Urteil des BVerwG vom 13.09.2010

Rechtliches Gehör, Rüge, Empfang, Drohung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 19.10
OVG 4 LB 715/07
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 13. September 2010
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und
die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge und Dr. Graulich
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beschlossen:
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung
der Revision in dem Beschluss des Niedersächsischen
Oberverwaltungsgerichts vom 7. Januar 2010 wird zu-
rückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwer-
deverfahren auf 985,31 € festgesetzt.
G r ü n d e :
Die Klägerin wendet sich gegen die der Berufung des Beklagten stattgebende
Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts und ist weiterhin der Ansicht, sie
müsse nicht rückständige Rundfunkgebühren für die Zeit von Januar 1976 bis
Dezember 2001 nachentrichten. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin
bleibt ohne Erfolg, denn die unter Hinweis auf einen Gehörsverstoß (§ 108 Abs.
2 VwGO) (1.) sowie die behauptete Missachtung eines Beweisverwertungsver-
botes durch das Berufungsurteil (2.) gestützten Verfahrensrügen (§ 132 Abs. 2
Nr. 3 VwGO) sind unbegründet.
1. Die Klägerin bringt vor, die Beteiligten hätten zur Wahrung ihres Rechts auf
Gehör (§ 108 Abs. 2 VwGO) einen Anspruch auf Hinweise des Gerichts gemäß
§ 86 Abs. 3 VwGO, wenn entscheidungserhebliche Tatsachen und Rechtsfra-
gen nicht offensichtlich und auch nach dem bisherigen Verfahren nicht ohne
Weiteres ersichtlich seien und mit deren Entscheidungserheblichkeit die Betei-
ligten nicht zu rechnen brauchten. Danach liege eine Verletzung des rechtlichen
Gehörs vor. Das Berufungsgericht habe seine Entscheidung im Wesentlichen
darauf gestützt, die Klägerin habe am 26. September 2005 ein Formular
unterschrieben, in dem sie ein zum Empfang bereit gehaltenes Radiogerät in
einem Kraftfahrzeug seit Mai 1971 angemeldet habe. Das Anmeldeformular
enthalte unmittelbar unter der Unterschrift der Klägerin die Bemerkung des Ge-
bührenbeauftragten, wonach dieser im freundlichen Gespräch festgestellt habe,
dass seit Aufnahme der Selbständigkeit ein Kraftfahrzeug mit Empfangsgerät
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genutzt, jedoch nie angemeldet worden sei. Der Inhalt dieses Anmeldeformu-
lars, insbesondere die handschriftliche Bemerkung des Gebührenbeauftragten,
sei der Klägerin jedoch nicht bekannt. Eine Durchschrift sei der Klägerin nie-
mals ausgehändigt worden. Als die Klägerin den Vordruck unterzeichnet habe,
sei insbesondere auch die handschriftliche Bemerkung des Gebührenbeauf-
tragten dort noch nicht enthalten gewesen. Hätte das Berufungsgericht, gege-
benenfalls in Form eines rechtlichen Hinweises der Klägerin mitgeteilt, seine
Entscheidung auf diesen Inhalt des Anmeldeformulars stützen zu wollen, hätte
sie Gelegenheit gehabt, unter Beweisantritt vorzutragen, dass diese Bemerkung
des Rundfunkgebührenbeauftragten offensichtlich nachträglich nach der
Unterschrift der Klägerin unter das Anmeldeformular eingefügt worden sei.
Diese Rüge ist unbegründet. Die Hinweispflicht gemäß § 86 Abs. 3 VwGO kon-
kretisiert den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs aus § 108 Abs. 2
VwGO und zielt mit dieser Funktion insbesondere auf die Vermeidung von
Überraschungsentscheidungen (Urteil vom 11. November 1970 - BVerwG 6 C
49.68 -<266 f.>; Beschluss vom 4. Juli 2007 -
- juris). Ein hiergegen verstoßendes Verhalten des Gerichts läge aber nur
vor, wenn das Gericht einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsäch-
lichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit
dem Rechtsstreit eine Wendung gegeben hätte, mit welcher der unterlegene
Beteiligte nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen
brauchte. Ansonsten besteht im Grundsatz keine Pflicht des Gerichts, den Be-
teiligten seine Auffassung jeweils vor dem Ergehen einer Entscheidung zu of-
fenbaren (Beschluss vom 29. Januar 2010 - BVerwG 5 B 21.09 - juris).
