landes
Sachsen-Anhalt vom 21. Oktober 2009 wird aufgehoben,
soweit die Anschlussberufung des Klägers als unzulässig
verworfen worden ist. Insoweit wird die Sache zur ander-
weitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberver-
waltungsgericht zurückverwiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde des Klägers gegen die
Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Gerichtsgebühren, die für die Zurück-
weisung der Beschwerde angefallen sind; im Übrigen ist
das Beschwerdeverfahren gerichtsgebührenfrei. Von den
sonstigen Kosten des Beschwerdeverfahrens trägt der
Kläger 2/3. Die Entscheidung über die restlichen Kosten
des Beschwerdeverfahrens folgt der Kostenentscheidung
in der Hauptsache.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren insgesamt auf 1 500 € und für den erfolglos
gebliebenen Teil der Beschwerde auf 1 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde, die sich auf die Zulassungsgründe der grundsätzlichen Be-
deutung, der Divergenz und - sinngemäß - des Verfahrensmangels stützt, ist
zulässig. In der Sache hat sie aber nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen
Umfang Erfolg.
1. Grundsätzlich bedeutsam im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO ist eine
Rechtssache nur, wenn für die angefochtene Entscheidung der Vorinstanz eine
konkrete, fallübergreifende und bislang ungeklärte Rechtsfrage des revisiblen
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Rechts von Bedeutung war, deren Klärung in einem Revisionsverfahren zu er-
warten ist und zur Erhaltung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder zur
Weiterentwicklung des Rechts geboten erscheint. Den Darlegungen der Be-
schwerde lässt sich nicht entnehmen, dass diese Voraussetzungen im vorlie-
genden Fall erfüllt sind.
Im Hinblick auf die von der beklagten Universität ab dem Sommersemester
2006 bis zum Ende des Studiums durch Dauerbescheid festgesetzte Langzeit-
studiengebühr will die Beschwerde geklärt wissen: „Konnte die Beklagte die
Gebühr wegen Überschreitung der Regelstudienzeit ohne gesonderte gesetzli-
che oder satzungsrechtliche Grundlage als Dauerverwaltungsakt erlassen?
Stellt sich der Dauerbescheid der Beklagten über die Erhebung der Gebühr
wegen Überschreitung der Regelstudienzeit als rechtswidrig dar, weil es an ei-
ner Ermächtigungsgrundlage für den in die Zukunft wirkenden Verwaltungsakt
fehlt?“ Damit zeigt sie keine klärungsbedürftige Frage des revisiblen Rechts auf.
Das Oberverwaltungsgericht hat angenommen, dass § 112 Abs. 1 des Hoch-
schulgesetzes des Landes Sachsen-Anhalt - HSG LSA - in der auf den Streitfall
anwendbaren Fassung vom 5. Mai 2004 (GVBl LSA S. 256) - zwar nicht aus-
drücklich zum Erlass eines Studiengebührenbescheides in der Form eines
Dauerbescheides ermächtige, eine solche Ermächtigung dem Gesetz aber un-
ter Berücksichtigung seines Zwecks und seiner Systematik im Wege der Ausle-
gung entnommen werden könne: Der Studiengebührenbescheid sei nach dem
einschlägigen Recht wesensmäßig auf Dauer angelegt, wie sich insbesondere
aus § 29 HSG LSA ergebe, der mit der Immatrikulation ein grundsätzlich unbe-
fristetes Rechts- und Pflichtenverhältnis zwischen Student und Hochschule be-
gründe, welches den Hintergrund (auch) für die Gebührenerhebung bilde. Ob
diese Auslegung des § 112 Abs. 1 HSG LSA in der Sache zutrifft oder nicht, ist
eine Frage des irrevisiblen Landesrechts, die sich der Beurteilung durch das
Revisionsgericht entzieht.
