Urteil des BVerwG vom 18.02.2003

Prüfungsbehörde, Beweisvereitelung, Beweismittel, Überzeugung

BUNDESVERWALTUNGSGERICHT
BESCHLUSS
BVerwG 6 B 10.03
VGH 11 UE 1319/99
In der Verwaltungsstreitsache
hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
am 18. Februar 2003
durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Bardenhewer und die Richter am Bundesverwaltungsgericht
Dr. Gerhardt und V o r m e i e r
beschlossen:
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Der Antrag des Klägers, ihm Prozesskostenhilfe
unter Beiordnung seines Prozessbevollmächtigten
zu bewilligen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzu-
lassung der Revision in dem Beschluss des
Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom
14. Oktober 2002 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Beschwerdever-
fahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das
Beschwerdeverfahren auf 10 000 € festgesetzt.
G r ü n d e :
1. Der Antrag des Klägers, ihm Prozesskostenhilfe unter Beiord-
nung seines Prozessbevollmächtigten zu bewilligen, ist abzuleh-
nen, weil die Rechtsverfolgung aus den folgenden Gründen keine
hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (§ 166 VwGO i.V.m. § 114
ZPO).
2. Die Beschwerde hat keinen Erfolg. Der Kläger hat einen Revi-
sionszulassungsgrund (§ 132 Abs. 2 VwGO) nicht dargetan.
a) Die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung (§ 132
Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Grundsätzliche Bedeutung kommt einer
Rechtssache nur zu, wenn sie eine für die erstrebte Revisions-
entscheidung erhebliche Rechtsfrage des revisiblen Rechts auf-
wirft, die im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des
Rechts revisionsgerichtlicher Klärung bedarf. Dies ist hier
nicht der Fall.
Die Beschwerde trägt sinngemäß vor, die Beweislastumkehr zu-
gunsten des Klägers müsse entsprechend dem vorliegenden Gutach-
ten dazu führen, dass die praktische Prüfung als bestanden ge-
wertet oder zumindest über ihr Ergebnis unter Beachtung der
Rechtsauffassung des Gerichts neu entschieden werde. Die Be-
schwerde wirft keine Rechtsfrage ausdrücklich auf. Zudem stützt
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sie sich auf das Beweisergebnis im vorliegenden Fall. Beides
spricht dafür, dass sie lediglich eine unrichtige Rechtsanwen-
dung durch den Verwaltungsgerichtshof rügt. Dies rechtfertigt
jedoch nicht die Zulassung der Revision.
Nach dem Beschwerdevorbringen kommt aber auch in Betracht, dass
sie die Frage als grundsätzlich bedeutsam aufwerfen will, ob
der von der Prüfungsbehörde zu vertretende Verlust einer Prü-
fungsleistung dazu führt, dass die Prüfungsleistung als für das
Bestehen der Prüfung ausreichend zu bewerten ist. Diese Frage
bedarf keiner Klärung in einem Revisionsverfahren. Sie ist an-
hand der vorliegenden Rechtsprechung ohne weiteres zu vernei-
nen.
Der Grundsatz, dass es zu Lasten des Prüflings geht, wenn sich
Prüfungsfehler nicht nachweisen lassen, gilt nicht ausnahmslos.
Eine Ausnahme ist - dem in § 444 ZPO zum Ausdruck kommenden
Rechtsgedanken folgend - im Fall der Beweisvereitelung durch
die Prüfungsbehörde geboten (vgl. Urteil vom 18. Dezember 1987
- BVerwG 7 C 49.87 - BVerwGE 78, 367, 370). § 444 ZPO besagt,
dass dann, wenn eine Urkunde von einer Partei in der Absicht,
ihre Benutzung dem Gegner zu entziehen, beseitigt oder zur Be-
nutzung untauglich gemacht wird, die Behauptungen des Gegners
über die Beschaffenheit und den Inhalt der Urkunde als bewiesen
angesehen werden können. Der in dieser Vorschrift enthaltene
und auf die Vereitelung des Beweises mit Hilfe anderer Beweis-
mittel übertragbare Rechtsgedanke geht dahin, zu verhindern,
dass eine Lücke in der Beweisführung, die die nicht beweis-
pflichtige Partei verschuldet hat, ohne weiteres und in jedem
Fall nach allgemeinen Rechtsgrundsätzen der beweispflichtigen
Partei zur Last fällt. Der Tatrichter hat danach zu prüfen, ob
sich diese Lücke in der Beweisführung unter Einbeziehung des
schuldhaften Verhaltens einer Partei in die Beweiswürdigung
durch den in § 444 ZPO vorgesehenen Schluss ausfüllen lässt,
ohne dazu verpflichtet zu sein, einen solchen Schluss in jedem
Fall zu ziehen. Ein solcher Schluss setzt stets voraus, dass
der Tatrichter im Rahmen der freien Beweiswürdigung die diesem
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Schluss entsprechende Überzeugung gewonnen hat (vgl. Urteil vom
26. April 1960 - BVerwG 2 C 68.58 - BVerwGE 10, 270, 271 f.; s.
auch Dawin, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 108
Rn. 83 ff. m.w.N.).