Die angegriffene Entscheidung des Berufungsgerichts beruht ausweislich ihrer
schriftlichen Gründe tragend auf der Erwägung, dass die Klägerin durch ihre
Unterschrift unter das Anmeldeformular zum Ausdruck gebracht habe, dass sie
seit Mai 1971 ein Radio in einem auch gewerblich genutzten Kraftfahrzeug zum
Empfang bereitgehalten habe und dass keine konkreten Anhaltspunkte dafür
vorlägen, dass diese Angabe unzutreffend sei (Berufungsentscheidung
S. 9/10). Der Beschluss des Berufungsgerichts setzt sich auch mit den im Detail
umstrittenen Umständen der Ausfüllung und Unterschreibung eines Rund-
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funkgebühren-Formulars durch die Klägerin am 26. September 2005 auseinan-
der und bewertet den dagegen vorgebrachten Einwand der Klägerin dahin,
dass er nicht besage, dass der Gebührentatbestand in dem hier relevanten
Zeitraum nicht erfüllt gewesen sei, da die Entstehung der Rundfunkgebühren-
pflicht eine wirksame Anmeldung des Autoradios nicht voraussetze und der
Einwand der Klägerin sich nicht auf den Gebührentatbestand selbst beziehe
(Berufungsentscheidung S. 9 und 10). Denn es hätte nahe gelegen, nicht nur
auf die Verjährung eines Teils der geforderten Rundfunkgebühren, sondern
auch auf das Fehlen der tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gebühren-
pflicht hinzuweisen, wenn diese in dem hier maßgeblichen Zeitraum oder einem
Teil desselben nicht vorgelegen haben sollten (Berufungsentscheidung S. 10).
Die Klägerin habe nicht einmal konkret bestritten, geschweige substantiiert in
Abrede gestellt, dass sie in dem hier maßgeblichen Zeitraum ein Autoradio in
einem auch gewerblich genutzten Kraftfahrzeug zum Empfang bereitgehalten
habe (Berufungsentscheidung S. 11). Das Oberverwaltungsgericht hat somit zu
den von der Klägerin angegriffenen Umständen der Ausfüllung des Formulars
am 26. September 2005 zwar eine bestimmte Ansicht vertreten, seine Ent-
scheidung tragend aber von den streitigen Einzelheiten nicht abhängig ge-
macht. Selbst wenn der Vortrag der Klägerin hinzu genommen würde, wonach
sie von dem handschriftlichen Zusatz des Gebührenbeauftragten auf dem For-
mular keine Kenntnis hatte, würde sich an den tragenden Erwägungen in der
Berufungsentscheidung nichts ändern.
Abgesehen davon musste die im gerichtlichen Verfahren anwaltlich vertretene
Klägerin damit rechnen, dass der Inhalt des Anmeldeformulars vom 26. Sep-
tember 2005 entscheidungserheblich sein konnte. Insoweit konnte sie sich
rechtliches Gehör durch Einsicht in die Verwaltungsvorgänge des Beklagten
verschaffen. Dass diese dem Gericht vorlagen, war der Klägerin aufgrund des
an sie weitergeleiteten Übersendungsschreibens des Beklagten vom 30. Juni
2006 sowie des dahingehenden Vermerks im Protokoll über die erstinstanzliche
mündliche Verhandlung bekannt. Eine gewissenhafte Prozessführung hätte sich
der aufgezeigten Möglichkeit unabhängig davon bedienen müssen, welche
Bedeutung dem unterschriebenen Anmeldeformular neben anderen Umständen
des gebührenrechtsrelevanten Lebenssachverhalts zukam.
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Die Bewertung des Anwaltsschreibens vom 7. November 2005 sowie der Kla-
geschrift auf Seite 10 des angefochtenen Beschlusses ist kein Beleg dafür,
dass das Oberverwaltungsgericht den Vortrag der Klägerin nicht zur Kenntnis
genommen hat. Dieses durfte im Rahmen seiner umfangreichen Beweiswürdi-
gung auch dem Umstand Bedeutung zumessen, dass beide genannten Schrei-
ben eine klare Aussage dazu, dass im streitbefangenen Zeitraum bereits der
fragliche Gebührentatbestand nicht gegeben sei, vermissen ließen.