Von grundsätzlicher Bedeutung ist die vorgenannte Fragestellung auch nicht,
soweit sich der Beschwerde sinngemäß entnehmen lässt, dass sie die Ausle-
gung des Oberverwaltungsgerichts im Hinblick auf das bundesverfassungs-
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rechtliche Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie die Rechtsschutzga-
rantie (Art. 19 Abs. 4 GG) für fehlerhaft hält. Die Rüge der Nichtbeachtung von
Bundesrecht bei der Anwendung und Auslegung von Landesrecht vermag die
Zulassung der Revision nur dann zu begründen, wenn die Auslegung der
- gegenüber dem Landesrecht als korrigierender Maßstab angeführten - bun-
desrechtlichen Norm ihrerseits ungeklärte Fragen von grundsätzlicher Bedeu-
tung aufwirft. Das Darlegungsgebot des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO verlangt,
die angeblichen bundesrechtlichen Maßgaben, deren Tragweite und Klärungs-
bedürftigkeit im Hinblick auf die einschlägigen landesrechtlichen Regelungen
sowie die Entscheidungserheblichkeit ihrer Klärung in dem anhängigen Verfah-
ren in der Beschwerdebegründung im Einzelnen aufzuzeigen (stRspr, s. nur
Beschluss vom 17. März 2008 - BVerwG 6 B 7.08 - Buchholz 451.20 § 12
GewO Nr. 1 Rn. 9 m.w.N.). Daran fehlt es hier. Insbesondere ist offensichtlich
und bedarf nicht der Klärung in einem Revisionsverfahren, dass die in dem an-
gefochtenen Urteil erwähnten Regelungen der §§ 48, 49 und 51 VwVfG - na-
mentlich der Wiederaufgreifensanspruch bei Änderung der Sach- und Rechts-
lage (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG) - grundsätzlich geeignet sind, einen ausrei-
chenden Rechtsschutz gegenüber einem Dauerverwaltungsakt zu gewährleis-
ten.
2. Demgegenüber hat die Beschwerde Erfolg, soweit sich ihr in Bezug auf die
Verwerfung der Anschlussberufung des Klägers - gerichtet auf die Verpflichtung
der Beklagten zum Erlass der umstrittenen Studiengebühr für das Sommerse-
mester 2006 - sinngemäß die Rüge eines Verfahrensfehlers (§ 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO) entnehmen lässt, auf dem das angefochtene Urteil beruht. In der Ent-
scheidung durch Prozessurteil statt durch Sachurteil liegt ein Verfahrensman-
gel, wenn ihr eine fehlerhafte Anwendung der prozessualen Vorschriften
zugrunde liegt (s. nur Beschlüsse vom 4. Juli 1968 - BVerwG 8 B 110.67 -
BVerwGE 30, 111 <113> = Buchholz 448.0 § 34 WPflG Nr. 7 S. 6 und vom
24. Oktober 2006 - BVerwG 6 B 61.06 - Buchholz 310 § 113 Abs. 1 VwGO
Nr. 24 Rn. 2, jeweils m.w.N.).
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Die Beschwerde wendet sich zu Recht gegen die fehlerhafte Anwendung des
§ 127 VwGO über die Anschlussberufung. Das Oberverwaltungsgericht ist da-
von ausgegangen, dass die vom Kläger rechtzeitig innerhalb der Frist des § 127
Abs. 2 Satz 2 VwGO eingelegte Anschlussberufung gleichwohl unzulässig sei,
da das angefochtene Urteil insoweit mangels Zulassung der Berufung bereits
rechtskräftig sei. Dem ist nicht zu folgen. Zwar ist die Anschlussberufung, wie
das Oberverwaltungsgericht insoweit zu Recht ausführt, dann unstatthaft, wenn
derjenige Teil des Rechtsstreits, den der Anschlussberufungsführer im Wege
der Anschließung zum Gegenstand des Berufungsverfahrens machen will, vom
Berufungsgericht durch Ablehnung eines darauf gerichteten Zulas-
sungsantrages (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO) bereits rechtskräftig abgeschlos-
sen worden ist (vgl. Beschluss vom 14. November 2007 - BVerwG 4 B 30.07 -
Buchholz 310 § 127 VwGO Nr. 15 Rn. 4). Dem steht aber die hier vorliegende
Fallkonstellation, in der der in erster Instanz teilweise unterlegene Kläger keinen
Antrag auf Zulassung der Berufung gegen den klageabweisenden Teil des
erstinstanzlichen Urteils gestellt hat, entgegen der Auffassung des Oberverwal-
tungsgerichts nicht gleich.
