Urteil des BVerwG vom 28.06.2004

Rechtliches Gehör, Bayern, Diplom, Unterlassen

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 24.04
VGH 7 B 02.640
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 28. Juni 2004
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. B a r d e n h e w e r und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. H a h n und V o r m e i e r
beschlossen:
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Das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom
17. Oktober 2003 wird aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Ent-
scheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vor-
behalten.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdever-
fahren auf 10 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Beschwerde hat Erfolg.
1. Die Beschwerde rügt zu Recht einen Verfahrensmangel (§ 132 Abs. 2 Nr. 3
VwGO) in Gestalt einer Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör
(Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO). Der Verwaltungsgerichtshof hat diesen
Anspruch dadurch verletzt, dass er dem Berufungsvorbringen des Klägers zur Un-
gleichheit der Bedingungen des Prüfungswettbewerbs in Bayern einerseits und im
übrigen Bundesgebiet andererseits nicht die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt
hat.
Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht nicht nur, die Ausführun-
gen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch, sie in Erwägung
zu ziehen. Art. 103 Abs. 1 GG ist allerdings erst dann verletzt, wenn sich im Einzelfall
klar ergibt, dass das Gericht diesen Pflichten nicht nachgekommen ist. Grundsätzlich
ist nämlich davon auszugehen, dass ein Gericht das von ihm entgegengenommene
Vorbringen auch in seine Erwägungen einbezogen hat. Dabei ist das Gericht nicht
verpflichtet, sich mit jedem Vorbringen in den Entscheidungsgründen ausdrücklich zu
befassen. Es müssen aber grundsätzlich alle für die Entscheidung wesentlichen Fra-
gen, insbesondere auch, wenn sie Gegenstand des Vortrags oder von Angriffs- oder
Verteidigungsmitteln der Beteiligten waren, behandelt werden. Soweit das Vorbrin-
gen eines Beteiligten nicht vom Rechtsstandpunkt des Gerichts aus offensichtlich
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unerheblich oder sonst unbeachtlich ist, muss das Gericht in den Entscheidungs-
gründen zumindest zum Ausdruck bringen, warum es von einer Auseinandersetzung
mit diesem Vorbringen abgesehen hat (vgl. zum Ganzen BVerfGE 86, 133
<145 f.>;
BVerwG, Beschluss vom 27. Oktober 1998 - BVerwG 8 B 132.98 - Buchholz 428 § 1
VermG Nr. 162 = NJW 1999, 1493 m.w.N.). Diesen Anforderungen wird das Urteil
des Verwaltungsgerichtshofs hinsichtlich des hier in Rede stehenden Vorbringens
des Klägers nicht gerecht.
Der Kläger hat im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht den angefochtenen Be-
scheid über das wiederholte Nichtbestehen der zweiten juristischen Staatsprüfung
u.a. mit der Begründung als rechtswidrig bezeichnet, in anderen Bundesländern als
in Bayern würden vergleichbare Prüfungsleistungen besser bzw. geringere Leistun-
gen gleich beurteilt; infolgedessen sei das Examen in Bayern schwieriger zu beste-
hen als im übrigen Bundesgebiet. Das Verwaltungsgericht hat diesen Einwand in
seinem Urteil unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des beschließenden Se-
nats dahin beschieden, die durch § 5 d Abs. 1 Satz 2 DRiG geforderte Bundesein-
heitlichkeit der Prüfungsanforderungen und Leistungsbewertungen lasse begrenzte
Abweichungen zwischen den Bundesländern zu; ferner hat es darauf hingewiesen,
dass die in der bayerischen Ausbildungs- und Prüfungsordnung für Juristen festge-
legte Bestehensgrenze verfassungsrechtlich unbedenklich sei, weil sie gewährleiste,
dass ein Prüfling nicht an einzelnen geringfügigen Schwächen scheitern könne, son-
dern nur an mehreren erheblichen Schwächen. Der Kläger hat im Verfahren vor dem
Verwaltungsgerichtshof an seinem erstinstanzlichen Vorbringen zu den ungleichen
Prüfungsbedingungen in Bayern und im übrigen Bundesgebiet festgehalten und er-
gänzend vorgetragen, dass die bayerischen Durchfallquoten erheblich über dem
Durchschnitt der Durchfallquoten der übrigen Bundesländer lägen. Zur Unterstützung
dieses Vorbringens hat der Kläger ein Gutachten des Diplom-Statistikers R. O. vor-
gelegt, in dem die Abweichung zwischen den Quoten je nach Vergleichszeitraum auf
72,50 bzw. 40,98 Prozent beziffert und die statistische Signifikanz dieser Abwei-
chungen erörtert und bejaht wird. Der Verwaltungsgerichtshof hat in seinem Urteil zu
diesem Vorbringen des Klägers nicht gesondert Stellung genommen, sondern inso-
weit lediglich gemäß § 130 b Satz 2 VwGO auf die Gründe des erstinstanzlichen Ur-
teils Bezug genommen.
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Mit dieser Bezugnahme hat der Verwaltungsgerichtshof den Anspruch des Klägers
auf rechtliches Gehör verletzt. Da der Kläger die Prämisse der Argumentation des
Verwaltungsgerichts ("begrenzte Abweichungen") mit substantiierten Einwendungen
in Frage gestellt hatte, durfte sich der Verwaltungsgerichtshof nicht mit einer bloßen
Übernahme der Entscheidungsgründe des Verwaltungsgerichts begnügen. Vielmehr
musste er auf der Grundlage des von der Vorinstanz formulierten und von ihm gebil-
ligten rechtlichen Ansatzes das Vorbringen des Klägers inhaltlich überprüfen und
dabei, soweit erforderlich, auch den Gründen für die geltend gemachten erheblichen
Abweichungen nachgehen. Da er dies unterlassen hat, ist der Schluss gerechtfertigt,
dass er das erwähnte (neue) Vorbringen des Klägers in der Berufungsinstanz ent-
weder nicht in vollem Umfang zur Kenntnis genommen oder jedenfalls nicht in der
gebotenen Weise in Erwägung gezogen hat.
2. Da das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs an dem dargelegten Mangel der Ver-
letzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör leidet (§ 138 Nr. 3 VwGO), kommt es
auf die weiteren vom Kläger erhobenen Verfahrensrügen nicht mehr an. Die von ihm
außerdem begehrte Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung des
Rechtsstreits (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) und/oder wegen Abweichung des Urteils
des Verwaltungsgerichtshofs von der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsge-
richts und des Bundesverfassungsgerichts (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO) scheidet
schon deswegen aus, weil der Kläger diese Zulassungsgründe nicht den Anforde-
rungen des § 133 Abs. 3 Satz 3 VwGO entsprechend dargelegt hat. Von weiteren
Ausführungen hierzu sieht der Senat gemäß § 133 Abs. 5 Satz 2 2. Halbsatz VwGO
ab.
3. Im Interesse der Verfahrensbeschleunigung macht der Senat von der ihm in § 133
Abs. 6 VwGO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch, die angegriffene Entscheidung
aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung
an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen.
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4. Die Kostenentscheidung ist der Schlussentscheidung vorzubehalten. Die Festset-
zung des Werts des Streitgegenstandes beruht auf § 13 Abs. 1, § 14 GKG.
Bardenhewer Hahn Vormeier