2. Einen weiteren Verfahrensmangel gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO sieht die
Klägerin darin, dass sich das Oberverwaltungsgericht für seine Annahme des
Bestehens einer Rundfunkgebührenpflicht auf die Unterschrift der Klägerin un-
ter das Anmeldeformular gestützt habe, weil nach Auffassung der Beschwerde
dieses Anmeldeformular einem Beweisverwertungsverbot unterliege, da es auf
rechtlich unzulässige Weise zu Stande gekommen sei. Der Rundfunkgebüh-
renbeauftragte habe die Unterschrift unter das Anmeldeformular dadurch er-
langt, dass er der sich der Unterschrift verweigernden Klägerin mitgeteilt habe,
eine Anmeldung von Rundfunkempfangsgeräten für bis zu 29 zurückliegende
Zeiträume erfolge durch die Unterschrift nicht. Zudem mache sie sich strafbar,
wenn sie die Unterschrift verweigere. Die Unterschrift der Klägerin unter das
Anmeldeformular sei mithin durch Täuschung und Drohung erlangt worden.
Zudem sei die handschriftliche Mitteilung des Rundfunkgebührenbeauftragten,
die Klägerin habe im freundlichen Gespräch eingeräumt, seit Aufnahme ihrer
selbständigen Erwerbstätigkeit einen Pkw mit Rundfunkempfangsgerät ge-
schäftlich genutzt zu haben, erst nach der Unterschrift der Klägerin unter das
Anmeldeformular nachträglich eingefügt worden.
Die Rüge bleibt ohne Erfolg. Sie macht zum einen keinen Fehler des Gerichts-,
sondern des Verwaltungsverfahrens geltend und betrifft außerdem einen Sach-
verhaltsteil, auf den es für die Berufungsentscheidung nicht tragend ankommt.
Die von der Rüge in Bezug genommenen Umstände, unter denen die Klägerin
veranlasst worden sei, ihre Unterschrift unter das Rundfunkgebühren-Formular
zu setzen, betreffen das Verwaltungsverfahren und dessen etwaige Fehlerhaf-
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tigkeit. Verfahrensfehler im Sinne dessind aber nur
Mängel des gerichtlichen Verfahrens, nicht hingegen des Verwaltungsverfah-
rens. Mängel des Verwaltungsverfahrens sind Gegenstand der materiell-
rechtlichen Beurteilung des Gerichtes, etwa im Hinblick darauf, ob ein angegrif-
fener Verwaltungsakt wegen eines Verfahrensfehlers der Behörde rechtswidrig
und damit aufzuheben ist. Nimmt das Gericht beispielsweise zu Unrecht an, ein
bestimmter Sachverhalt ergebe keinen Verfahrensfehler der Behörde, kann dies
nicht Gegenstand einer Verfahrensrüge nacsein,
sondern nur unter den Voraussetzungen des
mit der Grundsatz- oder mit der Divergenzrüge angegriffen werden (Be-
schluss vom 8. Januar 2009 - BVerwG 7 B 42.08 - Buchholz 11 Art. 140 GG
Nr. 77). Deshalb stellt sich im vorliegenden Fall auch die Frage eines etwaigen
Beweisverwertungsverbotes allenfalls für die Ebene des Verwaltungsverfah-
rens.
Im Übrigen kommt es aber für die Berufungsentscheidung - wie bereits voran-
gehend dargelegt - auf die rechtliche Beurteilung der Umstände, unter denen
die Klägerin am 26. September 2005 das Gebührenformular unterschrieben hat,
nicht entscheidend an. Das Oberverwaltungsgericht hat nämlich die Ge-
bührenpflichtigkeit der Klägerin maßgeblich daraus abgeleitet, dass sie tatsäch-
lich im streitbefangenen Zeitraum ein empfangsbereites Autoradio in ihrem Ge-
schäftswagen vorgehalten und diesen Umstand auch nicht ausgeräumt hat.
Daran ändert sich ungeachtet der rechtlichen Bewertung ihrer Unterschriftsleis-
tung nichts.
Abgesehen davon kann das Oberverwaltungsgericht gegen das von der Kläge-
rin postulierte „Beweisverwertungsverbot“ schon deswegen nicht verstoßen ha-
ben, weil es im Rahmen seiner Beweiswürdigung nicht zu der Überzeugung
gelangt ist, die Klägerin sei durch Drohung und Täuschung durch den Gebüh-
renbeauftragten zur Unterzeichnung des Anmeldeformulars veranlasst worden.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Streitwertfestset-
zung beruht auf § 47 Abs. 1 und 3 i.V.m. § 52 Abs. 3 GKG.
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