Die Anschließung ermöglicht es dem zuvor „friedfertigen“ Berufungsbeklagten,
auch dann noch selbst in den Prozess einzugreifen, wenn er auf das Rechts-
mittel des Gegners mit einem selbstständigen eigenen Rechtsmittel wegen Ab-
laufs der Rechtsmittelfrist nicht mehr reagieren kann. Dies ergibt sich aus § 127
Abs. 4 VwGO, wonach die Anschlussberufung keiner Zulassung bedarf, und
zusätzlich aus dem Zweck der Norm; dieser verbindet den Gesichtspunkt der
Waffengleichheit mit dem der Prozesswirtschaftlichkeit und soll insbesondere
vermeiden, dass eine Partei, die sich mit dem erlassenen Urteil zufriedengeben
will, nur wegen eines erwarteten Rechtsmittelangriffs des Gegners vorsorglich
selbst Rechtsmittel einlegt(vgl. Urteile vom 11. April 2002 - BVerwG 4 C 4.01 -
BVerwGE 116, 169 <172 f.> = Buchholz 310 § 127 VwGO Nr. 11 S. 5 ff. und
vom 19. Januar 2006 - BVerwG 3 C 52.04 - BVerwGE 125, 44 Rn. 15 ff. =
Buchholz 451.90 Sonstiges Europ. Recht Nr. 206).Daraus folgt, dass der teils
obsiegende, teils unterlegene Beteiligte nach Zulassung der (Haupt-)Berufung
des anderen Beteiligten den ihn beschwerenden Teil des Urteils nachträglich
zur Überprüfung stellen kann, falls nur zwischen den mehreren, in demselben
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Prozess verfolgten Ansprüchen - wie hier in Bezug auf zeitabschnittsweise
festgesetzte Studiengebühren - ein sachlicher Zusammenhang besteht (s. Ur-
teile vom 11. April 2002 a.a.O. S. 174 bzw. S. 7 f. und vom 19. Januar 2006
a.a.O. Rn. 16).
Liegt somit in der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts über die An-
schlussberufung durch Prozessurteil statt durch Sachurteil ein Verfahrensman-
gel, auf dem sie im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO beruht, kommt es nicht
mehr darauf an, ob derselbe Mangel außerdem der Beschwerde unter dem
Gesichtspunkt der Divergenz (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) zum Erfolg verhilft.
3. Der Verfahrensverstoß ist auch nicht deshalb unbeachtlich, weil sich die vom
Berufungsgericht getroffene Entscheidung im Ergebnis als richtig erweist. Zwar
wirkt der dem § 144 Abs. 4 VwGO zugrunde liegende Rechtsgedanke bereits
auf das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde vor, falls die vom Beru-
fungsgericht zu Unrecht als unzulässig behandelte Anschlussberufung auf der
Grundlage der im angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellun-
gen als unbegründet zurückgewiesen werden müsste (s. auch Beschluss vom
5. Februar 1998 - BVerwG 2 B 56.97 - juris Rn. 3; insoweit in Buchholz 310
§ 88 VwGO Nr. 25 nicht abgedruckt). Eine derartige Konstellation liegt hier aber
nicht vor.