Hiernach kann der von der Prüfungsbehörde verschuldete Verlust
einer Prüfungsarbeit nicht, wie die Beschwerde meint, ohne wei-
teres zu einer Bewertung dieser Prüfungsarbeit führen, die das
Bestehen der (Gesamt-)Prüfung ermöglicht. Vielmehr hat der Tat-
richter die behaupteten Bewertungsfehler anhand vorhandener Be-
gutachtungen und sonstiger Erkenntnisquellen aufzuklären (§ 86
Abs. 1 VwGO) und aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens eine
Überzeugung über deren Vorliegen zu gewinnen (§ 108 Abs. 1
Satz 1 VwGO). Lässt sich danach das Vorliegen eines erheblichen
Prüfungsmangels nicht mit hinreichender Sicherheit verneinen,
ist wegen der dem Prüfling aufgrund der Beweisvereitelung güns-
tigen Beweislastverteilung von dem behaupteten Prüfungsmangel
auszugehen. Das Vorliegen eines Bewertungsfehlers kann jedoch
nicht mit dem Vorliegen ausreichender Prüfungsleistungen
gleichgesetzt werden. Vielmehr sind Bewertungsfehler grundsätz-
lich in der Weise zu korrigieren, dass die Prüfungsleistung von
dem zuständigen Prüfer neu bewertet wird; sofern allerdings
eine verlässliche Grundlage für die Beantwortung der Frage, ob
die an eine erfolgreiche Prüfung zu stellenden Mindestanforde-
rungen erfüllt sind, nicht oder nicht mehr vorhanden ist, ent-
fällt der Anspruch des Prüflings auf Neubewertung mit der
Folge, dass die Prüfung ohne Anrechnung auf die Zahl der allge-
mein zulässigen Wiederholungsprüfungen erneut abgelegt werden
kann und muss (vgl. Beschluss vom 11. April 1996 – BVerwG 6 B
13.96 – Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 363 = NVwZ 1997, 502;
Beschluss vom 20. Mai 1998 – BVerwG 6 B 50.97 – Buchholz 421.0
Prüfungswesen Nr. 389 = NJW 1998, 3657; Urteil vom 27. April
1999 – BVerwG 2 C 30.98 – Buchholz 237.5 § 22 HeLBG Nr. 1 =
NVwZ 2000, 921). So verhält es sich auch bei einem von der Prü-
fungsbehörde zu verantwortenden Verlust der Prüfungsarbeit,
weil unter dieser Voraussetzung die erbrachte Prüfungsleistung
– zumindest in der Regel – ebenfalls nicht ordnungsgemäß neu
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bewertet werden kann. Die Rechtslage ist insoweit keine andere
als in den Fällen, in denen die Bewertung einer Prüfungsleis-
tung von den Prüfern nicht oder nicht ausreichend begründet
worden ist und sich eine substantielle, die effektive gericht-
liche Kontrolle der Prüfungsentscheidung ermöglichende Begrün-
dung wegen Zeitablaufs nicht nachholen lässt. Auch in derarti-
gen Fällen ist nicht etwa – sozusagen auf der Grundlage fiktiv
fehlerfreier Prüfungsleistungen – die Prüfung für bestanden zu
erklären, sondern die negative Prüfungsentscheidung aufzuheben
und dem Prüfling Gelegenheit zu geben, die Prüfung erneut abzu-
legen (vgl. BVerwGE 99, 185).
Der Einwand des Klägers, die erneute Anfertigung eines Prü-
fungsstücks sei ihm angesichts der vergangenen Zeit und des
technischen Fortschritts nicht zuzumuten, greift nicht durch.
Zum einen kann ein Prüfling Nachteile der vorgetragenen Art
vermeiden, indem er alsbald nach Bekanntwerden des Verlustes
der Prüfungsarbeit diese vorsorglich wiederholt und sich diese
Möglichkeit, wenn nötig, im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes
erstreitet (vgl. Beschluss vom 11. April 1996 - BVerwG 6 B
13.96 – a.a.O.). Zum andern erlauben der Grundsatz der prü-
fungsrechtlichen Chancengleichheit und der Schutz der Gemein-
schaftsgüter, dem der Nachweis einer bestimmten beruflichen
Qualifikation dient und der ihn im Hinblick auf Art. 12 Abs. 1
GG rechtfertigt (vgl. Zimmerling/Brehm, Prüfungsrecht, 2. Aufl.