Der vom Kläger mit der Anschlussberufung weiter verfolgte Anspruch auf Erlass
der Langzeitstudiengebühr für das Sommersemester 2006 beurteilt sich nach
§ 112 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. § 111 Abs. 8 Satz 4 HSG LSA, wonach die Gebühr
auf Antrag ganz oder teilweise erlassen werden kann, wenn ihre Einziehung im
Einzelfall zu einer unbilligen Härte führen würde. Ob die bereits in erster Instanz
vom Verwaltungsgericht getroffenen und im Tatbestand des angefochtenen
Berufungsurteils in Bezug genommenen tatsächlichen Feststellungen insoweit
als Beurteilungsgrundlage ausreichen, hängt wesentlich von der Auslegung der
vorgenannten Härtefallvorschrift ab. Obwohl diese im Grundsatz
bundesverfassungsrechtlich geboten ist (s. BVerfG, Beschlüsse vom 31. März
2006 - 1 BvR 1750/01 und 1 BvR 1771/01 - BVerfGK 7, 465 bzw. 477), gehört
sie in ihrer konkreten Ausgestaltung dem irrevisiblen Landesrecht an. Der Senat
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übt das ihm insoweit in entsprechender Anwendung des § 563 Abs. 4 ZPO
i.V.m. § 173 VwGO eingeräumte Ermessen dahin aus, dass er die Auslegung
und Anwendung der landesrechtlichen Regelung zunächst dem
Oberverwaltungsgericht überlässt.
4. Gemäß § 133 Abs. 6 VwGO macht der der Senat von der Möglichkeit
Gebrauch, die angefochtene Entscheidung teilweise aufzuheben und den
Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung über die An-
schlussberufung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
Dieser Verfahrensweise steht nicht der Umstand entgegen, dass sich der Klä-
ger in Bezug auf die vom Oberverwaltungsgericht für unzulässig erachtete An-
schlussberufung - über die sinngemäß erhobene Verfahrensrüge hinaus -
ausdrücklich auf eine Abweichung (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) des angefochte-
nen Urteils von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts beruft.
Denn eine neben einer Verfahrensrüge erhobene Divergenzrüge steht einer
Zurückverweisung nach § 133 Abs. 6 VwGO nicht entgegen, wenn sie sich aus-
schließlich auf Verfahrensrecht bezieht (vgl. in diesem Sinne: Beschlüsse vom
7. September 1995 - BVerwG 6 B 32.95 - Buchholz 448.6 § 5 KDVG Nr. 7, vom
24. September 2003 - BVerwG 6 B 34.03 - Buchholz 448.6 § 14 KDVG Nr. 28
S. 4 und vom 24. November 2004 - BVerwG 6 B 38.04 - juris Rn. 8 f.), zumal
wenn sie dieselbe Rechtsfrage betrifft, die mit der Entscheidung über die Ver-
fahrensrüge in der Sache mit bindender Wirkung (§ 144 Abs. 6 VwGO) für die
Vorinstanz schon abschließend beantwortet ist.
5. Die Kostenentscheidung folgt, soweit über die Kosten des Beschwerdever-
fahrens zu entscheiden war, aus § 154 Abs. 2 VwGO. Im Verfahren der Nicht-
zulassungsbeschwerde entsteht eine Gerichtsgebühr nur, soweit die Be-
schwerde verworfen oder zurückgewiesen wird. Die sonstigen Kosten des Be-
schwerdeverfahrens, namentlich die außergerichtlichen Kosten, sind verhält-
nismäßig zu teilen, und zwar in der Weise, dass der Kläger die Kosten in dem
Maße seines Unterliegens trägt und die Entscheidung über diejenigen Kosten,
die dem Anteil der erfolgreichen Beschwerde am gesamten Beschwerdeverfah-
ren entsprechen, der Kostenentscheidung in der Hauptsache folgt (s. Beschluss
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vom 3. April 2006 - BVerwG 7 B 95.05 - juris Rn. 52). Die Festsetzung des
Streitwertes für das Beschwerdeverfahren ergibt sich aus § 47 Abs. 1 und 3
i.V.m. § 52 Abs. 3 GKG. Dabei bewertet der Senat das Interesse des Klägers
an der Aufhebung des Gebührenbescheides vom 2. Februar 2006, soweit im
Hinblick auf den nicht angegriffenen Teil des Urteils des Verwaltungsgerichts
sowie auf den Aufhebungsbescheid der Beklagten vom 11. Februar 2008 noch
strittig, mit 1 000 € und das Interesse des Klägers am Erlass der Studiengebühr
für das Sommersemester 2006 mit 500 €.
Neumann
Bier
Möller