2001, Rn. 617 m.w.N.), es nicht, einem Prüfling den Besitz der
erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten allein deshalb zu
bestätigen, weil wegen eines Fehlers der Prüfungsbehörde nicht
aufgeklärt werden kann, ob die (negative) Bewertung der Prü-
fungsarbeit auf rechtserheblichen Mängeln beruht.
b) Die Beschwerde hat auch keinen Verfahrensmangel dargetan,
der gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zur Zulassung der Revision
führen würde.
Die Beschwerde trägt sinngemäß vor, nach dem erwähnten Gutach-
ten und der Vernehmung des Klägers vor dem Verwaltungsgericht
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sei der der Beigeladenen gemäß § 444 ZPO obliegende Gegenbeweis
für die Richtigkeit der Prüfungsentscheidung nicht erbracht
worden; wegen dieser eindeutigen Beweislage hätte der Verwal-
tungsgerichtshof zumindest eine Parteivernehmung durchführen
müssen; deren Unterbleiben verstoße gegen § 86 Abs. 1 VwGO.
Wird ein Aufklärungsmangel geltend gemacht, muss gemäß §
133
Abs. 3 Satz 3 VwGO substantiiert dargelegt werden, welche Be-
weise angetreten worden sind oder welche Ermittlungen sich dem
Berufungsgericht hätten aufdrängen müssen, welche Beweismittel
bzw. Aufklärungsmöglichkeiten in Betracht gekommen wären, wel-
ches Ergebnis die Beweisaufnahme bzw. weitere Aufklärung vo-
raussichtlich gehabt hätte und inwiefern dieses Ergebnis zu ei-
ner dem Beschwerdeführer günstigeren Entscheidung hätte führen
können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass ein Tatsachengericht
seine Aufklärungspflicht grundsätzlich dann nicht verletzt,
wenn es von einer Beweiserhebung absieht, die eine anwaltlich
vertretene Partei nicht beantragt hat.
Ob die Aufklärungsrüge des Klägers diesen Darlegungsanforderun-
gen entspricht, ist zweifelhaft, bedarf jedoch keiner Entschei-
dung. Denn die Rüge ist jedenfalls unbegründet. Dem Verwal-
tungsgerichtshof musste sich eine Vernehmung des Klägers als
Partei nicht aufdrängen. Der Verwaltungsgerichtshof hat in sei-
nem Anhörungsschreiben gemäß § 130 a VwGO vom 25. Juli 2002 die
Erwägungen, auf die der angefochtene Beschluss gestützt ist,
bereits im Wesentlichen dargestellt und insbesondere das Gut-
achten des Sachverständigen B. vorläufig gewürdigt. Der Kläger
hat daraufhin um mündliche Verhandlung gebeten und auf die Not-
wendigkeit eines Sachverständigenbeweises hingewiesen, die Mög-
lichkeit einer Parteivernehmung aber nicht angesprochen
(Schriftsatz vom 20. August 2002). Es liegen aber auch sonst
keine Umstände vor, die dem Verwaltungsgerichtshof eine Verneh-
mung des Klägers als Partei hätten aufdrängen müssen. Der Klä-
ger hat sich in diesem Verfahren umfänglich durch schriftlichen
Vortrag sowie persönlich - etwa in der mündlichen Verhandlung
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vor dem Verwaltungsgericht am 27. Mai 1998 - geäußert. Ohne
entsprechende Hinweise seitens des Klägers durfte der Verwal-
tungsgerichtshof davon ausgehen, dass er Weiteres nicht vorzu-
tragen hatte.
Die Beschwerde hat aber auch nicht dargelegt, und es sind auch
sonst keine Umstände dafür ersichtlich, dass die gerichtliche
Aufklärungspflicht es geboten hätte, den Kläger nicht nur (in-
formell) anzuhören, sondern darüber hinaus seine (förmliche)
Vernehmung als Partei anzuordnen. Anders als in dem von der Be-
schwerde erwähnten Urteil vom 8. Dezember 1988 - BVerwG 3 C
87.87 - (Buchholz 310 § 96 VwGO Nr. 36 = NVwZ 1989, 1057) war
hier eine Parteivernehmung insbesondere nicht erforderlich, um
Widersprüche im tatsächlichen Vortrag der Partei auszuräumen.
3. Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 154 Abs. 2,
§ 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Werts des Streitgegens-
tands beruht auf § 13 Abs. 1 Satz 1, § 14 Abs. 1 und 3 GKG.
Bardenhewer
Gerhardt
Vormeier